Die unschuldige Frau
Handkes Beschäftigung mit dem Film reicht weit zurück. Oft hat er Erkenntnisse über Filmsprache in einer Klarheit vermittelt, zu der sich ein mehr handwerklich orientierter Filmmacher kaum aufzuschwingen vermag.
Von seinem ersten, selbst realisierten Kinofilm erwartete ich deshalb, verbunden mit einer persönlichen Berührung, eine neue Handhabung filmischer Sprache.
Handke legt Wert auf die Feststellung, daß sein Film keine Literaturverfilmung ist. Buch und Film verdanken ihre Entstehung demselben Erkenntnismoment, das bereits fünf Jahre zurückliegt: »Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit in der Verschiedenheit«, das er für sich, im stillen, gehabt hat.
Zuerst entsteht das Drehbuch, danach die Erzählung, jetzt, mit fast zwei Jahren Abstand, der Film.
»Die linkshändige Frau« ist die Geschichte einer verheirateten Frau, die plötzlich von ihrem Mann verlassen sein will. Der Mann zieht zu einer gemeinsamen Freundin. Die Frau bleibt mit dem Kind in dem vorher gemeinsam bewohnten Haus zurück. Während die Frau nun das Alleinsein übt, sieht sie sich von einer Mauer aus Unverständnis und Aggression umgeben. Andauernd versuchen andere in die selbstgewählte Einsamkeit der Frau einzudringen, aber keiner vermag das Rätsel zu lösen.
Die Sprache, in der Handke die Erzählung abgefaßt hat, scheint tatsächlich vom Nutzen des Alleinseins zu wissen: es ist fragloses Fortschreiten. Handke beschränkt sich auf die Beschreibung von Äußerlichkeiten, liefert nur präzise Umrisse und erreicht damit, daß man sofort eine persönliche Vorstellung von der Geschichte entwickelt.
Es ist die Methode der Malbücher für Kleinkinder. Indem die Kinder die Flächen der Umrißzeichnungen mit Buntstift oder Filzschreiber ausmalen, werden es ihre Zeichnungen.
Bei der Realisation des Films bediente sich Handke nun einer ganz erstaunlichen Methode, die man schon als gewalttätig bezeichnen kann: er läßt alles, oder doch fast alles, was in der Erzählung steht, auch im Film vorkommen, Satz für Satz. oft Wort für Wort.
Die zweite Besonderheit: Handke erzählt seine Geschichte nicht, indem er einem Handlungsfaden folgt, sondern indem er, allerdings streng ausgewählte, Einzelereignisse aneinanderreiht.
Von diesen Einzelteilen verlangt er, sie sollen »bloße, reine Geschehnisse der größtmöglichen, umfassenden Alltäglichkeit« sein.
Die geschilderten Ereignisse sind fast nur Handlungsminiaturen, oft von großer Banalität: jemanden vom Zug abholen, Essensreste wegtun, am Fenster stehen, schreiben. Die »Geschehnisse« sollen aber bei den handelnden Personen vom Erleben einer starken, inneren Wirklichkeit begleitet sein, das sich wiederum auf den Zuschauer übertragen soll.
Diese Übertragung funktioniert jedoch im Film nicht. Im Buch hatte ich die Möglichkeit, irgendwelche Ungereimtheiten durch sprunghafte Phantasie wieder zusammenzufügen, ähnlich
* Mit Edith Clever und Bruno Ganz.
wie man es im Traum vermag. Aber im Film konnte ich fast nichts annehmen. Die Abläufe erschienen mir ruckhaft, als wenn die Zeit defekt wäre.
Auf sonst im Film gebräuchliche Techniken, dem Vorstellungsvermögen des Zuschauers zu helfen, wollte Handke sich nicht stützen. Verächtlich bezeichnet er sie als »Bilder und Rhythmuswirbel«.
Eine Szene im Film ist meistens auch eine Einstellung. Montagen der Schnitt-Gegenschnitt-Technik kommen, soweit ich mich erinnere, überhaupt nicht vor. Innerhalb einer Einstellung verändert sich der Kamerastandpunkt nur selten. Beabsichtigt ist wohl, dem Zuschauer das Gefühl der Unbeweglichkeit zu geben, wie es auch die sich verselbständigende Frau empfindet. Dieses Mittel bewirkt aber in diesem Film merkwürdigerweise mehr eine Unbeweglichkeit der Phantasie. Assoziative Bilder, also Ausblicke in andere Welten, werden überhaupt nicht geboten. Die assoziative Verwendung der Musik löst deshalb auch Ratlosigkeit aus.
Handke bürdet die ganze Last, die Geschehnisse für wahr erscheinen zu lassen, den Schauspielern auf. Er sagt auch, wie das funktionieren soll: »Ein großer Schauspieler: er wäre fähig, ein Gefühl, das er für sich, im stillen, gehabt hat, für andere noch einmal zu haben.«
Die Schuld daran, daß im Film »Die linkshändige Frau« die Übertragung nicht klappt, liegt aber nicht bei den Schauspielern, die alle über großes Können und erstaunliches Einfühlungsvermögen verfügen. Es ist ein Fehler in der Logik. Es liegt ein falsches Verständnis der Filmsprache vor.
Die Szenen, die Handke sich hat einfallen lassen, sind so gar nicht spielbar. Sie sind in ihrer Alltäglichkeit vor der Kamera nicht willkürlich herstellbar -- nicht von den besten Schauspielern der Welt, nicht durch die größte Sorgfalt der Regie.
Handke hat diese Momente für sich, im stillen, gehabt. Aber so, wie er sich den Erkenntnismoment von vor fünf Jahren nicht wirklich wiederholen kann, genauso wenig können die Schauspieler etwas anderes als eine Vorstellung von den Empfindungen geben, die er einmal gehabt hat.
Für die Herstellung eines Films, in dem sich die Geschichte vor allem aus Ereignissen »größtmöglicher, umfassender Alltäglichkeit« entwickeln soll, gibt es nur eine Strategie: Zwischen dem, was sich vor der Kamera abspielen soll, und dem tatsächlichen Leben der Schauspieler muß man versuchen, eine Identität herzustellen.
Es ist ja nicht so, daß authentische Szenen in der »Linkshändigen Frau« gänzlich fehlen. Es gibt zum Beispiel die Großaufnahme des Säuglings auf der Rollstraße. Es gibt einige Szenen, die eine Wahrheit dadurch haben, daß Edith Clever und Bruno Ganz als Filmstars sichtbar werden, Szenen also, in denen sich die Identität mit einem Image einstellt. Natürlich sind das vor allem die wenigen dramatischen Momente des Films.
Handke hat immer wieder darauf hingewiesen, daß auch der Film eine Sprache ist, mit einer eigenen Syntax und Tradition. Nun ist mir plötzlich bewußt geworden, daß die Worte des Geschriebenen eigentlich etwas sehr Stabiles sind, etwas, das man nicht einfach verändern kann. Sie sind aus der Vergangenheit gekommen und für den Moment etwas Fertiges. Die Frau ist die Frau und das Kind ist das Kind. Nur das Kind schüttelt die Worte bis zur Unkenntlichkeit und sagt hada -- wie liebenswert.
Ich dachte nun, daß eigentlich auch die Filmsprache so etwas Starkes, nicht Manipulierbares wie die Worte haben müßte, aus denen sich dann die Geschichten und Meinungen ergeben.
Ich bin darauf gekommen, daß die Bedeutungselemente der Filmsprache die Momente während der Aufnahme sind. Man hat gedacht, die Einzelbilder oder allgemein die Abbildungen der Gegenstände, das reflektierte Licht, die Töne, die sie hervorbringen, seien die Bedeutungselemente des Films, die den Worten des Geschriebenen entsprechen. Es ist aber der ursprüngliche, das heißt, der mit seiner Geschichte untrennbar verbundene Moment der Aufnahme.
Wir sind durch unsere enorme Erfahrung im Umgang mit Abbildungen heute in der Lage, Fiktives und Willkürliches sofort zu erspähen -- deshalb die Bemühungen um Authentizität auch im Spielfilm.
Handke ist ja ein Stück in diese Richtung gegangen, als er Edith Clever besetzte, die sich kurz vor den Dreharbeiten von ihrem Mann getrennt hatte. Im Pressetext für den Film betont Handke, wie eng der Film mit seiner privaten Sphäre verbunden ist: Der Schauplatz ist seine Umgebung, seine Pariser Wohnung.
Soweit ist alles gut arrangiert. Dann aber erscheint das Team, hochspezialisierte, teure Profis, und alles ist entzwei. Ich habe selbst diese Erfahrung dutzendfach gemacht.
Er hätte das Team vollkommen anders führen müssen, hätte den Stab verringern müssen, um Kosten zu senken, sich Zeit nehmen müssen und sich in erster Linie aufs Warten verlegen. Er hätte mit der Kamera neue Momente suchen müssen, anstatt den alten nachzustellen.
»Ja, habt Ihr nicht bemerkt, daß jeder seinen eigenen Moment mitbringt?«