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Thomas Brasch über Maxie Wander: "Guten Morgen, du Schöne" Die Wiese hinter der Mauer

aus DER SPIEGEL 31/1978

Thomas Brasch, 33, kam Ende 1976 aus der DDR in die Bundesrepublik. Der Erzähler ("Vor den Vätern sterben die Söhne) und Dramatiker lebt heute in West-Berlin. Maxie Wander, gebürtige Österreicherin, lebte seit 1958 in der DDR, wo sie voriges Jahr im Alter von 44 Jahren starb.

Maxie Wanders Buch (Gespräche mit Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedener sozialer Herkunft in der DDR) erübrigt einen großen Teil von Romanen, Reportagen, Gedichten und Interviews einerseits zum Thema Frauen und andererseits zum Thema DDR. Es tut dies auf eine unspektakuläre Weise -- nicht dissidentisch, nicht feministisch -, so daß zu fürchten ist, es werde unterschätzt oder, was schlimmer wäre, als eine besondere »Alltagsspezialität« wiederum exotisch gemacht: Berichte aus dem »wirklichen Leben« oder »In der DDR ist doch alles ganz anders

In Wahrheit manifestiert dieses Buch einen wichtigen historischen Zeitpunkt: das Offenlegen eines Sachverhalts nämlich, der mit dem Begriff der Fremdheit zwischen dem Gemeinwesen Staat und seinen Gliedern (Individuen genannt) nur oberflächlich beschrieben ist. Auf den ersten Blick scheint dies nicht gemeint: Rentnerinnen, Sekretärinnen, Schülerinnen und Lehrerinnen berichten (scheinbar) offenherzig über ihre Probleme -- die Schwäche, die Zärtlichkeit oder die Rücksichtslosigkeit der Männer, die Schwierigkeiten mit den Müttern, Vätern und Kindern, Vorlieben für diese oder jene Literatur und Musik.

Von den Schwierigkeiten des Alleinlebens wird erzählt, den Freuden und Leiden häufigen Partnerwechsels, von der Wichtigkeit oder Unwichtigkeit des Orgasmus und immer wieder von der Antibabypille und ihren Folgen.

Ich glaube tatsächlich nicht, daß Maxie Wander anderes im Sinn hatte, als zu tun, was sie in ihrer Vorbemerkung versprochen hat: »Ich halte jedes Leben für hinreichend interessant, um anderen mitgeteilt zu werden ... man lernt dabei, das Einmalige und Unwiederholbare jedes Menschenlebens zu achten und die eigenen Tiefs in Beziehung zu anderen zu bringen ... Vielleicht ist dieses Buch nur zustande gekommen, weil ich zuhören wollte.«

Was in diesem Buch aber nun zu lesen ist, ist mehr als das ewige Lied von Frauen im Alltag und ihren Schwierigkeiten -- es ist der dokumentarische Ausdruck für die Resignation schöpferischer Menschen vor der Geschichte, ihr Verharren im »überschaubaren Privaten« (nicht ihr Rückzug dorthin, der bleibt enttäuschten Idealisten vorbehalten).

In diesem Buch geht es nicht mehr, wie in vielen früheren, um die zerstörten Illusionen oder um das nichteingelöste Versprechen vom Himmelreich auf Erden durch die Regierung oder eine andere hohe Macht, sondern es geht um Leute, die diese Träume nie für realistisch hielten, sie im äußersten Fall auswendig lernten, um ihren Facharbeiterbrief oder ihr Abitur zu bekommen.

Das unterscheidet die Monologe der Frauen aus der DDR von ähnlichen aus der BRD, mehr nicht-der Unterschied dieser Industriegesellschaft zu jener besteht schließlich nur darin, daß eben dieses Himmelreich hier nie versprochen wurde.

»Die Nächte sind mir am liebsten«, sagt Ruth, die in einem Café arbeitet, »es ist keine Ordnung da, in die man sich pressen muß.« Und an anderer Stelle erzählt sie von ihrem Stiefbruder: »Den haben sie mir als Vorbild hingestellt, ein Mensch ohne einen eigenen Gedanken, nur mit dem Drang nach viel Geld, was darzustellen, Sicherheit zu haben. Solche Typen unterscheiden sich doch überhaupt nicht von meiner West-Oma.«

Und schließlich berichtet sie (allerdings nur in der DDR-Ausgabe; in der ungeschickt gekürzten Luchterhand-Fassung fehlt diese wichtige Passage aus unerfindlichen Gründen) von einer Freundin, die habe »alles ausgesprochen, was andere für sich behalten": Wenn man mit ihr zu tun hatte, war man selber weniger langweilig und niedergeschlagen. Irgendwie war alles aus dem Zusammenhang gerissen, und man sah es mit Augen wie zum erstenmal. Weißt du, was mit ihr geschehen ist? Man hat sie mit kaputten Frauen zusammengesperrt und mit Tabletten vollgeschwemmt. Ich war einmal dort, es war das Niederschmetterndste, was ich erlebt habe. Mitten unter diesen erloschenen Gestalten unsere Sonja! No ja ... Jetzt arbeitet sie wieder, was sie lange nicht konnte oder nicht wollte. Wenn ich Ins Café geh«, schau ich manchmal bei ihr hinein. Da sitzt sie überm Schreibtisch, immer dicker, immer farbloser, kann nicht mehr lächeln sagt kein interessantes Wort mehr, versteht die Menschen nicht mehr, gibt sich mit allem zufrieden. Ich bringe ihr manchmal Pralinen oder Torte vom Café. Die putzt sie weg wie nichts.

Deutlich: Es geht hier nicht um eine Verurteilung DDR-spezifischer Zustände, um eine Untersuchung psychiatrischer Verhältnisse in einem deutschen Land -- es geht um die Fremdheit zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft, die (was hätte sie anderes tun soIIen?) Leistung zum wichtigsten Kriterium erhoben hat und das nicht erst, seit dieses Land geteilt ist.

Für die genaue Entzifferung dieses Verhältnisses Staat-Individuum zu diesem Zeitpunkt technologischer Entwicklung braucht es mehr als meine Behauptungen und mehr als ein Buch in der Art des vorliegenden.

Wovor »Guten Morgen, du Schöne« aber zu schützen ist, ist der vorschnelle Zugriff auf einige verletzte DDR-Tabus, dieses »Aha, jetzt kann man das schon sagen dort« oder der Verweis auf bessere Qualifizierungsmöglichkeiten und Kindergartenplätze in der DDR (was geschieht, wenn der Arbeitskräfte-Mangel vom -Überschuß abgelöst wird?).

Zu schützen ist das Buch auch vor dem wohlmeinenden Schulterklopfen für die redliche Bemühung. Die Kunst der Maxie Wander bestand offensichtlich in ihrer Fähigkeit, die Frauen nicht vorschnell auf einen einseitigen Punkt abzufragen. »Nicht immer ist die Rhetorik eine belanglose Form gewesen«, sagte Walter Benjamin 1934, »sondern großen Provinzen der Literatur hat sie in der Antike ihren Stempel aufgedrückt.«

Ganze Passagen in Maxie Wanders Interview-Buch gehören zur wichtigsten Literatur, die ich in den letzten Jahren gelesen habe:

Da hat einmal einer Ober mir in der Untermiete gewohnt. Der hat einen Traktor gefahren, hat nur acht Klassen gehabt, keinen Vater und einen Haufen kleiner Geschwister. Und der ist manchmal zu mir hereingekommen, weil er gemerkt hat, ich bin auch allein. Ich hab« aber nicht immer Zeit für ihn gehabt. Ich hab« ihn auf mein Bett gesetzt, weil nichts anderes da war, und hab« ihm ein großes Stückchen Papier und einen Stift gegeben, und dann hat er gezeichnet

Er hat mir erzählt, er hat mal mächtig randaliert, weil nichts in seinem Leben zusammenpaßte, ich weiß nicht, was noch, jedenfalls hat er gesessen. Nun war er wieder mit denselben Leuten wie vorher zusammen ... Einmal war ich mit ihm im Kino, in einem richtig guten Film, wo der sonst nie hinging. Da hat er mich gefragt, ob er mich küssen darf. Einmal ist ei nachts gekommen und hat gefragt. ob er bei mir schlafen darf, er wird sich neben mein Bett legen und wird gleich einschlafen. Ich war so blöd, ich hab« nein gesagt. Und da hat er den Gashahn aufgedreht, in derselben Nacht. Wollte nicht mehr allein sein ... ich hätte sehen müssen, was er da zeichnet. Der hat nach Hilfe geschrien.

Der Verlust von Solidarität: Welche Feministin wollte dem Mädchen ernsthaft raten, sich von diesem Jungen zu emanzipieren.

Wie leicht wäre es, den folgenden Traum auf seinen sexuellen, emanzipatorischen oder politischen Symbolwert zu reduzieren: »Ich träume, ich liege mit meinem zweiten Mann auf einer Sommerwiese, die von einer Mauer umzäunt ist. Auf einmal ziehen lange Giraffenhälse draußen vorbei, und dann trottet eine Herde vorsintflutlicher Riesentiere auf uns zu. Walter nuckelt vor Entsetzen an seinem Daumen. Seine Schwäche macht mich mutig, ich verscheuche die gefährlichen Tiere. Dann mache ich mich groß mit meiner angeblichen Furchtlosigkeit. Warum beschützt mich keiner?«

Maxie Wander hat die Arbeit unternommen, auch scheinbar unwichtige Details zu notieren. Dabei hat sie ein Buch von gewaltigem Materialwert (im besten Sinn) hergestellt, ein Buch ohne Koketterie mit den angeblich »kleinen Leuten«, ein Buch, das mir Schwächen in meiner Arbeit deutlicher macht als manche Kritik. Die Monologe sind kein »Rückzug« in eine »Innerlichkeit«, wie ich es beim ersten Lesen falsch begriffen hatte, sie sind kein Privatisieren (im schlechtesten Sinn), sondern sie beschreiben den historischen Moment einer Erschöpfung: »Es kann nicht meine Schuld sein, daß mich Politik nicht interessiert.«

Das gesellschaftliche Phänomen des aufgehobenen, behüteten Bürgers steht dabei dicht neben dem des ratlosen: »Ich bin eigentlich einverstanden mit allem. So wie jetzt möchte ich weiterleben. Ob ich die Welt verändern will? Nein, das kann ich ja gar nicht. Warum soll ich was wollen, was ich nicht kann ... Nein, ich habe keine Probleme.«

Warum soll ich was wollen, was ich nicht kann, oder Herta, die Großmutter, die Rosa Luxemburg gesehen hat: »Etwas schief kam sie mir vor. Aber eine Klappe hatte die. Da konnte man direkt staunen. Ich hab' mir immer gedacht, wenn das eintreffen wird, was die so erzählt, hat sie ganz gute Ideen gehabt, die Rosa.«

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