

Zum Tod Diego Maradonas Für euch war er nur eine Person


Abbildung von Diego Maradona auf einer Wand
Foto: Fernando Gens / dpaIch habe es zuerst von meinem Freund Darío erfahren. »Diego ist tot, Mann. Er ist gestorben!«, sagt er mir in einer Audiodatei. Heftig schluchzend. Auch wenn Darío, so wie ich, ein Fan von River Plate ist. Also ein Gegner von Boca Juniors, Maradonas Mannschaft. Das hat ausnahmsweise keine Bedeutung heute. Hatte es vielleicht mit Maradona und nur mit Maradona nie gehabt.
Maradona ist für ihn, wie für alle Fußballfans des Landes, Gott. Und für alle anderen auch, nur dass die blöderweise nicht an ihn glauben, wegen der Dinge, die er »abseits des Fußballplatzes …« und so weiter. Soll man einen Künstler etwa an seiner profanen Biografie messen? Wie auch immer, unser Gott ist tot und alle meine WhatsApp-Gruppen kennen kein anderes Thema mehr. Auch wenn der Diego schon seit Jahren gratis lebte, wie man auf Spanisch zu sagen pflegt, wenn jemand den Tod schon längst hinter sich haben sollte, trifft uns die Nachricht hart. Nicht wie unerwartet, eher wie unvermeidlich. Nur als Korollar des schlimmsten Jahres unserer Geschichte vorstellbar, als der Universalvorrat an Scheißnachrichten nicht mehr zu bieten haben schien.
Wie kann man spielen, wenn das Spiel selbst gestorben ist?
Wie wird sein Begräbnis mitten in der Pandemie aussehen? In normalen Zeiten hätte er wahrscheinlich das von Eva Perón 1952 – das größte in der argentinische Geschichte nach, höre und staune, dem des deutschen Kapitäns der »Graf Spee« 1939 – womöglich übertroffen, und es wäre keine Überraschung, wenn er es sogar unter diesen Umständen schafft. Ich kann mir schon die tagelang sich viele Kilometer ziehenden Schlangen der Menschen vorstellen, die von ihm Abschied nehmen wollen. Das Spiel von Boca, das am Abend seines Todestags in der Copa Libertadores stattfinden sollte, wurde abgesagt. Wie kann man spielen, wenn das Spiel selbst gestorben ist?
Wir müssen uns auf dramatische Szenen gefasst machen. Schon bei der letzten Hirnoperation Maradonas war das Krankenhaus ganz in der Nähe meines Elternhauses von Fans umzingelt worden, mein Schwager schickte mir Fotos. »Es ist unglaublich«, meinte er dazu, »was der Diego immer noch bewegt«. Seine Anziehungskraft sollte man höher als die von alten Rockstars schätzen, denn viele seiner aktiven Verehrer haben ihn nie spielen sehen, kennen ihn höchstens als Trainer, eher als Fernsehmoderator oder Vater immer zahlreicherer Kinder. Ein Kult, der von Vater zu Sohn vermittelt wird, und wo alle Abschweifungen des Idols verziehen oder sogar bejubelt werden. »Maradona respektiere ich als Drogenabhängigen«, so lautet ein geflügeltes Wort, »was er auf dem Spielfeld macht, ist mir egal.«
Verehrt wie ein Denkmal seiner selbst
Auch seine Kritiker und die Leute, die ihm schlichtweg hassten – vor allem wegen seiner politischen Sympathien, die von Che Guevara und Fidel, der auch an einem 25. November gestorben ist, bis hin zu Maduro reichten –, mussten sich ein Leben lang damit abfinden, dass Diego außerhalb Argentiniens schlichtweg mit Argentinien gleichgesetzt wurde, und Argentinien mit Diego. Ob wir ab jetzt auf dieser Erde immer noch lokalisierbar bleiben werden, es ist fraglich. Ich habe es erst letzte Woche wieder erlebt, als der Briefträger hier im Ruhrgebiet zu der Auskunft, woher ich komme, sofort kommentierte: Ach, Argentinien, Maradona, ja, ein Fussballgenie, doch das mit der Hand war nicht ok.
Klar, er kann das Infragestellen. Für ihn ist Maradona nur eine Person. Für uns hingegen ist er ein Monument. Als solcher wird er nicht diskutiert. Man könnte in dieser Hinsicht behaupten, er war schon längst gestorben und wurde verehrt wie ein Denkmal seiner selbst. Letztes Jahr, also 2019, wurde er in der Liga von jedem Klub des Landes feierlich als Trainer von Gimnasia y Esgrima de La Plata empfangen. Die gesamten Spiele über verfolgten Kameras ausschließlich seine Gesten. Er thronte am Rande des Spielfelds —wortwörtlich: Manche Klubs haben tatsächlich einen Thron für ihn gebaut. Das Spiel selbst interessierte kaum einen Menschen. Man ging hin, um Maradona live zu sehen, um ihn zu besingen und ihm zu danken.

Maradona hat dem Land seine letzte große Fußballfreunde beschert, die Deutschen wissen das besser als irgendwer sonst – sie haben die Niederlage nicht vergessen, auch wenn sie danach kräftig nachgeholt haben. Für diese Leistung sind ihm auch seine erbittertsten Gegner hier in Argentinien dankbar. Der Vergleich mit Messi hinkt vor allem in diesem Detail, und so wird es wahrscheinlich auch bleiben. Und auch im Bereich der Sprache. Mit seinen spitzfindigen Antworten gegenüber Journalisten, seinem Wortwitz und seinen Spracherfindungen hat er uns mächtig unterhalten. Anders als bei anderen Fußballspielern wurden seine Sätze nicht verspottet, sie wurden zu Lebensweisheiten. »Der Ball wird nicht schmutzig« – ein Aphorismus, den er unter Tränen mitten in la Bombonera bei seinem letzten Spiel plötzlich irgendwo aus seinem unermesslichen, autodidaktischen Wortschatz hervorzauberte – wird vielleicht selbst das Spiel, auf das er sich bezieht, überleben.
Mit Diego stirbt ein Teil unserer merkwürdigen argentinischen Art, Spanisch zu sprechen. Was er noch zu entdecken hatte in diesem Bereich, es wird wahrscheinlich unentdeckt bleiben. Für das, was er uns geschenkt hat, sind wir dankbar.
Während ich diese Zeile rasch niederschreibe, wird unter meinen Freunden die Nachricht in allen möglichen Sprachen weitergeleitet, auch Tweets von Stars aus der ganzen Welt. Der Papst wird gerügt, weil er sich immer noch nicht zur Lage der postmaradonianischen Welt geäußert hat. Dann teilt jeder spontan mit, wann er zum ersten Mal Maradona spielen sah, ob im Trikot der Nationalmannschaft, in dem von Boca oder dem von Neapel, der übrigens einzigen Stadt, in der man diesen Personenkult nicht nur versteht, sondern womöglich übertrifft.
Hymnen auf Maradona in allen möglichen Musikgenres werden ausgetauscht, die vielen Dokumentarfilme über sein wechselhaftes Leben rekapituliert, seine schönsten Tore (so viele, mein Gott!) zum hundertsten Mal angeschaut. Das Spiel der Erinnerung, es fängt erst an.