POP Digitale Erinnerungen
Dschumm, dschumm, dschumm, dschumm. Niemand, der in den nuller Jahren mal das Radio angemacht hat, dürfte diesen vier Schlägen entkommen sein. Wie Ausrufezeichen zählen sie einen der mitreißendsten Beats der jüngeren Pop-Geschichte an, der eine genauso unvergessliche Gesangslinie treibt. »I remember when, I remember, I remember when I lost my mind ...«
»Crazy« heißt der Song, zwei Typen, die sich Gnarls Barkley nennen, steckten dahinter - der Sänger Thomas Callaway alias Cee-Lo Green und der Produzent Brian Burton alias Danger Mouse. Namen, die sich allerdings kaum jemand merkte. Anders als das Stück: Im Frühjahr 2006 kam es heraus und brachte das Kunststück fertig, an die Spitze der britischen Charts zu schießen, ohne dass man die CD-Single im Laden hätte kaufen können. »Crazy« war der erste Song, der es ausschließlich als Download schaffte, auf die britische Nummer eins zu kommen. Er geleitete die Welt durch den WM-Sommer 2006, und seitdem weigert er sich, wieder zu verschwinden.
Die Botschaft von »Crazy« ist so schlicht wie einleuchtend: Ich mag verrückt sein, aber wenn du glaubst, du hättest alles unter Kontrolle, bist du noch verrückter als ich. Große Pop-Weisheit in 2:58 Minuten. Doch auch wenn das Jahrzehnt diesen Befund noch einige Male bestätigen sollte - es ist nicht der zeitdiagnostische Aspekt dieses Songs, der ihn zum zentralen Hit der nuller Jahre gemacht hat. Ein bisschen verrückt war die Menschheit auch schon in den Jahren davor. Es ist der Sound.
Was erstaunt, klingt »Crazy« doch so gar nicht nach digitaler Gegenwart. Eher wie ein psychedelisches Garagensoul-Stück aus den späten Sechzigern. Aber das war genau das Geheimnis. Das Neue der nuller Jahre war, dass es nichts Neues gab. Das heiße neue Ding, der Großtrend, der es vom Underground in die Charts schafft und der Dekade ein Gesicht gibt, fiel dieses Mal aus.
Es war ein Jahrzehnt des Historismus. Nicht nur im Pop, aber vor allem hier. So unterschiedlich Künstlerinnen wie Amy Winehouse, Norah Jones oder eine Band wie The Strokes im Einzelnen waren - eines hatten sie gemeinsam: Ihre Musik war ein Nachbau von Stilen, die seit langer Zeit vollkommen ausformuliert sind. Das prägte die vergangenen Jahre.
Im Grunde erstaunlich: wurde doch keine Kunstform in den nuller Jahren so umgewälzt wie die Musik. Die Computer übernahmen die Herrschaft. Nicht nur für die Hörer, für die sich durch die Digitalisierung und das Internet riesige Archive öffneten. Fast jedes Stück Musik, das je aufgenommen worden ist, wurde per Mausklick zum Download verfügbar. Das zog die ehemals stolze Tonträgerindustrie, die den neuen Bedingungen kein Geschäftsmodell abringen konnte, in den Abgrund. Aber auch die Musikproduktion selbst, genau wie der Vertrieb und die Vermarktung veränderten sich rasend.
Doch genauso funktioniert Historismus: Wo sich alles verändert, da soll wenigstens eines scheinbar so bleiben, wie es ist: die Musik selbst nämlich. Wenn der technische Fortschritt zu schnell geht und seine kulturellen Konsequenzen zu erschreckend sind, bietet der Historismus einen Kompromiss an: Hergestellt wird nach den neuesten Standards, nur aussehen oder klingen muss es so, dass jeder es sofort erkennt.
Niemand machte das besser als Gnarls Barkley, dieses merkwürdige Paar aus Atlanta im amerikanischen Süden. Der kräftige Callaway, der Sänger mit dem Südstaaten-Prediger-Charisma, der ursprünglich einmal Rapper gewesen war. Und der dürre Burton, der berühmt geworden ist, als er unter dem Pseudonym Danger Mouse das »White Album« der Beatles mit dem »Black Album« des Rappers Jay-Z vermixte und es als »Grey Album« illegal ins Internet stellte. Es wurde millionenfach heruntergeladen.
»Crazy« klingt zwar, als wäre es von einer kompletten Band eingespielt worden - tatsächlich sind es aber eben nur ein Mann, der singt, und einer, der am Computer herumfrickelt. Burton, der irre Studiotüftler, hatte nicht nur Tausende Klangschnipsel in seiner Soundbibliothek, sondern auch den Dreck, um einem Stück die nötige Patina zu verleihen. Und Callaways Stimme lebt nicht nur von der Überzeugungskraft des tätowierten Ex-Tunichtguts. Er setzt auch jedes »Hmmm« und jedes »Yeah« an die Stelle, wo man ein »Hmmm« oder ein »Yeah« erwartet. »Crazy« klingt wie ein Hit, deswegen wurde es auch einer.
Manchmal überschritten Burton und Callaway die historischen Vorgaben. Im Kino würde man es wohl digitalen Hyperrealismus nennen - aber eine so großartig schmatzende Bassdrum wie in »Crazy« bekam man mit analogen Mitteln vor 40 Jahren noch nicht hin. Dafür mussten ein Computer und all der digitale Technik-Voodoo her, mit dem man Beats heute digital aufmotzen kann.
Noch ein Hit wie »Crazy« gelang den beiden allerdings kein zweites Mal. Trotz zwei brillanter Alben dürften sie als One-Hit-Wonder in die Geschichte eingehen. Die Anzeichen, dass der Historismus sich dem Ende zuneigt, mehren sich. Mit Lady Gaga hat das Jahr 2009 den ersten globalen Pop-Star hervorgebracht, der die Verrücktheit wieder ganz im Hier und Jetzt verkörpern kann. TOBIAS RAPP