Zur Ausgabe
Artikel 91 / 107

FILM »Disney belügt Kinder«

Der japanische Regisseur Hayao Miyazaki über Realismus in der Jugendkultur und den Welterfolg seines neuen Zeichentrickfilms »Chihiros Reise ins Zauberland«
aus DER SPIEGEL 25/2003

Miyazaki, 62, begann seine Karriere als Comiczeichner. Sein neuer Film »Chihiros Reise ins Zauberland«, der diese Woche in die deutschen Kinos kommt, war in Japan erfolgreicher als »Titanic«, gewann auf der Berlinale 2002 als erster Zeichentrickfilm den Goldenen Bären und wurde im März mit einem Oscar ausgezeichnet. -------------------------------------------------------------------

SPIEGEL: Herr Miyazaki, hat das in Asien so erfolgreiche Zeichentrickgenre - die Japaner nennen es »Anime« - jetzt auch im Westen den Durchbruch zur respektablen Kunstform geschafft?

Miyazaki: Natürlich freue ich mich, dass die Vorurteile gegen Anime schwinden. Die traditionelle Trennung zwischen Film und Trickfilm ergibt ohnehin kaum noch Sinn: Der so genannte reale Film, bei dem die Bilder inzwischen meist per Computer manipuliert werden, nähert sich immer mehr dem Trickfilm an; die Grenzen verschwimmen.

SPIEGEL: In Japan landen Sie einen Kinohit nach dem anderen. Warum, glauben Sie, wird der Westen erst jetzt so richtig auf Sie aufmerksam?

Miyazaki: Vermutlich lässt es sich einfach nicht länger übersehen, dass Japan bei Anime führt. Zwar mache ich meine Filme in erster Linie fürs japanische Publikum - und das soll auch künftig so bleiben. Aber meine Geschichten handeln zugleich von Schicksalsfragen der ganzen Menschheit, wenn zum Beispiel Kinder ihre Lebenslust verlieren oder sich unsere Konsumgesellschaft zu Grunde richtet.

SPIEGEL: Kaum ein anderes Land hat sich so überhastet industrialisiert und seine Kultur dabei teilweise so rücksichtslos geopfert wie Japan. Was können ausländische Zuschauer aus dieser extremen Erfahrung lernen?

Miyazaki: Was unsere Nation durchmachte, wird Wachstumsländern wie China noch radikaler widerfahren. Sie rasen noch schneller als Japan Richtung Selbstzerstörung. Wenn Japan aus seiner Erfahrung die richtigen Lehren zöge und nicht nur nach ökonomischem Eigennutz trachtete, könnte es anderen Ländern dabei helfen, fatale Fehler zu vermeiden.

SPIEGEL: Im Westen denkt man bei Kino-Trickfilmen vor allem an Disney - worin unterscheiden sich Ihre Werke von den amerikanischen Produktionen?

Miyazaki: Die Amerikaner wollen Hits landen und damit viel Geld verdienen. Ich dagegen will vor allem ein Kunstwerk schaffen. Und deshalb täusche ich Kinder nicht über das Leiden in der Welt: Krieg, wirtschaftliche Krisen, Zerstörung der Umwelt. Wenn wir der Realität nicht ins Auge sehen, können wir Kindern keine Geschichten erzählen. Um es unverblümt zu sagen: Disney belügt Kinder. Ähnliches gilt - bei allem Respekt - für viele US-Verfilmungen: Gut gegen Böse - so lautet die simple Formel, auf die Hollywood die schwierigen Konflikte in der Welt verkürzt. Solche Filme möchte ich aber nicht machen.

SPIEGEL: In Ihrem Film »Chihiros Reise ins Zauberland« werden die Eltern der zehnjährigen Chihiro zu Schweinen verhext, weil sie von den Speisen der Götter aßen. Die Tochter heuert als Putzhilfe in einem verwunschenen Badehaus an und schafft es mit selbstlosem Fleiß, die Eltern aus dem Unglück zu befreien. Wollen Sie Japan durch Rückgriff auf traditionelle Werte retten?

Miyazaki: Nein, ich habe den Film für die Töchter von Freunden gemacht, die ich jeden Sommer in meiner Hütte in den japanischen Bergen treffe. Wie viele japanische Kinder sind sie von Herzen gut, aber auch schwach. Ich wollte einen Film machen, in dem sie sich wieder erkennen und indirekt auch meine Aufmunterung vernehmen: »Habt keine Angst, ihr werdet das Leben schon meistern.« Aus dem Blickwinkel von Kindern bringt die Welt ständig Überraschungen mit sich, die sie - anders als Erwachsene - nicht rational erklären können. Chihiro findet sich trotzdem zurecht. Ich wollte meinen kleinen Freundinnen Mut machen, aus ganzer Kraft zu leben, wie eben Chihiro.

SPIEGEL: Ist der gutmütige Märchenonkel Miyazaki, als den viele Japaner Sie verehren, ein Moralapostel?

Miyazaki: Nein, meine Werke zwingen den Menschen keine simple Botschaft auf. Sobald ein Film im Kino läuft, gehört er den Zuschauern. Wenn ich als Regisseur glaubte, die Welt verändern zu können, wäre das vermessen. Aber natürlich will ich durch meine Filme auch eigene Zukunftsängste überwinden. Dabei handelt es sich um eine widersprüchliche Empfindung - die Menschen sind hässlich, aber das Leben ist schön.

SPIEGEL: Ihre Helden wirken häufig in sich zerrissen: Äußerlich sind sie stark, innerlich allerdings einsam. Verarbeiten Sie da Erlebnisse aus Ihrer eigenen Kindheit?

Miyazaki: Meine Filme spiegeln sicher auch Verachtung gegenüber meinen Eltern wider, die sich kaum um mich kümmerten. Darauf habe ich als Junge reagiert, indem ich mich abkapselte ...

SPIEGEL: ... und indem Sie mit Robotern und Flugzeugen spielten, die in allen möglichen Varianten in Ihren Filmen vorkommen?

Miyazaki: Ja, denn je schwächer sich jemand fühlt, desto eher begeistert er sich für starke Maschinen, für Kriegsflugzeuge oder Panzer. Kaum eine Organisation auf der Welt bewahrt sich so viel Kindlichkeit wie das Militär mit seinem Stolz auf Kanonen, auf bunte Orden. Dass gerade Jungen in sich einen Hang zur Gewalt spüren, finde ich ganz natürlich. Statt diesen Trieb zu unterdrücken, sollte man lieber dafür sorgen, dass er sich sinnvoll auf höherer Ebene austoben kann.

SPIEGEL: Das geschieht heutzutage allerdings oft durch brutale Videospiele, mit denen vor allem japanische Hersteller die Welt überfluten.

Miyazaki: Videospiele vermitteln Jugendlichen keine Befriedigung, sondern verstärken nur den Frust. Deshalb lehne ich auch grundsätzlich alle Angebote ab, Charaktere meiner Trickfilme für Computerspiele zu verwenden. Kinder sollten so viel freie Zeit wie möglich damit verbringen, ihre reale Umwelt zu erkunden. Daher wäre es mir übrigens auch fast lieber, wenn sie nicht zu viel in meine Kinofilme laufen würden. Wenn sie sich ein oder zwei Filme anguckten, dann reichte das schon.

SPIEGEL: Die Bilder für Ihre Trickfilme malen Sie großenteils noch von Hand. Ihre ruhig erzählten Geschichten erinnern an Filme von Altmeistern des japanischen Kinos wie Yasujiro Ozu oder Akira Kurosawa. Warum aber kommen immer seltener gute Filme aus Japan?

Miyazaki: Weil wir Japaner uns inzwischen selbst hassen. Leider gibt es kaum noch Japaner, die andere Japaner auf der Leinwand bewundern möchten. INTERVIEW:

WIELAND WAGNER

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 91 / 107
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten