Documenta und Kolonialismus Die Kasseler Völkerschau

Besucher bei der Documenta 15 in Kassel
Foto:Uwe Zucchi / picture alliance / dpa
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Wenn in den nächsten Wochen und Monaten die Trümmer der Documenta abgeräumt werden, um die Ursachen des Desasters freizulegen, dann könnte zum Vorschein kommen, dass in Kassel ein Konzept aus der Kolonialzeit in die Gegenwart verlängert wurde: das Konzept der Völkerschau.
Zu der Zeit, als ungefähr die Hälfte der Erde von einigen wenigen Mächten beherrscht wurde, auch von den Deutschen, waren die sogenannten Völkerschauen eine große Attraktion. Zehntausende Besucher strömten in Hamburg, München oder Berlin, aber auch in Paris, London, Rom und Basel zusammen, um Menschen aus den Kolonien zu bestaunen, aus Ländern, die heute zum globalen Süden gehören – so wie Indonesien, Heimatland von Ruangrupa. »Das Künstler*innenkollektiv aus Jakarta hat ihrer documenta fifteen die Werte und Ideen von lumbung (indonesischer Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune) zugrunde gelegt«, heißt es auf der Website der alle fünf Jahre stattfindenden Ausstellung.
Die Idee der deutschen Documenta-Verantwortlichen bestand also darin, ein Stück Indonesien nach Kassel zu holen, möglichst authentisch. Das hört sich ehrenwert an und war mit Sicherheit gut gemeint. Aber es reproduziert ziemlich genau das, was bei vielen Völkerschauen gemacht wurde.
Die Veranstaltungen, die der Hamburger Tierhändler und Zoogründer Carl Hagenbeck gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland populär gemacht hat, sollten ihr Publikum nicht nur unterhalten, sondern auch bilden und belehren. Um seinen »anthropologisch-zoologischen Ausstellungen« einen möglichst seriösen Anstrich zu geben, lud er sich Wissenschaftler ein, die den Körperbau der ausgestellten Menschen mit ihren Messgeräten untersuchten und sie nach ihren Sitten und kollektiven Vorstellungswelten befragten.
Damals wie heute bei der Documenta war Authentizität ein hoher Wert. Und auch damals schon handelte es sich um einen professionellen Betrieb. Die Menschen, die ausgestellt wurden, zeigten sich fast immer freiwillig und gegen Bezahlung. Dass sie erniedrigt und ausgebeutet und häufig schlecht behandelt wurden – keine Frage. Aus heutiger Sicht sind Menschenzoos abscheulich, weil die Menschen dort zur Ressource gemacht wurden, um die Schaulust und die Wissbegierde der Besucher zu befriedigen.
Aber ist das Konzept der Documenta so viel anders und besser? Bei den deutschen Verantwortlichen handelt es sich um arrivierte Intellektuelle, die sich dafür entschieden haben, auf eine ganz besondere Ressource zuzugreifen: den unverfälschten Rohstoff der Kreativität des globalen Südens. Auch das ist eine Form der Ausbeutung.
Ob außerdem der Import von unverfälschtem Antisemitismus Teil des Plans war, oder ob es sich um einen durch Naivität verursachten Kollateralschaden handelt, kann nur die weitere Aufklärung zeigen.
Wer Künstler aus anderen Ländern ernst nehmen will, mit ihren sozialen und politischen Anliegen, ihrem kulturellen Kontext, ihrer persönlichen Expressivität, der muss sich vom Prinzip der Völkerschau verabschieden. Allein schon der Respekt gebietet es, die Kriterien der hiesigen Kunstwelt beizubehalten, in der nach hiesigen Maßstäben kuratiert, gewertet und verworfen wird.
Kunst hat Anspruch auf Kritik. Bleibt die Kritik aus, dann wird das künstlerische Schaffen ethnologisiert wie auf einem jener bunten Märkte, die es früher in den Völkerkundemuseen gab, die heute nicht mehr so heißen.
Wer verhindern will, dass sich etwas Ähnliches wie bei der Documenta wiederholt, muss den inneren Kolonialisten in sich finden und zur Rede stellen. Zu erkennen ist dieser tückische Dämon unter anderem an seinem Wunsch, den Unterdrückten auf der Welt zu helfen, um etwas Gutes zu tun und sich selbst dadurch besser zu fühlen. In früheren Zeiten schlug sich das in christlicher Missionsarbeit nieder, dann als selbst gewählter Auftrag, die westliche Zivilisation über den Erdball zu verbreiten.
Heute kann es passieren, dass der Dämon der Kolonisierung in das Gewand der postkolonialen Empathie schlüpft. In Kassel ist genau dies geschehen, mit den bekannten Folgen.