FILM Doku-Soap im Garten Gottes
Was für ein absurder Streit um den Erlöser - als würde die Christenheit erst jetzt damit anfangen, sich mit der Person, der Rolle und der Symbolhaftigkeit Jesu zu beschäftigen! Als hätte die Welt auf ein klärendes, definitives Wort von Mel Gibson seit langem gewartet!
Anders als viele vorausgegangenen Bibel-Adaptionen - von den Gebrüdern Lumière (1898) über Cecil B. De Mille (1927) bis Pier Paolo Pasolini (1964) - behauptet der Hollywood-Star Gibson, er habe sich mit seinem Werk »The Passion of the Christ« streng an die Vorlage gehalten, sie, wie man heute sagen würde, eins zu eins umgesetzt, wobei der Heilige Geist ihm die Regiehand geführt habe - und das, obwohl er nicht nur die vier Evangelien, sondern auch obskure Quellen verarbeitet hat, wie die Visionen der Nonnen María von Agreda (1602 bis 1665) und Anna Katharina Emmerich (1774 bis 1824).
Nähme man Gibson wörtlich, müsste man glauben, er habe eigentlich einen Dokumentarfilm gedreht, den er aus Mangel an Material mit Schauspielern besetzen musste, wobei ihm die Rekonstruktion der
Geschichte am Ende noch authentischer geriet, als es die Geschichte selbst war.
Jetzt ist es vollbracht, und die Folgen des frommen Kraftakts sind zu besichtigen: Der Erlöser lebt, in Malibu, Kalifornien; eine Zuschauerin in einem Kino in Kansas starb. Ein Herzanfall, vermutlich vor Aufregung über ein Blutbad, wie man es so noch nie zuvor gesehen hat.
»Es ist vollbracht!« waren laut Johannes-Evangelium (Kapitel 19, Vers 30) die letzten Worte Jesu; Mel Gibson dürften gerade ähnliche Gedanken überkommen: »The Passion« startete am Mittwoch vergangener Woche in den USA in 3006 Kinos, mit 4643 Kopien. Es war der größte Filmstart aller Zeiten, aufwendiger noch als beim »Herrn der Ringe«, dem anderen Erlöserspektakel.
Bereits am ersten Tag spielte »The Passion« 26,6 Millionen Dollar ein, fast die gesamten Produktionskosten. Bis zum Ende der Fastenzeit - in Deutschland kommt »Die Passion Christi« am Gründonnerstag (8. April) in die Kinos - dürfte Gibson, Produzent, Regisseur und Drehbuch-Co-Autor, damit allein in den USA mehr als 100 Millionen Dollar einnehmen. »Irgendwer da oben«, frotzelte der britische »Guardian«, »muss Mel Gibson mögen.«
Dabei geht es bei der ganzen Geschichte natürlich nicht um Geld, wie sonst immer in Hollywood; es geht erst recht nicht um Kunst. Es geht einzig und allein um Mel Gibson, 48, der es geschafft hat, dass sich die halbe westliche Welt mit seinen ganz privaten Obsessionen beschäftigen muss. Gibsons Obsession ist die Darstellung von Schmerzen, und weil er außerdem ein streng konservativer Christ ist, dürfte ein blutiger Film über die Kreuzigung Christi seinen Vorstellungen vom Himmel auf Erden ziemlich nahe kommen.
Etwa 30 Millionen Dollar seines Vermögens hat Gibson in seine »Passion« investiert; kein Wunder, dass er auch das Marketing nicht aus der Hand gab. Schon früh suchte er dafür die Unterstützung christlicher Gruppen, und er bekam sie. Im Sommer vorigen Jahres, kurz nach Ende der Dreharbeiten in Italien, organisierte Gibsons oberster PR-Stratege, Paul Lauer, etliche Vorführungen des Films vor christlichen Eiferern und ideologisch nahe stehenden Kolumnisten, die prompt den Film verteidigten, als erste Antisemitismus-Vorwürfe laut wurden (SPIEGEL 33/2003).
Gibson selbst nahm an vielen dieser Veranstaltungen teil und wurde von den Zuschauern fast so enthusiastisch gefeiert wie der Messias selbst. Sogar bei einer Vorführung in Los Angeles vor 350 Jesuiten gab es kaum Kritik; nur ein älterer Priester fragte, ob die Untertitel zu den lateinischen und aramäischen Dialogen nicht größer gemacht werden könnten.
Auch Mitarbeiter des Weißen Hauses durften »The Passion« bereits im vergangenen Juli sehen; kritische Journalisten blieben jedoch ausgesperrt, einige bis zuletzt. Andere spielte Gibson gegeneinander aus, setzte Zitate in die Welt, beteuerte, missverstanden worden zu sein und ließ noch Anfang Februar erklären, die endgültige Schnittfassung sei immer noch nicht fertig. »Gibsons Leute können lauter auf die Pauke hauen als andere«, sagt ein ehemaliger Geschäftspartner, »aber manchmal treiben sie es zu weit.«
In der Tat: »Es ist, wie es war«, soll Papst Johannes Paul II. nach einer Privatvorführung von »The Passion« gesagt haben. Später dementierte der Vatikan, aber das Wort des Stellvertreters machte trotzdem die Runde, begleitet von ähnlichen Statements. »Dieser Film ist ein Triumph der Kunst und des Glaubens«, entschied der Kardinal Darío Castrillon Hoyós. »Als Jude muss ich wirklich sagen, dass ich ,The Passion'' für einen mitreißenden Film halte«, jubelte der Skandalreporter Matt Drudge. »Ein Meisterwerk«, urteilte der Autor William Peter Blatty, seit dem »Exorzisten« als Fachmann für Übersinnliches qualifiziert.
Während die PR-Kampagne anrollte, fragten Kritiker und Theologen in »Newsweek«, in der »New York Times«, im »New Yorker« und im »Daily Telegraph«, wer es war, der Jesus »wirklich getötet hatte«. Waren es die Römer? Die Juden? Oder einfach »wir alle«, wie es Gibson sagte und zugleich versicherte, er wolle »keinen Juden lynchen«, im Gegenteil, »Ich liebe sie und bete für sie«, was wie eine Drohung klang.
Dabei ist Gibsons »Passion« zuerst und vor allem ein filmischer Mummenschanz, für den er die Kinogeschichte geplündert hat. Von »Gladiator« bis »Reservoir Dogs«, von Sergio Leone bis Monty Python hat er alles verarbeitet, was grell, grausam und gruselig war. Am Anfang sieht man Jesus zur Nachtzeit im Garten Gethsemane, betend und zitternd, denn auch in Palästina kann es zur Osterzeit noch bitter kalt sein.
Die blaustichige Einstellung erinnert an alte Edgar-Wallace-Filme, doch statt des Hexers tauchen Häscher auf, die Jesus festnehmen und abführen. Unheil kündigt sich an. Zwei Frauen schauen besorgt aus einem Haus ins Freie. Die eine sagt: »Was unterscheidet diese Nacht von anderen Nächten?« Sie sagt es auf Hebräisch, und es sind die einzigen hebräischen Worte im ganzen Film. Eine subtile Pointe, mit der Gibson vermutlich zeigen wollte, wie sehr er die Juden liebt. Denn der Satz gehört zum Pessach-Ritual, mit dem Juden alljährlich an den Auszug aus Ägypten erinnern - und hat mit der Geschichte Jesu nichts zu tun.
Nach dem beschaulichen Anfang kommt der Film bald in Fahrt. Man sieht Römer in Kampfmontur und Juden in wilden Kostümen, die Teppiche auf dem Kopf tragen, sich mit viel sagenden Blicken verständigen und mit den Augen rollen, als würden sie in einem Stummfilm auftreten.
Am miesesten führt sich der Hohepriester Kaiphas auf, der es auf Jesus abgesehen hat. Gemessen an ihm ist Shylock eine Lichtgestalt. Kaiphas bringt den römischen Statthalter Pontius Pilatus (Hristo Naumov Shopov) dazu, über Jesus das Todesurteil zu fällen, obwohl der nette Römer von Skrupeln geplagt wird. »Was ist die Wahrheit?«, fragt er und »Was soll ich tun?« - »Kreuzige ihn!«, schreit Kaiphas, und Pilatus führt den Befehl am Ende aus.
Es spricht wenig dafür, dass sich die Geschichte wirklich so abgespielt hat. Sogar christliche Theologen gehen inzwischen davon aus, dass die Juden ihren Bruder Jesus zwar nicht mochten, aber kaum in der Lage waren, den Römern Kommandos zu geben. Doch für den weiteren Gang der Passion nach Gibson ist das eine praktische Voraussetzung. Römische Folterknechte machen die Drecksarbeit, während die Juden zufrieden zuschauen. Es ist die Art von Arbeitsteilung, wie sie in der Literatur über Juden öfter vorkommt: Sie sind die Strippenzieher und Nutznießer, die andere für sich schuften lassen.
Was dann abgeht, ist eine sado-masochistische Orgie: Jesus wird gefoltert und gekreuzigt; Gibson lässt kein Detail aus. Man könnte den Film als Gebrauchsanweisung für angehende Henker einsetzen, die ihr Handwerk von der Pike auf lernen wollen. Als der Film-Jesus ans Kreuz geschlagen wird, führte in einer Einstellung sogar Gibsons eigene Hand den Hammer, heißt es. Was immer er als Begründung für seinen Film angeben mag - religiöse Überzeugung, Liebe zu Jesus, Suche nach Wahrheit - es ist die reine Lust an der Gewalt, die ihn antreibt.
Kein Wunder: Mel Gibson hat sich in Hollywood schon längst zum Hammer und Amboss Gottes zugleich stilisiert. Er liebt die Märtyrerrolle; eine Opferfigur aus der Renaissance dient gar als Firmenlogo seiner Produktionsfirma Icon.
So spielte er in »Ein Jahr in der Hölle« (1982) einen Reporter, der in Indonesien stellvertretend für den Westen malträtiert wird. Als »Mad Max« sowie in vier »Lethal Weapon«-Filmen zeigte Gibson, dass auch Hollywood-Helden Schmerzen kennen. Im ersten »Lethal Weapon« (1987) wird der von Gibson dargestellte Polizist bei einem Verhör in Kreuzigungspose gefesselt und mit Elektroschocks gefoltert. Klar, dass er am Ende blutige Rache nimmt. Die bisher übelste Blutspur zog Gibson in dem Oscar-prämierten Schottland-Epos »Braveheart« (1995), bei dem er als Regisseur und Hauptdarsteller lustvoll drastische Schlachtszenen inszenierte, am Ende sogar die eigene Hinrichtung.
»Täglich sieben Stunden Maske« hatte schließlich der Jesus-Darsteller Jim Caviezel über sich ergehen lassen müssen, bis er am Ende aussah wie ein rohes Stück Fleisch. So sind denn die Maskenbildner die eigentlichen Stars des Films, nicht die Darsteller, die sich in den Kulissen des biblischen Jerusalem so hilflos bewegen wie Asterix und Obelix auf der Baseler Fastnacht.
Je mehr Blut vergossen wird, desto kälter wird der Film; der Overkill an Brutalität endet im Flachsinn: Während Jesus am Kreuz den Geist aufgibt, spielen seine Folterer mit dem Würfelbecher, dann wird es dunkel am Himmel, und die Erde bebt. Wow!
Weil das alles noch nicht genug ist, lädt Gibson seinen Film mit allerlei Effekten auf. Da gibt es Nahaufnahmen von blutenden Wunden, Bilder, die auf dem Kopf stehen, und Zeitlupen wie bei Fußball-Übertragungen. Eine Folter der besonders gemeinen Art ist die Filmmusik: Sie klingt, als spielte André Rieu eine Komposition von Carl Orff. So ist Gibson ein Gesamtkitschwerk gelungen, das schon jetzt alle Rekorde zu brechen verspricht.
Bleibt die Frage: Ist »The Passion« antisemitisch? - »Auf keinen Fall«, sagt Gibson. »Unbedingt«, sagen jüdische Funktionäre wie Abraham Foxman (Anti Defamation League) und Marvin Hier (Simon Wiesenthal Center). Wer kein Antisemit ist, wird es auch nach einem Besuch des Films nicht werden. Und wer Juden eh nicht leiden kann, der findet sein Gefühl bestätigt.
In Deutschland hat sich die Antisemitismus-Debatte auf eine andere Ebene verzogen, es geht um den Zionismus und um Palästina. In Ländern mit einer intakten antisemitischen Folklore wie in Polen oder in der Ukraine kann der Film wie ein Katalysator und Verstärker wirken. Im amerikanischen Bible-Belt, wo die Ansichten so schlicht sind wie das Essen, ebenfalls. Deswegen mögen die jüdischen Reaktionen auf Gibson panisch und hysterisch sein, unbegründet sind sie nicht.
Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, das erst 40 Jahre zurückliegt, galten die Juden als die »Gottesmörder«. Aus diesem Motiv speiste sich über 19 Jahrhunderte der christliche Antisemitismus. Gibson bringt mit seinem Film die Geschichte zurück zum Anfang und weckt Ängste, dass es wieder losgehen könnte mit der alten Judenhatz. Staunend und fassungslos stehen Juden vor der Tatsache, dass sie noch immer für einen Mord zur Rechenschaft gezogen werden, der vor fast 2000 Jahren passiert ist, während andere Völker nach nur 60 Jahren von einem millionenfachen Mord nichts mehr wissen wollen. Deswegen läuten sie die Alarmglocken, was nicht sehr klug ist, denn die so verursachte Aufregung hat bis jetzt nur Gibson genutzt. Anhänger von Verschwörungstheorien, wie sie derzeit in Mode sind, könnten ohnehin auf die Idee kommen, Gibson und die jüdischen Organisationen arbeiten zusammen, wie seinerzeit Pontius Pilatus und Kaiphas.
Auch das wäre ein schöner Film, den man noch drehen könnte.
HENRYK M. BRODER, MARTIN WOLF
* Links: mit Jim Caviezel; rechts: mit Monica Bellucci, MaiaMorgenstern, Hristo Jivkov.