FILM Dominotheorie
Bresson-Filme sind, ganz wie die üblichen anderen, aus Bildern samt den dazugehörigen Tönen zusammengesetzt und erzählen eine klare, Schritt um Schritt nacherzählbare Geschichte. Bresson arbeitet mit den allereinfachsten, allerüblichsten Kinomitteln, unter Verzicht auf die auffälligeren, komplizierteren, knalligeren - wie kommt es da, daß seine so ganz anders als die üblichen Kinofilme aussehen?
Ganz einfach: Weil bei ihm alles ganz einfach ist. Bressons Kunst ist der Verzicht; die Suche nach der knappsten, sparsamsten Formulierung; was er im Laufe seines asketischen Lebenswerks an Verfeinerungen der Mittel entwickelt hat, zielte immer darauf, mit noch weniger auszukommen: das Minimum als Reinheitsideal.
Wozu ein Dialogsatz, wenn eine Geste oder ein Blick genügt? Wozu den Kopf eines Menschen zeigen, wenn ein Stück Rumpf mit Arm alles Nötige sagt? Wozu überhaupt ein Bild, wenn ein Geräusch reicht? Bresson ekelt sich schon vor dem Wort »Kino«, das Befriedigung einer vulgären Schaulust verheißt. Bei ihm gibt es nichts zu glotzen; die berühmtesten bressonschen Kameraeinstellungen sind die, in denen am wenigsten zu sehen ist.
Wie kann einer einen Raubüberfall auf eine Bank filmen und dabei die Kamera einfach draußen stehenlassen, einfach wartend auf das wartende Fluchtauto gerichtet? Bresson kann; er verzichtete auf das Spektakel; genau komponierte Geräusche sind ihm genug, um den Ablauf, das Scheitern des Raubüberfalls mitzuteilen - und er führt solchen Schau-Verzicht als Kunstleistung vor, immer wieder in diesem Film, der eine blutig-finstere Kriminalgeschichte erzählt.
Er erzählt schaurige Taten, doch er zeigt sie nicht: Das Krasseste, was bei der Abschlachtung einer ganzen Familie zu sehen ist, sind ein paar Blutspritzer an einer Wand, und noch diese Wand ist mit einer geblümten Tapete bedeckt, um den Bild-Schock auf ein Minimum zu dämpfen.
Bei Tolstoi wird geweint und gefleht, wenn Verzweiflung herrscht. Unter Tränen fleht - in einer späten, fragmentarischen Erzählung - der arme Brennholzhändler Iwan, der sich vom Inhaber eines Photogeschäfts Falschgeld hat andrehen lassen und jetzt selbst des Betrugs beschuldigt wird, um Gerechtigkeit. Doch der feine Geschäftsmann und sein (mit echtem Geld bestochener) Angestellter leugnen den Schwindel und stoßen damit den armen Iwan in eine Unglücksbahn von Schande, Strafe, Verbrechen und Tod.
Bei Bresson wird nicht geklagt und geflennt. Unbewegt stumm nimmt der betrogene Yvon, Lieferfahrer einer Heizölfirma, das Urteil hin, mit dem der Photohändler und sein Angestellter ihn zum Falschgeld-Betrüger stempeln; und ebenso still geduldig erträgt er, daß er von seiner Firma entlassen wird, daß er ins Gefängnis kommt, daß sein Kind stirbt, daß seine Frau ihn verläßt: ganz Unschuld, ganz Opfer, ganz Lamm, schicksalsergeben.
Tolstois merkwürdige Erzählung »Der gefälschte Kupon« führt vor, wie eine einzige »kleine« Untat - die Gaunerei eines Gymnasiasten, dem sein Vater einen Taschengeldvorschuß verweigert hat - unabsehbare Folgen nach sich zieht: ein sich immer weiter verästelndes System von Dominosteinen, die einander zu Fall bringen, quer durch alle Gesellschaftsschichten und durchs ganze Land.
Bresson hat für seinen Film nur einen Teil von Tolstois Dominosteinen benutzt - nur jene, die eine herzlose, zynische, ganz von »sichtbarem Gott« Geld beherrschte Welt zeigen, nicht jene, die Lebensläufe zum Glücklichen, Guten, ja Heiligmäßigen wenden -, und er hat diese Teile zu einem System von schnurgerader, finsterer Fatalität arrangiert.
Nie eine weite Totale, vor der man aufatmen könnte. Bressons Blick ist eng, streng und herrisch. Seine Darsteller (ausschließlich Laien, denn Schauspieler, diese Fratzenschneider, die berufsmäßig Gefühle heucheln, sind ihm ein Graus) bringt er geduldig dazu, sich mit der Neutralität von Automaten zu bewegen und die kargen Dialogsätze ohne Gefühlsausdruck zu sprechen. Sie sind Vollstrecker eines fremden Willens; sie sind keinen Augenblick frei, denn die Kamera folgt ihnen nicht, begleitet sie nicht, sondern ist immer einen Augenblick vor ihnen zur Stelle und bestimmt, was geschehen wird:
Das Bild zeigt eine Schublade und sagt damit schon, daß eine Hand sie gleich öffnen wird, zeigt eine Axt und weiß also bereits, daß der Mörder sie aufheben wird, zeigt ein Weinglas auf einem Tisch und verkündet schon, daß es gleich zu Boden fallen wird: Selbst die Dinge können diesem Blick, diesem Zwang nur noch gehorchen.
Irgendwann, ein Selbstmordversuch ist mißglückt, wird auch das Lamm Yvon zum Wolf unter Wölfen, begeht fortan Mord um Mord und findet erst Ruhe, als er auch den einzigen guten Menschen, der ihm je begegnet ist, umgebracht hat. Doch noch der Mörder Yvon wirkt wie ein Opfer, passiv, geschoben von einem unbegreiflichen Schicksal, das er still und ergeben vollstreckt.
Natürlich ist das eine Passions-Geschichte, wie eigentlich alle von Bresson; doch sie bricht abrupt auf dem tiefsten Punkt der Verzweiflung ab: kein Bild, kein Ton für Umkehr, Hoffnung, Rettung mehr.
Robert Bresson ist Mitte siebzig; »Das Geld« ist, fast fünfzig Jahre nach seinem ersten, sein vierzehnter Film; mit dem Hochmut, dem Ernst und der Unbeirrbarkeit eines Eremiten hat er sein Leben lang daran gearbeitet, das schmutzige Mischmaschmedium Film zu säubern, zu einer »reinen« Kunst der Bilder und Töne zu raffinieren: durch Verzicht.
Am schwersten muß ihm der Verzicht auf die Musik, die rettende Hilfe einer anderen, »reineren« Kunst, gefallen sein. Handke hat (in »Über die Dörfer") beschrieben, wie triumphal die Musik den qualvollen Selbstmord von Bressons »Mouchette« erhöht - diese Stimme der Hoffnung, der erreichbaren Reinheit gibt es in Bressons Filmen nun nicht mehr. Der Mann, der in »Das Geld« auf dem Klavier ein paar Takte Bach anspielt, wird gleich darauf totgeschlagen.
Urs Jenny _(Christian Patey (Yvon) und Caroline ) _(Lang. )
Christian Patey (Yvon) und Caroline Lang.