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KUNST Doufis Zorn

Eine »Skt.-Adolf-Riesen-Schöpfung« wird gesichtet: das Werk des schizophrenen Schweizer Künstlers Wölfli.
aus DER SPIEGEL 43/1976

Er fuhr, im Wahn, »naturvorschend« durch Nord- und Mittelamerika, durch Grönland und durch kosmische Regionen, erblickte »kolossale Rund- und Fernsichten« sowie Riesenfrüchte »mit sprechendem und lachendem Organ«. Er traf »Menschen, Neger, Schimpansen-Affen, Nymphen« und »Gott-Vater«, erlitt »größtenteils riesenhafte Unglücks-Fälle« und schloß einen »Ehebund-Ring« mit 222 Gemahlinnen. Er nannte sich, in seiner Anstaltszelle, »Skt. Adolf II., Groß-Groß-Gott«, aber auch »Bösewicht« und »Adolf Wölfli' unten im Dräk«.

In Aufschwüngen und Depressionen hat dieser Adolf Wölfli (1864 bis 1930) ein klassisches Beispiel gegeben: dafür nämlich, wie eine Seelenkrankheit mit der Steigerung von Ausdruckswillen und Ausdruckskraft einhergehen kann, die, wie bei kunstbesessenen Gesunden auch, einer bedeutungsvoll verrückten Weltsicht zur Gestalt verhilft. So steht die Hinterlassenschaft des armen Irren zur Diskussion -- für deutsches Publikum derzeit in einer Ausstellung der Kestner-Gesellschaft in Hannover**.

Bis in sein 35. Lebensjahr hatte der Schweizer Wölfli keinerlei künstleri-

* In seiner Zelle 1920.

** Bis 21. November: anschließend beim Kunstverein in Stuttgart. Katalog 156 Seiten. 19 Mark.

sche Neigungen an den Tag gelegt. »Armengnössig«, dem Unterhalt und der Ausbeutung durch fremde Leute überlassen, war er herangewachsen, hatte Volksschule, Militärdienst und mehrere unglückliche Liebschaften hinter sich gebracht. Rasch wechselnde Anstellungen als Melker, Landarbeiter oder Totengräber hatten ihm dürftigen Lohn, Notzuchtversuche an minderjährigen Mädchen zwei Jahre Haft eingetragen.

Ein Rückfall in dasselbe Delikt brachte Wölfli dann, 1895, lebenslang in den Gewahrsam der Irrenanstalt Waldau bei Bern; und dort gingen Veränderungen mit ihm vor, die ihn periodenweise

schwer gewalttätig, doch auch anhal· tend produktiv machten.

»Patient vertreibt sich die Zeit mit Zeichnen«, vermerkten die Ärzte, die Wölflis Leiden als Schizophrenie diagnostizierten. Später beobachteten sie, daß er »allerlei konfabulierte Selbstbiographien« niederschrieb oder »stundenlang auf einer zusammengedrehten Papiertüte Melodien« blies, um sie anschließend in Noten festzuhalten. Bei seinem Tod 1930 blieb in Wölflis Zelle ein übermannshoher Stapel von Zeichnungen und Manuskripten zurück -- 44 bis zu 60 Zentimeter dicke Foliohefte, von denen eines freilich schon zu Lebzeiten des Autors einmal »entzweigeborsten« war.

Als schieres Papiergebirge, imposant durch sein Volumen, doch kaum erforscht, war Wölflis OEuvre noch 1972 bei der Documenta in Kassel zu besichtigen. Zwar hatte schon 1921, bahnbrechend, der Psychiater Walter Morgenthaler seinen Patienten im Buch gewürdigt ("Ein Geisteskranker als Künstler"), und Wolfli-Einzelzeichnungen sind längst berühmt. Die systematische Sichtung (und demnächst Publikation) der Nachlaßmasse machte Fortschritte aber erst, seit diese 1975 in eine Stiftung beim Berner Kunstmuseum eingebracht worden ist. Ausgewählte Proben der Schürfarbeit legt die -- aus Bern übernommene -- Hannoversche Ausstellung vor.

Augenfällig präsentiert sich Wölflis Zeichen-Werk als dichtes, flächenfilllendes Gewebe von Ornamentbändern und Schraffuren, zierlichen Häuserreihen und bebrillten Menschen-Figurchen sowie tierähnlichen Versatzstücken (nach Wölflis eigenen Worten: »Schnecke«, »Vögeli«, »Hoptiquags"), schmuckhaft durchwirkt von mancherlei Schrift- und Notenzeilen.

Diese Bild-Teppiche pflegte Wölfli anscheinend willkürlich an einem Rand zu beginnen und doch als überlegen rhythmisierte Komposition über die Fläche auszubreiten. Aufseher, die seine »Fertigkeit im Ziehen gerader Lithien« und den Eifer bestaunten, mit dem er »oft in zwei bis drei Tagen einen Bleistift« verbrauchte, ließen ihn anfangs nur schwarz-weiß etwa auf kaffeefleckigen Papiertischtüchern arbeiten. Später, als sich der Künstler durch Verkäufe an feinsinnige Ärzte eigene Betriebsmittel erwirtschaftete, blühte seine Kunst dank beliebig verfügbarer Farbstifte ins Prächtige auf: eine magische Welt gleichsam zwischen Emmentaler Folklore und indischen Tempelkulten.

Einsichtig aber wird dieser Kosmos nur, wenn man ihn als fortlaufende Illustration zu Wölflis gewaltigem Erzählwerk (nahezu 20 000 Seiten) versteht. Die seltsamen Konfigurationen nämlich stellen überwiegend Ansichten, Pläne und Szenen aus jenen fabelhaften Weltgegenden dar, die der Verfasser als Kind bereist haben wollte. Mit schein-exakten Beschreibungen und Datierungen erstellte er sich eine fiktive Früh-Vita, die ihn selbsttherapeutisch auf doppelte Weise verwandelte: zurück zum schuldlos-geborgenen Klein-Adolf, » Doufi«, und hinauf zum erhabenen »Groß-Groß-Gott«.

Doch die Verstrickung, die sein reales Leben gezeichnet hatte, schlägt auch in Wölflis Kunst-Welt durch. Er sieht sich an einer zweijährigen »Santta-Elisabeth« in der Wiege »eine verhängnisvolle Sünde inszenieren«, er zeichnet sich -- symbolisch mit seinen Opfern identifiziert -- in Mädchenkleidern, bei Todesstürzen und einer »Kreutzigung meiner Wenigkeit«.

Unvermittelt kippt auch Wölflis wortgewaltige, skurril-gravitätische Hochsprache, halb barocker Abenteuerroman, halb gründerzeitliche Jules-Verne-Parodie, in Dialekt und ins Obszöne um -- so bei der Frage, ob denn »Tausende der reizendsten Engel« etwa nicht »g'föglat« werden sollten: »Doch doch. Zu jedem Loch ihh. Hingartzi, Füratzi, Obsi, Nidsi ...«

Dieser um 1916 wesentlich zu Ende erzählten Autobiographie sind auch die Motive späterer Wölfli-Zeichnungen entnommen. Dazu entwarf der Unermüdliche aber, als »Allgebratohr«, in seinen Schriften auch ein originelles Zahlensystem mit unvorstellbaren Höchstgrößen wie »Oberon« und »Zorn«, ferner ein »höchst eigenes Gewichts-System«, alles in allem eine wahre »Skt.-Adolf-Riesen-Schöpfung«.

Er klebte Bildausschnitte aus Zeitschriften in seinen Heften zu Collagen und besang deren Motive in eigentümlichen Lautgedichten. Er komponierte Lieder und Tänze, an deren Notation Musikwissenschaftler noch dechiffrieren, und starb -- deswegen tief betrübt -, ohne seinen nur in rhythmischen Reimen fixierten »Trauermarsch« vollendet zu haben.

So monomanische Wahnsinnsschöpfungen reißen auch vernünftige Wölfli-Kollegen zu Huldigungen hin: Der Ausstellung in Hannover ist eine Hommage« mit Werken von elf Schweizer Künstlern angegliedert. Maschinen-Bildhauer Bernhard Luginbühl, der eine »Salutkanone« beisteuert, hat auch in Bern zu Wölflis Ehren eine 16 Meter hohe Holzfigur namens »Zorn« abgebrannt.

Auf ihre Art, sagt Luginbühl, war diese Feier »das Wahnsinnigste, das man je gesehen hat«.

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