Theater Dräuender Tod
Die Frau lallt und ächzt. Sie ist voller Schnaps und Selbstekel. Ihre Tochter hält ihr den Blecheimer hin. Später schneidet sich die Frau die Pulsadern auf. Welch schöner Theatertod.
Zu erleben an einem kühlen Oktoberabend im mecklenburgischen Waren am Müritzsee. Im tristen Kulturzentrum aus sachlich-sozialistischer Zeit gastiert das Mecklenburgische Landestheater Parchim mit »Sprit«, einem fast 40 Jahre alten, in der Ex-DDR allerdings hochaktuellen schwedischen Jugendstück über Alkoholismus.
Im Zuschauerraum sitzen einige ortsansässige Alkoholiker (trocken) und knapp 80 Schüler (mäßig begeistert). Letztere hatte die Theaterpädagogin der Parchimer Truppe in Warener Schulen angeheuert. Die angekündigte Diskussion stirbt lustlos dahin.
Das gleiche Schicksal droht nun der Parchimer Bühne selbst: Der Landkreis kann sie nicht allein bezahlen, die Förderung aus der Bonner Bundeskasse läuft im übernächsten Jahr aus, und dem Städtchen Parchim fehlt das Geld für den Musentempel.
Einer hat noch nicht aufgegeben. Der neue Intendant Michael Muhr, 44, bis zum Sommer 1990 Chefdramaturg in Oldenburg, kämpft um das Überleben seines Theaters. Mal gibt er sich als Zweckpessimist und liefert krasse Szenarien vom dräuenden Theatertod, mal spielt er den Optimisten und verkündet frohgemut, Parchim bekomme »ein Theater mit Profil«.
Doch Muhrs Strategie scheint aussichtslos. »Wir möchten unser Theater gern erhalten«, beteuert der Parchimer Landrat Andreas Plestinsky, 32, »aber wir können es uns einfach nicht leisten.«
Kaum anders ergeht es Plestinskys Kollegen in Cottbus, Zwickau oder Meiningen. Vor der Wende wurden die DDR-Theater noch zentral finanziert, nun sollen die Kommunen und Kreise dafür aufkommen - doch die sind schon mit anderen, vor allem sozialen Aufgaben überfordert.
Nach westdeutschen Maßstäben sind die Mini-Bühnen im deutschen Osten ohnehin obsolet. Das kleinste West-Theater in öffentlicher Hand steht derzeit im rheinischen Dinslaken: 28 Beschäftigte, darunter 8 Schauspieler, versorgen immerhin 60 000 Einwohner mit Theaterkultur. In Parchim dagegen zählt das Theater noch 94 Mitarbeiter, die Stadt wird jedoch nur von 23 000 Einwohnern bevölkert.
Beim Deutschen Bühnenverein in Köln, der Standesorganisation der deutschen Theatermacher, wird bereits ohne Scheu vom bevorstehenden Theatertod im Osten gesprochen. In der Regel dürften davon die Kleinstädte betroffen sein. 70 Prozent aller Ost-Bühnen spielen in Städten mit weniger als 100 000 Einwohnern, in Westdeutschland wird nur noch jede dritte Bühne in einer Kleinstadt betrieben.
Schon ziehen die ersten Ost-Kommunen die Notbremse. Ulf Großmann, der Leiter des Kulturamts im sächsischen Görlitz, will sein Theater mit den Bühnen in Zittau und Bautzen verschmelzen. Mißlinge dieser Plan, müsse Görlitz spätestens 1993 rund 25 Millionen Mark für sein Theater aufbringen. Großmann: »Das schaffen wir nie.«
Der Parchimer Intendant Muhr will dagegen nicht einmal eine weitere Verringerung seines Personals in Kauf nehmen. Für den Fall einer Subventionskürzung droht er mit Rücktritt. Muhrs Schicksal entscheidet sich schon am Mittwoch dieser Woche. Dann beschließt der Parchimer Kreistag, ob er in Zukunft überhaupt noch eine Mark in das teure Theater stecken will.
Die Anteilnahme der Mecklenburger am Existenzkampf der Parchimer Bühne hält sich in engen Grenzen. Viele Vorstellungen haben kaum mehr als drei Dutzend Zuschauer.
In der Stadt wird das einst von russischen Besatzungssoldaten installierte Theater traditionell als »Faxentempel« mißtrauisch beäugt, zumal es die Parchimer in der Vergangenheit nicht gerade mit großer Kunst verwöhnte. An seiner Bühne strandeten stets die politisch Unbotmäßigen, aber auch Unbegabte und Ausgeflippte. DDR-Intendanten und -Regisseure drohten mit Parchim, wenn sie widerspenstige Schauspieler disziplinieren wollten.
Seit der Wende äußert sich der Unmut der Parchimer über die Theatermacher ungehemmt. Alle paar Tage geht im Theater eine Fensterscheibe zu Bruch, die junge Theaterpädagogin wurde kürzlich mit einer Bierdose beworfen und als »Theaterfotze« beschimpft.
Besonders verstört sind die an leichte Kost ("Frau Luna« mit Fünf-Mann-Orchester) gewöhnten Mecklenburger, seit sie auf Muhrs Bühne mit sperrigen Problemstücken konfrontiert werden. So läßt der Intendant Arthur Millers »Tod eines Handlungsreisenden« ebenso aufführen wie Ernst Barlachs Stück »Der tote Tag« oder, eine Auftragsarbeit, ein Stück zum Thema Ausländerfeindlichkeit (Arbeitstitel: »Golden Girls").
Eric van der Zwaag, 23, West-Mime im ersten Engagement, leuchtet die Muhrsche Spielplan-Sturheit, die auf Unterhaltung weitgehend verzichtet, denn auch ganz und gar nicht ein: »Es gibt genug Dinge, gegen die man Theater spielen kann, nur nicht gegen die Zuschauer.« o