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Judentum Du sollst

Moses Mendelssohn, eine Hauptfigur der jüdischen Emanzipation in Europa, gelangt zu späten Ehren: Rund 200 Jahre nach seinem Tode erscheint die kritische Gesamtausgabe seiner Werke.
aus DER SPIEGEL 17/1972

Es ist nur ein Mendelssohn«, schrieb Immanuel Kant am 18. August 1783, der seine Religion »mit einem solchen Grade von Gewissensfreiheit zu vereinigen gewußt, die man ihr gar nicht zugetraut hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kann«.

Kants Eloge galt Moses Mendelssohn (1729 bis 1786), den sein Freund Lessing als »Nathan der Weise« porträtierte, den Lichtenberg für »den Philosophen des Jahrhunderts« hielt und über den der Heidelberger Professor Georg Nádor vor drei Jahren schrieb: » Moses Mendelssohn war vielleicht der größte Jude, den das deutsche Judentum hervorgebracht hat.« Mendelssohn hoffte auf die Synthese von politischer Emanzipation und jüdischer Treue zur Auserwähltheit eine Idee, die noch »heute im israelischen Staatsgedanken lebt.

Doch erst seit 1971 konnte der Stuttgarter Verleger Günther Holzboog mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft die von der Gestapo 1938 unterbundene Edition aller Mendelssohn-Werke, der Briefe und des Nachlasses neu beginnen*.

Diese erste historisch-kritische Gesamtausgabe bezeugt die Lebendigkeit eines Werkes. das den Juden den Weg

* Moses Mendelssohn; »Gesammelte Schriften -- Jubiläumsausgabc -- Band I: Schriften zur Philosophie und Ästhetik I«. Friedrich Frommann Verlag (Günther Holzboog), Stuttgart: 640 Seiten; 118 Mark.

aus dem Getto in das Zeitalter der Emanzipation gewiesen hat. »Mit Mendelssohn«, so Herausgeber Alexander Altmann, »beginnt die neuzeitliche Epoche der jüdischen Geschichte.« Und Leo Baeck, der letzte große Führer des deutschen Judentums, erklärte 1956: Ohne Mendelssohn »ist das Judentum auch unserer Tage und von Tagen, die kommen werden, nicht zu denken«.

Als Aufklärer glaubte Mendelssohn an die Vernunft, an die Möglichkeit. mit ihrer Hilfe für alle Menschen, also auch für die seit Jahrhunderten unterdrückten Juden, Zustände zu schaffen, die bürgerliche Freiheitsrechte und die Gleichheit aller vor dem Gesetz verwirklichen könnten.

Zugleich glaubte er wie Leibniz an eine natürliche Religion aller Menschen. die auf ewige Vernunftwahrheiten gegründet ist: Die Existenz Gottes und seine Vorsehung, die Notwendigkeit der Tugend und die Unsterblichkeit des Menschen sind »mit einer Schrift in die Seele geschrieben, die zu allen Zeiten und allen Orten verständlich ist«.

Im Judentum entdeckte er die exemplarische Religion der Vernunft. Die Menschheitsbedeutung des Judentums besteht darin: zu zeigen, daß Religion vernünftig sein kann und »keinen Aufruhr der natürlichen Erkenntnis wider die unterdrückende Gewalt des Glaubens« enthalten muß.

Das Judentum, so Mendelssohn, ist keine geoffenbarte Religion. sondern »geoffenbarte Gesetzgebung«. Es hat »Lebensregeln«, aber keine »Lehrmeinungen« » keine »Heilswahrheiten": »Unter allen Vorschriften ... des mosaischen Gesetzes lautet kein einziges: »Du sollst glauben!' ... sondern: »Du sollst tun, oder nicht tun!"«

Hingegen ist das Christentum eine Offenbarungsreligion. Es verkündigt dogmatische Glaubenswahrheiten, die wie die Dreieinigkeit und die Menschwerdung Gottes der natürlichen Vernunft widerstreiten.

Zur Liberalität in Sachen des Glaubens -- und mit ihr bezeugt das Judentum die allgemeine Bestimmung des Menschen zur Mündigkeit der Vernunft -- tritt also die jüdische Besonderheit hinzu: die Offenbarung des Gesetzes.

Als gläubiger Jude forderte Mendelssohn die strenge Beachtung der Zeremonialgesetze, denn in ihnen spiegelt sich die Tatsachen- oder Geschichtswahrheit, daß Gott selbst dem Volke Israel am Sinai Gesetzgeber war.

Das jüdische Volk, und nur es allein, steht also laut Mendelssohn unmittelbar unter dem Gesetz Gottes. Ihm muß es die Treue halten und »alle Schmach, Unterdrückung. Verspottung und Verfolgung ... mit Geduld und Ergebenheit in den göttlichen Willen ertragen«.

Genauso versteht Israels heutiger Außenminister Abba Eban die Lehre vom auserwählten Volk. Als Botschafter seines Landes erklärte er 1955 in der Jüdischen Universität zu New York: »Der Begriff der Erwählung Israels zeugt von Demut, nicht von Anmaßung. Die Auserwähltheit ist eine Bürde und keine Gnade.«

Die Bürde der Auserwähltheit und des aus ihr folgenden Gesetzesgehorsams hielt Mendelssohn für unaufhebbar. »Was das göttliche Gesetz gebietet. kann die nicht minder göttliche Vernunft nicht aufheben«, lehrte er. Er meinte damit, daß alle anderen Völker je nach Zeit und Umständen ihre positiven Gesetze ändern könnten, während das jüdische Volk niemals andere Gesetze gekannt hat als die Gesetze Gottes: »Mir aber hat der Schöpfer selbst Gesetze vorgeschrieben, sollte ich, schwaches Geschöpf, mich erdreisten, nach meinem Dünkel diese göttlichen Gesetze abzuändern?«

Diese von Mendelssohn gelehrte Einheit von Vernunftreligion und Treue zum Gesetz meinte Leo Baeck, als er sagte, von Mendelssohn gehe eine »neue Zeit« für das Judentum aus -- eine Zeit. in der jeder Jude »ganz ein Mensch der Vernunft sein, aber ebenso ganz in der Besonderheit leben« und das Gesetz halten sollte.

Dieser Deutung des Judentums widerspricht der britische Geschichtsphilosoph Arnold Toynbee: Eine Nation könne nicht wie »innerhalb einer sich abschließenden Familie« ihr eigenes Ethos pflegen und zugleich eine »universelle Mission« erfüllen.

Ganz im Geiste Mendelssohns erwiderte Abba Eban in seinem Buch »Dies ist mein Volk« (1968), eben dies Unmögliche habe das jüdische Volk möglich gemacht und zum »Hauptthema seiner Existenz« erhoben: »Es gibt für den Juden kein Heil und keine andere Aufgabe, als nach Hohem zu streben und den eigenen Werten unerschütterlich die Treue zu halten.«

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