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LESEBÜCHER Dunkles Geraune

aus DER SPIEGEL 47/1965

Auf der ersten Textseite besingt

Ingeborg Bachmann »die Flucht vor den Fahnen«, »den Verrat unwürdiger Geheimnisse und die Nichtachtung jeglichen Befehls«, und Heinrich Böll empfiehlt diesen Bachmann-Vers: »Ein schöner Wandspruch für unsere Schulen.«

Im letzten Lesestück - Überschrift: »Ansprache zu Schulbeginn« - rät Erich Kästner deutschen Abc-Schützen: »Mißtraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf dem Berge Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind . . . Man nennt das Tradition.«

Die zwei Texte und noch manch andere Traditionswidrigkeit sind in einem neuen Lesebuch enthalten, das freilich von keinem Kultusministerium geprüft wurde und das den ministeriellen Vermerk »Zugelassen zum Gebrauch in Schulen« wohl nie bekommen wird. Sein Titel: »Versäumte Lektionen«. Seine Herausgeber: Peter Glotz, 26, und Wolfgang R. Langenbucher, 27, beide Assistenten am Institut für Zeitungswissenschaft der Münchner Universität*.

Glotz und Langenbucher sind mit ihrem »polemischen Gegenentwurf« nicht die ersten Kritiker der offiziellen deutschen Lesebücher, in denen oft »die deutsche Sprache zu dunklem Geraune... zurückentwickelt« wird (Glotz/Langenbucher), in denen oft auch die Illustrationen anachronistische und allzu idyllische Menschen- Welt- und Berufsbilder vermitteln und immer noch gute deutsche Menschen, meist Bauern, oft Bayern, ohne Murren ihr Tagwerk tun"zur großen Feier vor dem Ewigen, Unfaßbaren« (Lesebuchtext) und offenbar auch zum Wohlgefallen bundesländischer Obrigkeiten, die diese Bücher approbierten.

Schon vor Jahren hat die bayrische FDP-Abgeordnete. Hildegard Hamm -Brücher im Münchner Parlament eine gründliche Überprüfung bayrischer Lese-, Erdkunde- und Geschichtsbücher gefordert. Da ihr Antrag nie behandelt wurde, machte Frau Hamm-Brücher 1963 eigene Forschungsergebnisse publik. Ihr Studium des bayrischen Lesebuchs für das 5. und 6. Schuljahr ergab beispielsweise: Rund 70 Prozent der Texte sind »bäuerlichen und kleinstädtischen Themen oder Lebensbereichen« gewidmet.

Die Freie Demokratin entdeckte bei Durchsicht von etwa 40 Lesebüchern allenthalben Stücke dieser Art:

- »Deutschland, mit welch gutem, treuem, bescheidenem Menschenstoff bist Du gesegnet.«

- »Willst Du sein ein guter Christ. Bauer bleib auf Deinem Mist! Laß die Narren Freiheit singen! Düngen geht vor allen Dingen!«

Zu ähnlichem Befund kam die Koblenzer Studienrätin Gertrud Bienko, die im Auftrag der Humanistischen Union eine Denkschrift über das bayrisch-katholische Lesebuch »Junge Welt« verfaßte (SPIEGEL 23/1964). Ihr Urteil, ganz im Sinne ihrer Auftraggeber: »Rührselig«, »unredlich«, »Tiefpunkt an abgeschmackter Frömmelei«.

Daß »unsere lernende Jugend durch wirklichkeitsfremde Schulbücher für dumm verkauft wird«, erkannte auch der Jurist Alfred Oberlack. Berliner Büroleiter des Kuratoriums für Technik in der Landwirtschaft, der in seiner Studie »Schulbücher unter dem Dreschflegel« (SPIEGEL 10/1965) darlegte, daß 144 bundesdeutsche Lesebücher vom zeitgenössischen, mechanisierten Landleben so gut wie nichts berichten, dafür aber Blut und Boden romantisieren.

Diesen »Morgenthau-Plan der Literatur«, von deutschen Literaten selber durchgeführt, hatte der bedeutende französische Germanist Robert Minder bereits 1953 verhöhnt. Minder: »Fielen dem Mann vom Mond solche Lesebücher in die Hände, er dächte: Ein reiner Agrarstaat muß dieses Deutschland sein.«

Der Göttinger Literaturwissenschaftler Walther Killy, der 1956 das in sieben Bundesländern verbreitete Oberschul-Lesebuch »Lebensgut« analysierte, fand noch weiteren Grund zur Klage.

Killy entdeckte zwar deutsche Dichter der Innerlichkeit (etwa Rilke, Carossa, Hausmann); Autoren, die das »politische Bewußtsein« schärfen könnten, und Hoch-Literaten wie Lessing, Schiller, Jean Paul, Büchner, Raabe oder gar Kafka jedoch entdeckte er nicht. Killy: »Kein Ministerium hat sich daran gestoßen.«

Kein Ministerium nahm auch daran Anstoß, daß - laut Ermittlung des Pädagogen Wolfgang Schulz vom Berliner Arbeitskreis Didaktik - in 116 bundesrepublikanischen Lesebüchern insgesamt nur zwölf Beiträge der zwölf Schriftsteller abgedruckt sind, die 1933 aus der Preußischen Akademie der Künste geschaßt wurden; die zwölf nachrückenden völkischen Barden dagegen durften 334 Beiträge beisteuern.

Immerhin sind jetzt wenigstens in zwei deutschen Bundesländern - in Baden-Württemberg und Berlin - Kommissionen am Werk, die den Schulbuch-Bestand überprüfen sollen.

Sogar ein Schulbuch-Macher hat sich mittlerweile zu Besserem entschlossen: Im Hermann Schroedel Verlag zu Hannover erschien unlängst ein »Lesebuch 65«. Es enthält Lesestücke von Tucholsky, Brecht, Borchert und Böll, Texte der DDR-Autoren Peter Hacks und Peter Huchel sowie die Grundrechte aus dem Grundgesetz, einen Bericht des Astronauten John H. Glenn über dessen »Start ins Weltall« und einen »Prospekt« über »Einstellung und Bedienung eines Fernsehgeräts"*.

Peter Glotz, Mitherausgeber der jetzt erteilten »Versäumten Lektionen«, urteilte über das »Lesebuch 65": »Ein Schritt in Richtung auf unsere Gegenwart.«

Zusammen mit Langenbucher ist Glotz nun noch einen Schritt weitergegangen. Ihr Nachhol-Pensum von deutschen Prosatexten aus dem 18., 19. und 20. Jahrhundert, die nach französischer Schule auch kommentiert sind, soll nicht nur »Literaturunterricht« geben, sondern endlich »aufklärerische Weltorientierung« ermöglichen.

Viele der einschlägigen Verfasser - etwa Georg Forster, Ludwig Börne, Adolf von Knigge - sind in der Bundesrepublik eben noch dem Namen nach bekannt, manche - etwa der aufklärerische Satiriker Wilhelm Ludwig Wekhrlin - nicht einmal das. Andere wiederum, so Heinrich Heine, werden seit je in den Schulen als intellektuelle und vaterlandslose Quertreiber links liegengelassen.

Doch gerade diese Ostermarschierer der Literaturgeschichte haben es den Editoren angetan. So darf in ihrem tendenziösen Gegen-Lesebuch der Kapitalist Alfred Krupp (1812 bis 1887) nur »Ein Wort an meine Angehörigen« richten; die Kommunisten aus Kruppscher Zeit hingegen kommen zweimal zu Wort: Eine der »Versäumten Lektionen« erteilt Karl Marx, eine weitere Friedrich Engels.

* »Versäumte Lektionen. Entwurf eines Lesebuchs«. Herausgegeben von Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher. Sigbert Mohn Verlag, Gütersloh; 464 Seiten; 16,80 Mark.

* »Lesebuch 65«. Herausgegeben von Professor Dr. Klaus Gerth, Dr. Alfred Blumenthal, Heinz-Günther Pflughaupt, Dr. Ulrich Thiergard. Hermann Schroedel Verlag, Hannover; 384 Seiten; 10,60 Mark.

Deutsche Lesebuch-Illustrationen: »Deutschland, mit welch gutem Menschenstoff bist Du gesegnet.«

Lesebuch-Kritiker Glotz

Ein Nachhol-Pensum ...

Lesebuch-Kritiker Langenbucher

... mit Krupp und Marx

Deutsche Lesebuch-Illustration

»Bauer bleib auf Deinem Mist«

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