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»Dunkles Herz des Sexismus«

Von Erica Jong
aus DER SPIEGEL 52/1991

Gewisse Schriftsteller werden Protagonisten. Bei ihnen vermischen sich Schreiben und Leben zu einem Gesamtmythos, der als Beispiel für ein bestimmtes menschliches Streben dient. Sie werden Helden. Oder Antihelden. Byron war ein solcher Schriftsteller. Puschkin auch. Colette stand für eine Art weibliches Heldentum. Wie George Sand. Und de Beauvoir.

Miller gehört als einziger Amerikaner in diese Runde, und er wird entsprechend in Frankreich mehr verehrt als im eigenen Land. Sein Werk strotzt vor Ungereimtheiten und Bombast, doch die Reinheit seines Beispiels, seines Herzens, seiner Offenheit werden, glaube ich, neue Lesergenerationen an ihn ziehen.

In einer Zeit des Zynismus bleibt er der Romantiker, der in einer gefallenen Welt für die Möglichkeit der Zuversicht steht, der glücklichen Armut in einer Welt, die den Mammon anbetet, jener Fröhlichkeit, die Yeats meinte, als er über weise Chinesen schrieb, »ihre alten, _(y Erica Mann Jong 1991. ) funkelnden Augen blicken fröhlich«.

Ich kannte Henry Miller in seiner letzten Lebensdekade. In mancher Hinsicht war er mein Mentor.

Ich war eine brandjunge Autorin, sehr grün, eine plötzliche Berühmtheit, und er ein sehr alter, in Ruhm und Ablehnung gehärteter Autor, als wir uns - schriftlich - kennenlernten und erst Brieffreunde, dann Freunde wurden. Ich habe das Glück, ihn gekannt zu haben, doch eigentlich habe ich ihn erst nach seinem Tod richtig kennengelernt.

Henry las keine Zeitgenossen, aber er hatte »Angst vorm Fliegen« gelesen und sich in das Buch als weibliche Version seines »Wendekreis des Krebses« verliebt. Er schrieb mir mit ansteckender Begeisterung und brachte mich später mit Verlegern und Übersetzern der ganzen Welt zusammen.

Wir hatten schon ein halbes Jahr korrespondiert - übersprudelnde Briefe über Literatur, Liebe, Sex und Philosophie -, als ich im Oktober 1974 nach Los Angeles kam, um den Weisen von Pacific Palisades zu besuchen.

Ich fuhr in meinem Miet-Buick über den Sunset Boulevard nach Palisades (während der Monate in Los Angeles nahm ich immer den Sunset, weil ich keine andere Straße kannte). Mit einiger Mühe fand ich Henrys Haus, 444 Ocampo Drive, ein unaufdringliches, erhöhtes, weißes Ranch-Haus, das schrecklich bürgerlich wirkte für das Haus eines alten Bohemiens. An der Tür ein Zitat von Menzius: _____« Wenn ein Mensch ein hohes Alter erreicht und seine » _____« Sendung erfüllt hat, dann hat er das Recht, dem Gedanken » _____« an den Tod in Frieden zu begegnen. Er braucht keine » _____« anderen Menschen, er kennt sie schon und hat genug von » _____« ihnen gesehen. Er braucht Frieden. Es gehört sich nicht, » _____« einen solchen Menschen aufzusuchen, ihn mit Geschwätz zu » _____« plagen und ihn Flachheiten erdulden zu lassen. Man gehe » _____« an der Tür seines Hauses vorbei, als wohnte dort niemand. »

Das stand offensichtlich da, um unwillkommene literarische Groupies abzuhalten. Aber Henry war Groupies gegenüber hinreißend ambivalent. Er war einer der geselligsten Menschen auf Erden und neigte dazu, auf seine Konzentration zu pfeifen und just die Besucher einzuladen, die das Schild an der Tür abschrecken sollte.

Ich öffnete die unverschlossene Tür. Twinka Thiebaud, ein schöner Rotschopf, ein paar Jahre jünger als ich, erschien, um mich zu begrüßen; sie war damals Henrys Köchin und Haushälterin.

Ich folgte Twinka durch die Eingangshalle mit der Treppe in ein Zimmer mit einem alles beherrschenden Pingpongtisch, einem Klavier und Millers Aquarellen. Draußen blinkte ein Swimmingpool in der goldenen Oktobersonne. Froh, das Haus heil gefunden zu haben, vibrierte ich in Erwartung meines literarischen Wohltäters.

Ein dumpfer Schlag nebenan in der Halle, wie von Gummi. Henry kam, gebeugt über eine Gehhilfe aus Aluminium, die er vor sich hielt wie einen Schild.

»Hallo«, sagte er mit rauher Stimme, die nach Brooklyn klang. Er trug einen Pyjama und Pantoffeln, einen alten Bademantel _(* Maria de Medeiros und Uma Thurman in ) _("Henry & June« (1990). ) und ein Hörgerät. Ein alter Mann, doch sein Blick war jung.

Wir setzten uns an den Eßtisch, und unser Gespäch begann. Twinka servierte Tee und klinkte sich gelegentlich ein. Ich habe keine Ahnung mehr, worüber wir uns unterhalten haben. Nur noch, daß es eine Verlängerung unserer Briefe war und daß Henry warm und offen war.

Wir redeten den ganzen Nachmittag. Unsere Gespräche setzten sich mit Unterbrechungen fort, bis zu Henrys Tod. Sie konzentrierten sich auf die Zeit, als ich in Malibu wohnte (1974 bis 1976). Manchmal war Twinka dabei, manchmal seine Kinder Val und Tony Miller, manchmal Jonathan Fast und Tom Schiller, manchmal Mike Wallace (der 1974 unsere Gespräche für die denkwürdige Dokumentation »Sechzig Minuten« aufgezeichnet hat).

Wir redeten über Gott und die Welt: Paris in den dreißiger Jahren, Literatur, Mystik, Essen, Leben. Henrys rauhe Stimme, versetzt mit einem sehr brooklynschen »Doncha know«, seine Angewohnheit, hm, hm zu brummen wie ein Mantra, habe ich immer noch im Ohr, während ich dieses schreibe. Ich wünschte es jedem Leser, daß er Henry lesen und hören könnte. Henry war multimedial, das gedruckte Wort allein wird ihm nicht gerecht.

Was Henry besaß, das andere ihm so verübelten, war Ganzheit. Obwohl Alltagsleben und Schriftstellerdasein für ihn keine unbedingte Einheit bildeten, waren seine überbordende Lebenskraft, das Glück, das sein Werk ausstrahlt, in ihm noch sichtbar, als er schon alt und krank war. (Er war zum Beispiel ein furchtsamer Mann, der einen furchtlosen Stil pflegte.) Die Stimme, die er fand, zeigte den Überschwang des Mannes.

Nicht das Sexuelle haßten und fürchteten die Puritaner, sondern diesen Überschwang. Nicht die Zote war anstößig, sondern die Lebendigkeit.

Miller war der widersprüchlichste Charakter: ein Mystiker, der für seine Sexbücher bekannt war, ein Romantiker in Gestalt eines Wüstlings, ein Gelegenheits-Sexist, der Frauen unglaublich stützen konnte, ein scheinbarer Gelegenheits-Antisemit, der Juden liebte und bewunderte und absolut keine Verwendung für Vorurteile und politische Dogmen hatte.

Vor allem aber war er der Autor dessen, was der Dichter Karl Shapiro »Literatur der Weisheit« nannte. Wenn es uns schwerfällt, Millers »Romane« in Kategorien zu pressen, und wir sie folglich unterbewerten und mißverstehen, dann nur, weil wir sie gemäß einer unausgesprochenen Vorstellung vom »gut gemachten Roman« beurteilen. Und Millers Romane wirken eben nicht »gemacht«.

Tatsächlich sind sie Bombast - undiszipliniert und wild. Aber sie strotzen vor Weisheit, und sie haben jene »ewige und unbändige Frische«, die Ezra Pound Zeichen eines echten Klassikers nannte.

Warum sollten wir uns heute mit Henry Miller befassen? Erstens und vor allem, weil Henry Miller immer noch Geheimnisse birgt über den Zustand der Welt und die Richtung, die die Menschheit im 21. Jahrhundert einschlagen wird, und die müssen wir entschlüsseln.

Er war der am wenigsten verstandene Schriftsteller; entweder galt er als Pornograph oder als Guru, als sexueller Sklavenhalter oder als sexueller Befreier, als Prophet oder als Perverser - und keine dieser Ansichten über Miller ist ganz richtig.

Doch ist Miller heute wichtig eben wegen der Fragen, die sein Leben und sein Werk aufwerfen, Fragen zur Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft, zur Wirkung von Büchern auf Sexualpolitik, zur Wirkung von Sexualpolitik auf Bücher, zur drohenden Zensur des gesprochenen und geschriebenen Worts, und, besonders, zur Funktion der Kunst in einer Gesellschaft, die nur noch für geistloseste Unterhaltung oder heimtückische Propaganda Verwendung hat.

Wir sehen unsere Gesellschaft nicht als eine, die die Redefreiheit auf allen Seiten abwürgt; denn das, was wir unter »Reden« verstehen, hat sich verändert - und damit hat sich auch das Wesen der Zensur verändert. Wir haben uns daran gewöhnt, an Bücher, Zeitungen und Vorträge zu denken, wenn wir »Reden« meinen, aber wir vergessen bequem, daß die gigantischen Medienkonglomerate, die alles beherrschen, was uns als »Nachrichten«, »Unterhaltung«, »Politik«, und »Öffentliche Angelegenheiten« vor Augen und Ohren kommt, gleichzeitig kontrollieren, was uns wo zugänglich gemacht wird.

Dieser Zugang wird derart geschickt kontrolliert, daß wir ihn nicht einmal als kontrolliert wahrnehmen. Wir bilden uns ein, die freie Auswahl zu haben. Wir bilden uns ein, selber frei zu sein. In Wahrheit aber leben wir längst in einer Art »Schöne neue Welt«, nahezu vollständig manipuliert durch unsere Vergnügungen und Zerstreuungen und von denen, die sie für uns zusammenstellen.

Die Tatsache, daß wir für diese Manipulation so blind sind, wie unsere Puppenmeister uns haben wollen, wird die einen ärgern, und die anderen werden sie verleugnen. Die beste Manipulation täuscht den Manipulierten die freie Auswahl vor. Wir mögen ja an dieses Angebot glauben, aber in Wahrheit gibt es nur A und B.

Henry Miller hat diese Welt der engen Möglichkeiten und des breiten Mittelmaßes vorausgesehen und lästerte schon vorher gegen sie. Wie viele Propheten - von Jesus bis Savonarola - wurde er Opfer der eigenen Prophezeiungen. Er lästerte gegen Amerikas Sexual-Heuchelei, und er wurde dafür verbannt, verbrannt, unerlaubt nachgedruckt, seines Lebensunterhalts beraubt und von seinen möglichen Anhängern getrennt. Er lästerte gegen den häßlichen Konformismus in Amerikas Umgang mit Nonkonformisten, den Dichtern, den Künstlern, und er wurde Opfer dieses Umgangs.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, daß ihn erst engstirnige Puritaner, dann aufgeschlossene Feministinnen zum Schweigen brachten, die sich sexuelle Ehrlichkeit und Fairneß den Geschlechtern gegenüber zum Ziel gesetzt hatten. Er sollte beides sein, Ausdruck und Beispiel für die Rolle des kreativen Künstlers in einer Welt ohne große Verwendung für eine abweichende Meinung, für Kunst (außer als Ware), für Ehrlichkeit, für jede Art Unterhaltung oder Information, die nicht die Sinne einlullt oder ein Produkt verkauft - von einem Präsidenten über einen Krieg bis zu Blue jeans.

Das Schlimmste daran ist, daß man Einlullen und Verkaufen kaum noch unterscheiden kann. Der klimatisierte Alptraum ist zu unserer wachen Realität geworden - und wir alle wandeln im Schlaf zum Flimmern unserer Fernseh- und Computer-Bildschirme. Henry Miller hat all das prophezeit. Henry Miller hat den Kampf gegen unsere Schlafsucht nie aufgegeben. Henry Miller ist immer noch wichtig, denn er hat immer noch die Kraft, uns aufzuwecken.

In das 100. Geburtsjahr Henry Millers schwappte eine Flut von Material über ihn. Vieles stammt von Leuten, die ihn weder kannten noch ein Gespür für seine pralle Lebenskraft besitzen. In all den Büchern und Zeitungsartikeln über Henry finden sich mindestens zwei Millers: Einer ist der historische Henry Miller - geboren 1891 in New York, gestorben 1980 in Pacific Palisades -, ein Mensch voll vordergründiger Widersprüche und ein leichtes Ziel für die negative Kritik vieler Miller-Chronisten (von Millett über Ferguson zu Dearborn).

Der andere ist Miller, der mystische Held oder Antiheld - dessen Aufbruch ein Symbol für den amerikanischen Künstler ist. Dieser Miller interessiert mich am meisten.

Bekämpft vom Puritanismus, beengt von einer Gesellschaft, in der, wie Saul Bellow sagte, Träumen kein Kinderspiel ist, schafft dieser Miller Raum in Amerika für den amerikanischen Künstler und bricht so auch eine Bahn für uns alle.

Henrys Werk wird oft deswegen mißverstanden, weil es parallel zu seinem Leben verläuft - und doch auch wieder abweicht. Und seit er den Namen »Henry Miller« für seinen mythischen Protagonisten benutzt, finden sich die Leute noch weniger zurecht. In gewisser Hinsicht teile ich als Autorin dieses Schicksal, deswegen verstehe ich es gut.

Obwohl ich meinen Heldinnen nie meinen Namen gegeben habe, fühlten sich meine selbsternannten Richter durch Parallelen zwischen meinem realen und ihrem mythischen Leben oft dazu berufen, meine Bücher anzugreifen, wenn sie mich treffen wollten. Henry war wohl der erste, der diese Parallele zwischen seinem und meinem schriftstellerischen Schicksal erkannte, und deshalb war er ungeheuer nett zu mir.

Schon merkwürdig, daß ausgerechnet Henry »Angst vorm Fliegen« vor dem Vergessen gerettet hat, in dem es sonst versunken wäre. Doch ich glaube an das allgemeingültige Gesetz, daß Kreise sich schließen, und deswegen erscheint es mir wiederum gar nicht merkwürdig, daß ich es bin, jedenfalls zum Teil, die die vielen Widersprüche seines Nachruhms entwirrt.

Ich glaube, Henry Miller ist am besten bekannt für seine schlechtesten Texte - die prahlerisch ausführlichen Sexszenen aus den »Wendekreisen«, aus »Stille Tage in Clichy« und aus »Sexus«. Eigentlich interessieren sie mich weniger als die romantisch-anarchische Naturphilosophie aus »Der Koloß von Maroussi«. Für mich ist »Maroussi« sein zentrales Werk, fest begründet in der Tradition der amerikanischen Transzendental-Romantiker des 19. Jahrhunderts. Es hat das Vollkommene und Reine von Büchern wie »Walden«. Und doch, ohne den Skandal um die »Sex«-Bücher wäre Miller wohl kaum so bekannt.

Daß Miller Transzendentalist war in der ganz eigenen amerikanischen Tradition Thoreaus, Emersons, Dickinsons und Whitmans, wußte er wohl selbst. Er begriff Whitman als Vorfahr und Vorbild. (Er hielt »Maroussi« auch für sein bestes Buch.) Er war ein Mystiker nach Art Mertons und Laotses. Wie viele Befreier, die erst sich selbst befreien müssen, erblickte er im Sex einen Weg zur Selbstbefreiung - den Weg aus dem Körper durch den Körper. Darin unterscheidet er sich nicht so sehr von Whitman oder, entsprechend, von Colette.

Er suchte ständig nach dem »übervollen Leben«, wie er am Ende des »Koloß von Maroussi« schreibt. Sex war ein Weg dorthin, Reisen ein anderer. Und Gespräche, Briefeschreiben und Malen. Er sah die Welt in Begriffen der Fülle, nicht des Mangels, und oft scheint es, daß dieser Unterschied von allen der gefährlichste ist, wo Schriftsteller, wo alle Menschen betroffen sind. Schriftsteller neigen entweder zu freiem Fließen oder zu qualvoller, lakonischer Kürze - Henry Miller steht für das eine Extrem und Samuel Beckett für das andere.

Henry Miller war ein ebenso großer Unterhalter wie Schriftsteller. Er war der Urautor in seiner Urhöhle, der Geschichten erzählt, um seinen Stamm wach und am Leben zu erhalten angesichts der Säbelzahntiger draußen. Wie jeder Schamane arbeitete er mit unterschiedlichen Mitteln: Stimme, Wasserfarbe, Fotos, für die er posierte, Dokumentationen, bei denen er mitwirkte.

In einer Hinsicht antizipierte er Cindy Sherman und andere postmoderne Künstler, indem er seine fotografische Persona für sein Werk einsetzte. In anderer ist er wie Picasso und erfindet sich immer wieder selbst in den verschiedenen Medien und erfindet immer wieder seine Frauen, seine Musen, in den vielen verschiedenen Figuren seiner Bücher. Alle sind Frau oder Muse, so wie Henry, der autobiographische Protagonist, Jedermann ist.

Von ihm als dem historischen Henry Miller zu sprechen, ist falsch; denn hätte er nicht sein Leben über das rein Autobiographische erhöht und zum Paradigma gemacht, würde es keinen Menschen interessieren außer ihm und noch ein paar Feinden, Freunden und Verwandten.

Natürlich hat er viele seiner Eskapaden erfunden - oder übertrieben. Das hat er oft selbst gesagt. »Hast du mal eine Frau mit einer Möhre gefickt?« fragte ihn mein damaliger Mann einmal, als ihm eine bestimmte Textstelle einfiel. »Natürlich nicht«, sagte er.

Aber die Geschichte wurde dadurch besser. Ein echter Schriftsteller tut alles für eine bessere Geschichte, und Henry war ein echter Schriftsteller. Das vor allem - er wollte, daß die Wörter auf den Buchseiten lebten.

Ich werde gefragt, ob ich lieber AnaIs Nin oder June in Millers Leben gewesen wäre. Die Antwort lautet: Nin. Beide waren seine Musen - doch June als seine Ehefrau hatte das kürzere Ende gezogen und Nin, seine Geliebte, das längere. Besser als sonst eine Frau in seinem Leben schien sie zu wissen, wer Henry sei, und sie behielt ihn als einen von vielen Liebhabern, während sie gleichzeitig munter zu ihrem Mann nach Hause ging. In ihrem Leben war Henry die Würze und Eingebung. Schließlich wurde er der nicht erhörte Liebhaber, der sie heiraten wollte und abgewiesen wurde.

Henry ist mißverstanden worden, von Feministinnen wie von Ideologen, denn nach heutigen Maßstäben ist er »politisch nicht korrekt«. Ich meine, daß man einen Schriftsteller so nicht beurteilen darf. Wir können nicht aufhören, Shakespeare zu lesen, weil er Monarchist war, und wir sollten Miller nicht verbrennen, weil er - wie alle Männer seiner Generation - Sexist war.

Immerhin ist er so ehrlich gewesen, in seinen Büchern das dunkle Herz des Sexismus darzustellen. Aber auch ehrlich genug, einer Schriftstellerin zu helfen, die er bewunderte. Er war erstaunlich offen für alle möglichen Erfahrungen. Und diese Offenheit brachte ihn oft in Schwierigkeiten.

Der scheinbare Antisemitismus seiner Briefe und Romane folgt aus dieser rücksichtslosen, unbarmherzigen Ehrlichkeit. Henry benutzt keine Platitüden, über nichts und niemanden. Er haßt Amerika, Deutschland, Frankreich, Christen und Juden gleichermaßen. In seinem Leben ist kein Platz für Ideologie und Dogma - ob politisch oder religiös. Er macht sich gleichermaßen über alle Gruppen lustig.

Am Ende bleibt ihm nur der Weise, der, wie er selbst, jene funkelnden Augen hat, die alles sehen und doch »stets lustig und lebhaft« blicken. Er identifiziert sich mit Rabelais, der sagt: »Für alle deine Leiden gebe ich dir Lachen.« Und er bewundert Abaelard, der dem Leser zum Trost schrieb, sein eigenes Leid sei längst nicht das größte Leid. Miller erklärt: »Was ich tue, geschieht aus reiner Freude; ich werfe meine Früchte ab wie ein reifer Baum.«

Wie Whitman ist er der schräge Dichter-Priester - respektlos, wild und erfüllt mit rauhem Gelächter. Er weiß, daß menschliche Wesen eher Dung als Engel sind und schwelgt in unserer Sinnlichkeit. Doch werden Engel etwa nicht aus Sinnlichkeit geboren? Und wachsen unsere Rosen etwa nicht auf Misthaufen?

Henry Miller ist der Gärtner unseres Geistes. Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag, Henry-san. o *VITA-KASTEN-1 *ÜBERSCHRIFT:

Erica Jong *

war im Jahre 1973 mit einem fabelhaft sexfrohen Roman auf der literarischen Bühne erschienen: »Angst vorm Fliegen«, die »Spontanfick«-Abenteuer der Endzwanzigerin Isadora Wing, alsbald ein Bestseller mit einer Weltauflage von inzwischen zwölf Millionen Exemplaren. Enthusiastisch schrieb Henry Miller, damals 82, das Buch werde »Literaturgeschichte machen«; zumindest begründete es die Freundschaft zwischen Erica Jong und Miller, die bis zu seinem Tode (1980) währte. Erica Jong, 49, Tochter einer Malerin und eines Komponisten, verfolgte das Lustwandeln ihrer Heldin Isadora in zwei weiteren Romanen. Zu Millers 100. Geburtstag, am 26. Dezember, schrieb sie für den SPIEGEL eine Hommage an den Freund; sie arbeitet an einer Miller-Biographie, Titel: »Müssen wir Henry Miller verbrennen?«

y Erica Mann Jong 1991.* Maria de Medeiros und Uma Thurman in »Henry & June« (1990).

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