MATHEMATIK Durchbruch beim Bier
Frank Cole schritt durch die Sitzreihen des Hörsaals auf die schwarze Wandtafel zu. Wortlos malte der Wissenschaftler eine 20ziffrige Zahl in steiler, akkurater Schrift auf die Tafel. Sodann zog Cole mit Kreide ein Gleichheitszeichen, notierte rechts daneben eine neunstellige Zahl, ein »x« als Multiplikationszeichen und daneben zwölf weitere Ziffern. Der Saal - in New York, 1903 - erbebte unter dem Applaus der Kollegen.
Es habe ihn die »Sonntage dreier Jahre« gekostet, bekannte der Mathematiker, die 20stellige Zahl in zwei andere, nicht weitere teilbare Zahlen zu zerlegen. Coles Kreidestreich galt damals als mathematische Sensation: 259 Jahre hatte es gedauert, die 20ziffrige Zahl zu zertrümmern, die der Mathematiker Marin Mersenne 1644 als Primzahl, als nicht weiter zu zerlegende Größe ausgegeben hatte.
Vor drei Wochen nun, am 4. Dezember, zerlegten Zahlenfresser der vornehmlich mit Militärforschung befaßten Sandia National Laboratories in Albuquerque (US-Staat New Mexico) ein Zahlenmonster von 67 Ziffern in seine Bestandteile - ein Forscherteam unter der Leitung des Mathematikers Gus Simmons hatte das Kunststück fertiggebracht.
Doch was ehedem als Telephonbuch-Idiotismus belächelt wurde, rührt nunmehr an den Nerv der Computer-Gesellschaft: Computer-Wissenschaftler, Computer-Nutzer und US-Geheimdienste verfolgen »Factoring«, das Zerlegen astronomisch großer Zahlen in ihre Faktoren, mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Noch vor wenigen Jahren«, so John Brillhart von der University of Arizona, »galt Factoring selbst unter Kollegen als Spielart der Geistesverwirrung.« Doch heute, wundert sich der Mathematiker, »interessieren sich selbst Banker und Geheimdienstler dafür - das entbehrt nicht einer gewissen Ironie«.
Am 14. August 1980 zeigte sich Amerikas geheimster Geheimdienst, die National Security Agency (NSA), erstmals vom esoterischen mathematischen Treiben betroffen. Auf Druck der NSA entzog die National Science Foundation dem Computer-Theoretiker Leonard Adleman vom Massachusetts Institute of
Technology (MIT) zuvor bewilligte Forschungsmittel, weil, wie es hieß, Teile seiner Arbeit die »nationale Sicherheit« gefährdeten.
Mathematiker Adleman hatte, gemeinsam mit seinen MIT-Kollegen Ronald Rivest und Adi Shamir, 1977 begonnen, einen bruchsicheren Computer-Code zu entwickeln - ein Bekanntwerden solcher Codes konnte der US-Sicherheitsbehörde nicht recht sein. Das Geheimnis auf Dauer abzuschirmen gelang jedoch nicht mehr, da sich das Code-Prinzip der Primfaktor-Zerlegung bei Fachleuten herumsprach.
Da Banken und multinationale Unternehmen, Behörden und Versicherungen elektronisch Geld überweisen, Warenströme steuern und sensible Betriebsdaten per Kabel, Funk und Satellit übermitteln, bestand ein allgemeiner Bedarf an derartigen leicht zu handhabenden und zugleich einbruchsicheren Codes.
Rivest, Shamir und Adleman vom MIT zielten mit ihrem »RSA«-Code auf die schwache Stelle elektronischer Rechengewalt, das Factoring: Um den von ihnen entwickelten Code zu brechen, muß ein Zahlenmonster, der Schlüssel zum Code, gleichsam in seine Atome, die »Primfaktoren« zerlegt werden. Wird als Code, so behaupteten die MIT-Forscher 1977, beispielsweise eine 80stellige Zahl gewählt, so sei dieser Verschlüsselungsmethode auch mit Supercomputern nicht beizukommen.
Nun wankt die noch vor sechs Jahren als sicher erachtete Marke. Das Sandia-Team um Gus Simmons benötigte nur 13 Stunden und 42 Minuten, um die 67stellige Zahl zu zerlegen; noch 1981 hatten Mathematiker geglaubt, die Schallmauer für Zahlenzertrümmerei liege bei 50 Ziffern.
Der Durchbruch kam nach dem dritten Pils. Im Herbst vergangenen Jahres traf Simmons den Computer-Ingenieur Tony Warnock beim Bier im kanadischen Winnipeg. Beim Bargespräch erfuhr der Mathematiker, daß Computer des Superrechner-Herstellers Cray in Minneapolis dank besonderer Baueigenschaften geeignet seien, die Rechenzeit der Zahlenbrecher erheblich zu senken.
Ein eleganter mathematischer Dreh und der »Cray-1« der Sandia National Laboratories brachten den Erfolg: Noch vor zwei Jahren hatten Simmons und seine Kollegen nahezu neun Stunden benötigt, um eine 58stellige Zahl zu zerlegen - mittlerweile gelingt ihnen das in knapp zwei Stunden.
Seit Mitte des Monats dürfen die Sandia-Zahlenfresser ihre Fertigkeit auf dem neuesten Cray-Abkömmling, eimem »X-MP«, demonstrieren. Nächstes Ziel, so Simmons, sei es, eine 75stellige Zahl zu knacken.
Daß ein Militärforschungsinstitut kostbare Computer-Zeit für solch scheinbar eitle Rekordjagd bereitstellt, hat gute Gründe. Auch Marvin Wunderlich, Mathematiker an der Northern Illinois University, wird vom Nachrichtendienst NSA großzügig gefördert; er soll sein Factoring-Programm auf einem Nasa-Computer durchspielen.
Bei der Weltraumbehörde nämlich steht seit kurzem ein sogenannter MPP-Rechner ("Massively Parallel Processor"). Er wurde für die Nasa gebaut, um Satellitendaten auszuwerten, und ist ein Vorläufer der Supercomputer der 90er Jahre: 16 384 Prozessoren ermöglichen es, Teile von umfangreichen Computer-Programmen parallel - statt, wie bislang nötig, nacheinander - abzuarbeiten.
»Parallel Processing«, die Möglichkeit, verschiedene Programmschritte zur selben Zeit in verschiedenen Prozessoren bearbeiten zu lassen, soll die Rechengeschwindigkeit von Supercomputern abermals um das Hundertfache auf etwa zehn Milliarden Operationen pro Sekunde steigern. Factoring-Programme, wie Wunderlich und Simmons sie betreiben, sind besonders geeignet, Erfahrungen mit der neuen Rechner-Generation zu sammeln und zu klären, ob sich die neu entwickelte Computer-»Herrlichkeit« bewährt.
Allein die Parallel-»Architektur«, die raffinierte Anordnung und Vernetzung von Computer-Bausteinen, ermöglicht andererseits, mit hochkarätigen mathematischen Problemen in vernünftigen Zeiträumen fertigzuwerden.
Erwünschter Nebeneffekt bei der Zerlegung vielstelliger Zahlen: »Wir zeigen den Geheimdienstleuten«, so umschrieb es Simmons, »wie hoch sie mit ihren Codezahlen müssen, um auf der sicheren Seite zu sein.«