Ein ganzes Leben im Koberlatein
Eine Zumutung. Was dieser Autor (und ebenso sein Verlag) dem Leser zumutet, geht weiß Gott auf keine Kuhhaut mehr. Es ist unverschämt und rücksichtslos. Achthundertsechsundneunzig engbedruckte, großformatige Seiten, doch kaum ein einziger vollständiger Satz, kaum ein Satz, der nicht verkrüppelt, verstümmelt daherkommt. _(Einar Schleef: »Gertrud«. 2 Bände: 392 ) _(und 504 Seiten; Suhrkamp Verlag, ) _(Frankfurt; 32 und 44 Mark. )
Sprachmüll, »Koberlatein«, von einem wirren Kopf produziert, angehäuft und schließlich über die Tage, Wochen, Monate und Jahre verteilt.
Ein Sohn, der Autor, schreibt über seine Mutter. Doch zu lesen ist auch, was eine Mutter über und an und für ihren Sohn zu Papier gebracht hat: »Ich werde aufschreiben, was der Junge immer und immer wieder von mir wissen wollte, wer seine Eltern sind, und ihm mitgeben.« Diese, versteht sich: rein private, Mitgift hat der Sohn, ihr »Filius«, offenbar als öffentliches Erbe verstanden. Ein psychopathologischer Fall, soviel ist sicher.
»Sitze unter einem Schlag betäubt, die Arme ausgestreckt versagen, bleiben in der Luft, senken sich selbst, brauche nur nachzugeben. Dann berühren sie den Stoff, schon zitterts in den Fingern, das neue Kribbeln, Kratzen, Schubbern, wollen wieder keine Ruhe geben, sich entschuldigen, daß sie nicht festhalten können, Scharren, den Kopf gesenkt, Wimmern, sie haben erneut nachgegeben, ich weiß es längst, aber auch die Gedanken verlassen mich, muß meine Augen schützen, schließen, damit ich langsam verdaue. Die Sprache rülpst mir von unten, steigt Luftröhre hoch, knödelt und will sich erbrechen. Zusammenhängende Wörter, ich muß den Mund weit aufmachen oder runterschlucken. Damits weiter gärt bis zum nächsten Kurzschluß.«
So geht das Seite um Seite, Tag für Tag, Jahr für Jahr. »Im Gehirn frißt ein Loch, fühle die Stelle, wächst tiefer.« Schon die einfachsten Fragen, ob es sich hier um ein Tagebuch oder einen Briefroman handelt, lassen sich kaum entscheiden. Sicher fixierbar ist nur dieser monotone, endlos unaufhörliche Monolog der alternden, schließlich alten und einsamen Frau.
Ihr Mann Willy, ein Bauleiter und Architekt, war krank aus dem Krieg nach Hause gekommen, krank geblieben und früh, im April 1971, gestorben. Beide Söhne, aus der DDR abgehauen, sitzen im Westen, der eine, weit jüngere, unser Autor, einst in Ost-Berlin Bühnenbildner und Regisseur, lebt und schreibt jetzt in West-Berlin.
Gertrud, die Mutter, krank, alt, einsam, bleibt allein in Sangerhausen zurück - und schreibt, fast täglich, über zehn Jahre lang, von 1970 bis 1980, von ihrem Leben, den Krankheiten, der Einsamkeit, von den kleinen Leiden, den Beschwernissen des Alters, ihrem »Bein« und immer wieder ihrem »Bein«, von ihren bescheidenen Hoffnungen ... auf Post und auf einen Paß, das Visum für eine Reise in den Westen.
Sie schreibt von ihrer Familiengeschichte, vom Gerichtsschreiber Müller, ihrem Großvater, von Heckrot, dem Schwerathleten, und Henning, dem Leichtathleten, ihren früheren Liebhabern; sie schreibt von Mythen und Sagen, der Kyffhäuser liegt vor der Tür, von deutscher Geschichte und zugleich von ihrer Altersgeilheit und der Bosheit, die sie mit den Jahren entwickelt: »Nachbars hatten ein Meerschweinchen, das kroch den ganzen Tag im Garten rum, ich habe es erlöst, einer meiner Blumentöpfe fiel runter, Du nimmst mir das doch nicht übel. Ersatz leisten, wer bin ich wer, zur Bestattung einen alten Schuhkarton gestiftet basta.«
Ein, ohne Zweifel, ebenso monotones wie monomanes Unterfangen. Besessen in jeder Hinsicht. Es gibt nur wenige Passagen, die zaghaft einen kleinen, dünnen Handlungsfaden auslegen: die verrückte Liebesgeschichte der alten _(Photographien aus Schleefs Photoband ) _("Zuhause«. ) _(Photographien aus Schleefs Photoband ) _("Zuhause«. )
Gertrud mit einem verheirateten jüngeren Mann; eine seltsame Schweiz-Reise unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Ansonsten: Inventur.
Die Erinnerungen, die dieses halbverkalkte Hirn gespeichert hat, werden (ungeordnet) ausgeschüttet und verstreut: Die Schwierigkeiten mit dem Stuhlgang, die Schmerzen im Bein, die frühen Erfolge in der Leichtathletik, die tagtägliche Anstrengung, aus dem Bett zu kommen, überhaupt nur aufzustehen, die Rückblenden auf Wanderungen und Ausflüge und auf die versäumten Gelegenheiten, auszubrechen, den ganzen Schlamassel stehen- und liegenzulassen. Alles geht, wie im Kopf von Gertrud, kreuz und quer, chaotisch durcheinander.
Es ist (fast) unvorstellbar, was Schleef auf diesen beinahe neunhundert Seiten an Details, Nichtigkeiten und Banalitäten ausbreitet. Jeder Versuch, in dieses Chaos auch nur eine grobe, vorläufige Ordnung hineinzubringen, muß hoffnungslos scheitern. Schleefs »Jahrestage« (seiner Gertrud) folgen keiner Chronologie, sie wirbeln Zeiten und Fakten, Vergangenheit und Gegenwart konsequent durcheinander.
Jeder Abschnitt setzt gleichsam wieder von vorn an. »Ich lese Wort für Wort nacheinander, mein Gehirne streikt, endlich gemerkt, wer sich weigert erinnern.« Höhepunkte und Niederschläge dieses Lebens, Euphorie und Depression sind auf Stummelsätze verteilt und in den zähen Fluß des Monologs eingeflossen. Doch diese Monomanie erzeugt einen Sog, der immer mächtiger wird. Je mehr man sich auf die Sprachbewegung einläßt, desto deutlicher lassen sich einzelne Strömungen erkennen, Unterströmungen schließlich.
Im Gebrummel der alten Frau wird plötzlich eine Melodie hörbar, die ihren Rhythmus verändert. Da klingt etwas nach: die Müdigkeit des Alters, das allmähliche Absterben der Gefühle, die Härte hinter den Gedankenfetzen. Und am Ende wird sichtbar, daß sich das Chaos zwar keiner anderen Ordnung, aber einer genauen Konstruktion verdankt. Es bleiben: neunhundert Seiten Geschwätz, doch kein einziges Wort dieses Geschwätzes ist überflüssig.
Dieser breite, zähe Sprachfluß, der unterschiedslos alles mit sich führt, spült schließlich unsere herkömmliche Vorstellung von Geschichte weg. Geschichte löst sich in Dinge und Empfindungen auf, in Stimmungen und Gegenstände, wird sinnlich und greifbar auf weite Strecken zur Leibesgeschichte einer Frau. »Meine Kindheit fiel ins Kaiserreich, der Sportplatz in die Weimaraner, die Ehe auf Hitler unds Alter in die DDR. Wohin mein Kopp. Viermal Deutsches Reich, das 5. ist 2 Meter lang.«
Der Anspruch, mit dem zum Beispiel die Gestalten Martin Walsers, diese boden(see)stämmigen Zürns und Horns ebenso bescheiden wie elegant antreten, nämlich eine Geschichtsschreibung des Alltags zu liefern, dieser Anspruch wird von Einar Schleef unterlaufen und überboten. Schleefs »Gertrud« ist ein gesamtdeutscher Roman und ein Roman der deutschen Teilung. Er ist Heimatliteratur, eine Stadtgeschichte von Sangerhausen, dem Geburtsort des Autors: »Nie mehr zurück, das verwinden, fliehen bis man ein eigenes Zuhause hat, was einen erstickt und auffrißt«, heißt es
in Schleefs Photoband »Zuhause« _(Einar Schleef: »Zuhause«. Suhrkamp ) _(Verlag, Frankfurt; 132 Seiten; 34 Mark. ) _((Mit 100 Photographien aus den Jahren ) _(1970 bis 1975, die der Autor selbst ) _(aufgenommen hat.) )
und könnte auch ein Motto der beiden »Gertrud«-Bände sein.
»Gertrud« beschreibt kein typisch deutsches Schicksal, das irgendwie und irgendwo exemplarisch wäre, sondern das Leben von Gertrud Hoffmann, in ihrer besonderen Sprache, dem »Koberlatein«, das in der Überlieferung von Sangerhausen, in den Köpfen der alten Leute aufbewahrt ist.
Die Besessenheit, mit der Einar Schleef schreibt, war stets eine Erkennungsmelodie großer Literatur. Jeder Versuch, solche Literatur auf ihre psycho-pathologischen Motive zu bringen, läuft an der Rigorosität dieser Werke auf. Mit »Gertrud« hat sich Einar Schleef einen Platz in dieser Literatur erschrieben, und zwar ziemlich genau in der Mitte zwischen Uwe Johnson und Samuel Beckett.
Der gewaltige Wälzer bleibt eine Zumutung. Die Lektüre zahlt sich nicht einmal in griffigen Formeln, transportfesten Einsichten, neuen Informationen aus. Dafür bleibt etwas anderes zurück: ein ganzes Leben - im Koberlatein der Geschichte geschrieben.
Einar Schleef: »Gertrud«. 2 Bände: 392 und 504 Seiten; SuhrkampVerlag, Frankfurt; 32 und 44 Mark.Photographien aus Schleefs Photoband »Zuhause«.Photographien aus Schleefs Photoband »Zuhause«.Einar Schleef: »Zuhause«. Suhrkamp Verlag, Frankfurt; 132 Seiten; 34Mark. (Mit 100 Photographien aus den Jahren 1970 bis 1975, die derAutor selbst aufgenommen hat.)