Hoimar v. Ditfurth über B. F. Skinner: "Jenseits von Freiheit und Würde" Ein gespenstisches Rezept
Alfred Kerr hat geschrieben, daß die Arroganz zum Journalisten gehöre wie der Plattfuß zum Oberkellner. In dieser knappen Formulierung ist die Erkenntnis enthalten, daß das Risiko berufsspezifischer Schäden nicht auf die Möglichkeit körperlicher Deformierungen beschränkt ist.
Selbstverständlich gilt das auch für den Wissenschaftler. Anstelle von Arroganz oder Plattfuß droht ihm die Versuchung, den auf ein Skelett meßbarer Beziehungen reduzierten Gegenstand seiner Untersuchungen für die Wirklichkeit selbst zu halten. Was passieren kann, wenn er dieser Versuchung erliegt. zeigt das Buch Skinners mit seltener und lehrreicher Deutlichkeit: Der berufsspezifische »Sündenfall« des bedeutenden amerikanischen Psychologen gipfelt in einem Totalrezept für die Leiden der Menschheit, das »wissenschaftlich begründet« ist, sich gleichwohl aber auf eine im doppelten Sinne des Wortes gespenstische Wirklichkeit bezieht. Wie konnte es dazu kommen?
Die Instrumente der Wissenschaft greifen nur an den Eigenschaften der Welt, die auf irgendeine Weise meßbar sind. Was sich nicht in Zentimetern. Gramm oder Sekunden ausdrücken läßt, in Ladungen, Feldstärken oder mit der Hilfe anderer quantitativer Größen, bleibt der wissenschaftlichen Methodik unfaßbar.
Nun ist es kein Geheimnis, daß die verschiedenen Eigenschaften dieser Welt dem messenden Zugriff der Wissenschaft nicht in gleichem Maße zugänglich sind. An diesen Unterschieden liegt es, daß wir über das Innere des Atoms bis heute mehr in Erfahrung gebracht haben als über das Innere unseres eigenen Seelenlebens. Angestachelt von den spektakulären Erfolgen ihrer Kollegen. die es in der Physik. der Chemie und anderen »exakten« Fächern leichter hatten, haben die Psychologen gewaltige Anstrengungen unternommen. um mit dem Handicap der »Nichtquantifizierbarkeit psychischer Phänomene« fertig zu werden. Einer der bedeutsamsten und erfolgreichsten Ansätze zur Überwindung des Problems wird durch die »behavioristische Psychologie« gebildet, zu deren modernen Protagonisten Skinner gehört.
Der von dem Amerikaner John B. Watson kurz vor dem Ersten Weltkrieg begründete Behaviorismus verzichtet konsequent darauf, über psychische Vorgänge wissenschaftlich überhaupt etwas auszusagen: Er stellt den Versuch einer »Psychologie ohne Psyche« dar. eine Psychologie. die ausschließlich das objektiv beobachtbare und daher meßbare Verhalten (amerik. behavior) des untersuchten Lebewesens berücksichtigt.
Wenn ein Hund, von seinem »Herrchen« ausgeführt, Luftsprünge macht, bellt und sich im Kreise dreht, meinen wir in aller Unschuld, daß das Tier »sich freut«. Skinner aber und alle anderen modernen Verhaltensforscher würden uns sofort widersprechen. Mit vollem Recht, denn niemand von uns kann wissen, was in dem Tier wirklich vorgeht. Man braucht bloß daran zu denken, wie unvorstellbar anders der Weg, den Herr und Hund gemeinsam zurücklegen, sich in dem auf eine Welt aus Gerüchen spezialisierten Bewußtsein des Tieres widerspiegeln muß, und umgekehrt. wie viele der Aspekte und Horizonte. welche die »Freude« eines Menschen in dieser Situation ausmachen, dem Tier fehlen. Daß Herr und Hund auf ihrem Weg auch »Ähnliches« erleben, wird niemand bestreiten, selbst Skinner nicht. Für eine wissenschaftliche Untersuchung hündischen Verhaltens ist das aber eine viel zu unbestimmte Angabe.
Wie bekommt man einen Hund wissenschaftlich in den Griff, dessen »Psyche« uns unzugänglich bleibt? Der Verhaltensforscher gibt die Antwort: dadurch, daß man das ohnehin nicht Feststellbare außer Betracht läßt und sich auf das konzentriert, was objektiv beobachtbar ist. Anstatt unbeweisbare Spekulationen über psychische Vorgänge anzustellen, beginnt der Wissenschaftler folglich, das Verhalten des Hundes in seine meßbaren Bestandteile aufzulösen.
Da wird nicht nur registriert, wie oft der Hund wie hoch in die Luft springt. Da werden nicht nur die Lautäußerungen des Tieres aufgezeichnet und schallspektrographisch analysiert. Da werden auch die Veränderungen des Blutdrucks. die schwankende Weite der Pupillen. Herzfrequenzen und Darmbewegungen mit der gleichen minuziösen Genauigkeit registriert und verfolgt wie die Ausschüttung bestimmter Hormone und die Veränderung der elektrischen Hirnaktivität. Die Aufgabe ist schier endlos. Aber sie ist, so scheint es. grundsätzlich lösbar: »Der Hund, der sich freut«, verwandelt sich auf diesem Wege langsam aber sicher in ein ganz bestimmtes, sehr kompliziertes Muster unzähliger physiologischer Daten.
Jetzt haben die Forscher wieder festen Boden unter den Füßen. Den Erfolg ihrer Bemühungen messen sie, wie in der Wissenschaft üblich, an der Vorhersagbarkeit ihrer Resultate. Mit Befriedigung stellen sie fest, daß das von ihnen herausgearbeitete Verhaltensmuster mit einer statistisch angebbaren Zuverlässigkeit beim Vorliegen bestimmter Umweltreize auftritt. Damit ist ihre Aufgabe beendet. Von der »Psyche« des Tieres war in der ganzen Zeit nicht mehr die Rede.
Das wissenschaftliche Abbild des Hundes, den wir auf der Straße spielen sahen, ist blutleer wie ein Gespenst. Dennoch ist die Methode legitim. Der Wissenschaft bleibt gar nichts anderes übrig, als sich ihrer zu bedienen. Bis dahin ist also alles in Ordnung. Und die Erfolge der Methode waren bekanntlich gewaltig, nicht nur im Falle des Atoms. sondern auch im Falle des Hundes und anderer Lebewesen. Der auf wissenschaftliche Daten reduzierte Hund ist zwar nur noch ein Gespenst des realen Hundes, jedoch ein Gespenst, das sich zur Freude der Behavioristen vorhersehbar verhält. Die meisten Erkenntnisse der modernen Verhaltensforschung verdanken wir dieser Methode.
Skinner jedoch begnügt sich damit nicht. Er überschreitet bewußt und entschlossen die Grenze von der Methode zur Ideologie. Das beginnt damit, daß er dem, was er Luvor aus methodischer Notwendigkeit ausschließen mußte, die Existenz abspricht: der psychischen Dimension. Real ist nur das beobachtbare Verhalten, wirklich sind nur die von der Umwelt ausgehenden »punitiven« (abschreckenden) oder »verstärkenden« (belohnenden) Reize. die dieses Verhalten steuern. Alles andere, so versichert Skinner, ist bloße Illusion. Es ist der vollendete Sündenfall eines Wissenschaftlers: Das wissenschaftliche Abbild hat die Wirklichkeit verdrängt.
Aber auch das ist noch nicht alles. Skinners Buch ist ein Plädoyer für die Einbeziehung auch des Menschen in die neue, vom Autor verkündete Wirklichkeit. Skinner meint es gut mit uns. Er sieht die Übel dieser Welt, an denen in der Tat kein Mangel ist, und er führt sie, auch dabei werden nur wenige widersprechen, auf die Irrationalität menschlichen Verhaltens zurück. Im Ordnen von Verhalten aber, in der Kunst. eine Konstellation von Umweitreizen zu konstruieren, die geeignet ist, »ordentliches«, vorhersehbares Verhalten zu bewirken, in dieser Kunst fühlt der Autor sich mit Recht als Meister. Was also, so fragt er rhetorisch, sollte uns daran hindern, auch das menschliche Verhalten mit der bei Ratten, Tauben und Hunden so überaus bewährten Technik behavioristischer Manipulation zu ordnen?
Spätestens an dieser Stelle ist der verblüffte Leser geneigt, protestierend auf den Umstand zu verweisen, daß die behavioristische Verhaltenstechnologie nach eigener Angabe unter totaler Negierung aller psychischen Abläufe verfährt. Bei der Verwandlung eines Hundes in eine leere Hülle sichtbarer Verhaltensweisen hatte er tatenlos zusehen müssen -- auch wenn ihn starke Zweifel beschlichen -, denn zur »Psyche« eines Hundes hatte er keinen Zugang. Im Falle des Menschen jedoch scheint ihm der Fall anders zu liegen.
Ist er. der Leser, sich der Existenz seiner eigenen Psyche nicht auf die unmittelbarste Weise bewußt? Kann man es ihm verdenken, wenn er unter diesen Umständen zögert, dem Skinnerschen Rezept zur Beseitigung der Übel dieser Welt vorbehaltlos zuzustimmen?
Skinner ficht der Einwand wenig an. Es gibt zwar, er will es gar nicht leugnen. so etwas wie ein menschliches Bewußtsein. Wenn man die Dinge jedoch richtig betrachtet, und das heißt bei Skinner allemal: durch die Brille des ideologischen Behaviorismus, dann erkennt man schnell, daß auch der Mensch in Wirklichkeit so total von Umweltreizen gesteuert wird, daß seine psychischen Erlebnisse als bloße Nebenerscheinungen, als ein sein umweltgesteuertes Verhalten lediglich begleitendes Phänomen vernachlässigt werden können.
Der »autonome Mensch«, der entscheidet und wertet, der seine Freiheit und seine Würde verteidigen zu müssen wähnt, ist in Skinners Augen eine bloße Fiktion. Eine inhumane Fiktion noch obendrein, denn sie hält den wahren Fortschritt auf, den die weltweite Einführung einer biologischen Verhaltenstechnologie herbeiführen würde.
Wie das konkret zu geschehen hätte, welche » »Umweltreize« als positiv zugelassen und welche anderen eliminiert werden müßten, das allerdings sagt der Autor nicht. Ganz ohne Zwang jedenfalls würde sich das Glück der Menschen wohl auch mit dieser Heilslehre kaum herbeiführen lassen. Aber was tut's? Skinners schöne neue Welt soll sich ohnehin nur mit umweitgesteuerten homunculi füllen, die daran keinen Anstoß nähmen.
Das Ganze ist so aberwitzig, daß die Frage gestellt werden könnte, ob es sich denn lohnt, den Skinner'schen Vorschlag und seine theoretischen Voraussetzungen so eingehend unter die Lupe zu nehmen. Es lohnt sich, aus zwei Gründen: Daß des Autors Rezept uns gespenstisch erscheint, schließt die Möglichkeit nicht aus, daß sich eines Tages jemand berufen fühlen könnte, es in die Tat umzusetzen. Und: Obwohl das Buch in einem fürchterlichen Spezialjargon geschrieben ist (Heilslehren jeglicher Couleur entwickeln stets ihr eigenes Insider-Idiom), wurde es in den USA zum Bestseller.