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POLEN Ein Huhn schlachten

aus DER SPIEGEL 46/1966

Auf den Hinterbänken im philosophischen Hörsaal der Warschauer Universität erhob sich Widerspruch, doch der dröhnende Beifall der Mehrheit übertönte die Zwischenrufe. Der junge Professor Leszek Kolakowski, Philosoph, Essayist und Theaterschriftsteller, hatte die geistige Misere Gomulka-Polens ohne Umschweife und frontal angegriffen.

An die Hoffnungen erinnernd, die Polens Intellektuelle vor einem Dezennium entflammten, als die jahrelang durch Stalin geschundene Nation den aus dem Gefängnis geholten Wladyslaw Gomulka als Befreier bejubelte, zog Kolakowski eine düstere Bilanz: Alle Hoffnungen von damals, alle Hoffnungen zumal auf mehr Freiheit, seien enttäuscht worden.

Wenige Tage später, Ende vorletzter Woche, feuerte Zenon Kliszko, Kultur -Zensor der »Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei«, den aufsässigen Denker aus der Partei.

Der Vorfall in der Warschauer Universität demonstrierte einmal mehr den Zwiespalt, der Polens Politik und Geistesleben seit der Entstalinisierung 1956 durchzieht: der Zwiespalt zwischen der staatspolitisch unumgänglichen Rücksichtnahme auf das konservativ-kommunistische Rußland einerseits und Cen geistigen Überlieferungen andererseits, die Polen mit dem Westen verbinden.

Der Vorfall demonstrierte darüber hinaus aber auch die intellektuelle Zerrissenheit des Weltkommunismus von heute - nämlich den Konflikt zwischen der alt-marxistischen russischen Position, wonach der Einzelmensch nicht viel mehr als eine Funktion der »Gesellschaft« sein soll, und der neo-marxistisch westlichen Richtung, die dem Einzelmenschen mehr Platz einräumen will.

Seit mehr als zehn Jahren steht Kolakowski mitten in diesem Konflikt. Geboren 1927 in Radom, während der deutschen Besetzung in einem Untergrund-Gymnasium zur Schule gegangen, machte er sich nach 1945 als begeisterter Stalinist, wie er später gestand, daran, den Erzfeind des Kommunismus, die katholische Kirche und deren Philosophie, die Scholastik, zu attackieren. Beim Studium der mittelalterlichen Philosophie stieß er jedoch unversehens auf Parallelen zwischen dem katholischen mittelalterlichen Dogmatismus und dem Stalinismus.

Bereits ab 1956 arbeitete er an einem Essay-Band (in Deutschland 1960 unter dem Titel »Der Mensch ohne Alternative« erschienen), in dem er die »Enttotalisierung der Ideologie« empfahl. Es gebe, provozierte er in einem Essay die Russen, keine Lehrsätze, »die man nicht der Kritik, der Diskussion und der Revision aussetzen darf«.

Unter dem Druck aus Moskau stehend, mußte Gomulka 1957 den renitenten Denker verwarnen. Doch die Russen waren nicht befriedigt. Ein Artikel in der »Prawda« beschuldigte den lungenkranken Kolakowski, ein polnischer Imre Nagy, zu sein. Schließlich entzog der taktisch gerissene Gomulka den Philosophen und sich selbst den ständigen russischen Quängeleien: Er ließ Kolakowski nach Holland und Frankreich reisen.

1958 kehrte Kolakowski nach Warschau zurück. Gomulka versuchte sich mit dem unbequemen Philosophen zu arrangieren: Kolakowski erhielt eine Professur und die Mahnung, auf Polens Lage zwischen der Sowjet-Union und dem revanche-lüsternen Deutschland Rücksicht zu nehmen.

Professor Kolakowski honorierte die Mahnung, indem er 1962 seine direkte Kritik in zweideutigen Spott verwandelte. In einem Theaterstück ("Eingang und Ausgang") machte er sich über den allwissenden Apparat des marxistischen Staates lustig. Das Stück wurde nach vier Aufführungen auf Befehl des ZK abgesetzt und Autor Kolakowski wegen »Abweichung« gemaßregelt.

Zwei Jahre später revanchierte sich Kolakowski auf die ihm eigene ironische Weise: Er schilderte in einer Nacherzählung altbiblischer Geschichten die Tyrannis Jehovas über die Kinder Israel derart, daß Jehova unschwer als Stalin oder Gomulka verstanden werden konnte (siehe SPIEGEL 28/1965).

Gomulka ließ die erste Auflage durchgehen, für die zweite fand sich in seinen Magazinen kein Papier.

Überhaupt sind Gomulkas Reaktionen auf Kolakowskis Attacken gegen sein Regime durch eine Eigenschaft gekennzeichnet, die Kolakowski selbst als die höchste menschliche Tugend rühmt: durch Inkonsequenz.

Kolakowski, der in seinen philosophischen Schriften den »Narren« und den »Priester« als die repräsentativen Gegenspieler der menschlichen Gesellschaft begreift (und für sich selbst die Rolle des Narren in Anspruch nimmt), sieht in der Inkonsequenz, in der Absage an den dogmatischen Fanatismus, die Hoffnung allen menschlichen Zusammenlebens. Er schätzt die Menschen, die »ohne Bedenken Koteletts verspeisen, für die es aber unmöglich wäre, ein Huhn zu schlachten«.

Gomulka verzichtete auch vorletzte Woche darauf, konsequent zu sein: Er warf Kolakowski aus der Partei und ließ ihm seinen Lehrstuhl.

Gerügter Philosoph Kolakowski

Lieber Narr als Priester

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