Buchmesse Ein Lächeln aus Beton
Bertolt Brecht, zeitlebens ein großer Verehrer Chinas, sagte es so: »Das Schlimmste ist nicht: Fehler haben, nicht einmal sie nicht bekämpfen ist schlimm. Schlimm ist, sie zu verstecken.«
In einem klobigen Lobby-Sessel des Pekinger Kempinski Hotels sitzt eine aparte Frau in einer eleganten schwarzen Bluse. Sie heißt Tie Ning und ist die Chefin des chinesischen Schriftstellerverbands, Gebieterin über 8920 vom Staat unterstützte Autorinnen und Autoren. »Zensur? Welche Zensur?«, fragt sie. »Künstler genießen große Freiheiten in China.« Und: »Wir freuen uns enthusiastisch auf den offenen Meinungsaustausch, der in Frankfurt stattfinden wird.«
Das kann eine heitere Buchparty werden. Mit einer offiziellen Delegation mit exakt 100 Autoren und dazu über 1000 Funktionären und Verlagsmanagern treten die Chinesen diese Woche auf der größten Buchmesse der Welt als Ehrengast an. Es soll ein »kritischer Dialog« werden, versprechen die Frankfurter Organisatoren.
In Peking sagt die strenge Frau Tie, die offenbar nie davon gehört hat, dass in China Jahr für Jahr rund 600 Bücher verboten werden: »Man muss sich an Gesetze und Regeln halten und darf zum Beispiel keine nationalen Minderheiten beleidigen. Das ist alles.« Dann drückt Tie Ning den Rücken durch, rückt die große silberne Brosche auf ihrer Bluse zurecht und zeigt ein Lächeln aus Beton.
Tie Ning ist 52 Jahre alt. Früher hat sie durchaus geachtete Romane geschrieben, einer heißt »Rosentor« und erzählt von den Schrecken der Kulturrevolution, von Zeiten, in denen, wie sie selbst sagt, »alle Menschlichkeit zerstört war«.
Auf der globalen Meinungs- und Pressefreiheit-Rangliste von »Reporter ohne Grenzen« steht die Volksrepublik China derzeit auf Platz 167 von 173. Mindestens 40 Journalisten und Schriftsteller sitzen im Gefängnis. Folter und Misshandlung seien »weit verbreitet«, sagt Amnesty International. Umweltschützer werden von Staatssicherheitsleuten beschattet. Schon ein Protestbanner für die Rechte der Tibeter und Uiguren kann den, der es entrollt, auf Jahre hinter Gitter bringen. Auf den Millionen Computern des Wirtschaftswunderlands kann an vielen Tagen nicht einmal Facebook aufgerufen werden, weil die Seite mal wieder blockiert ist. Das alles ist bekannt und traurig genug.
Und doch stößt man im Land auf eine oft erstaunliche Aufmüpfigkeit. Viele Chinesen empfinden die Repressionen des Staats keineswegs so schlimm wie der Westen.
In einer schnieken Agentur an Pekings dritter Ringstraße kann man einen schmalen, jungen Burschen treffen, den sie hier als hippen Erfolgsdichter bejubeln, als Popstar der jungen chinesischen Literatur, und er macht keinesfalls den Eindruck, als ob ihn irgendetwas bedrückt an dem, wie es sich leben lässt im modernen China.
Guo Jingming ist 26 Jahre alt, aber dünn wie ein Zehnjähriger. Die Haare sind nach vorn gekämmt und toupiert, er trägt Rouge auf den Wangen und einen Ringelpulli sowie weiße Tennisschuhe. Er schreibt, seit er 18 ist, und ausschließlich über das, was ihn wirklich bewege, sagt er, sein Leben und seine Liebe. Das klingt zum Beispiel so: »Du zeigtest mir eine Träne, und ich sah die Ozeane in Deinem Herzen.« Sein aktuelles Buch heißt »Tiny Times«.
Guo Jingming besitzt Appartements in Peking und Shanghai. Er fährt in der Hauptstadt einen Cadillac und in Shanghai einen Mercedes der S-Klasse, genauer: Er lässt sich fahren. Er verdient mehr als die meisten Autoren Chinas. »Geld ist prima«, sagt er. Joanne K. Rowling, die Erfinderin von Harry Potter, sei sein Vorbild.
Guo tritt in Spielshows im Fernsehen auf, er hat einen Blog und gibt eine Zeitschrift heraus, er denkt über einen Einstieg ins Filmgeschäft nach und lässt die 500 E-Mails, die er jeden Tag bekommt, von Lohnschreibern beantworten. Es gibt Leute, die sagen, dass er sich für seine Bücher von fremden Ideen inspirieren lässt, etwa von Filmen wie »Der Teufel trägt Prada«. Für ihn ist China ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten, ein Land, das ihm den Reichtum beschert hat, den er nun auslebt.
Politik?
»Politik«, sagt er, »interessiert mich nicht.«
150 000 Bücher erscheinen jedes Jahr in China. Der eindrucksvollste Buchshop im Zentrum der Stadt hat eine mit Goldbuchstaben verzierte Betonfassade, nennt sich Beijing Books Building und gehört zu dem Staatsunternehmen, das auch die offizielle Nachrichtenagentur betreibt. Xinhua heißt »Neues China«. Auf vier Etagen drängen sich unfassbar viele Kunden in muffigen Bücherschluchten, die den Charme einer deutschen Leihbücherei ausstrahlen. Die Bestseller bei Xinhua sind Bücher mit Tipps zum gesunden Lebenswandel und zum fixen Reichwerden, darunter die »Sales Bible« und gesammelte Weisheiten des großen Kaptalismusvorsitzenden Warren Buffett.
»Ich laufe oft mit einer unglaublichen Wut in Peking herum«, berichtet die Schriftstellerin und Filmemacherin Guo Xiaolu. Sie lebt eine Hälfte des Jahres in London, die andere hier in Peking. Wenn westliche China-Besucher vom Aufbruch und der Energie Chinas schwärmen, wird sie böse. »Sie merken nicht, dass in dieser manischen Begeisterung für neue Hochhäuser und neue Autos ein ungeheuer melancholischer, ja, depressiver Kern steckt.«
Sie wurde 1973 in einem Fischerdorf im Süden Chinas geboren. »Keiner dort, auch meine Eltern nicht, nahm je ein Buch in die Hand«, sagt sie. Sie fing als zehnjährige Schülerin zu schreiben an und veröffentlichte mit 14 ihren ersten Gedichtband. Mit 18 schaffte sie es in Peking auf die Filmhochschule. Ihr Film »She, a Chinese«, in dem es ein chinesisches Mädchen erst in die Großstadt unter Nutten und Killer und dann nach Großbritannien verschlägt, hat gerade den Goldenen Leoparden beim Filmfestival in Locarno gewonnen.
2002 ist Guo Xiaolu mit einem Stipendium nach Europa aufgebrochen, sie arbeitet mittlerweile mit britischen und deutschen Verlagen und Produzenten, ihre Wohnung in Peking will sie nicht aufgeben. Ihr jüngstes Buch heißt »Ein Ufo, dachte sie«, spielt im Jahr 2012 und ist eine Satire auf Chinas Modernisierung.
Dass »alles Alte dem Neuen weichen muss«, verkündet darin eine chinesische Dorfbürgermeisterin, sie lässt Spruchbänder aufhängen mit dem Slogan »Weg mit dem Schwachen, weg mit dem Faulen!«, es gibt ein paar trottelige Staatssicherheitsleute und eine Mutter, die über die 5000 meist jungen Leute lamentiert, die Jahr für Jahr in Chinas Bergwerken verrecken. Es sei völlig ausgeschlossen, dass dieses »Ufo«-Buch auch in China erscheine, sagt Guo Xiaolu. Sie sei als Kommunistin aufgewachsen. Heute bekomme sie in Peking oft »Erstickungsanfälle«.
Eine riesige Streitmacht von Kontrolleurinnen und Kontrolleuren, deren Namen und genaue Zahl unbekannt sind, wacht über Chinas Medien. Um die Buchautoren kümmert sich eine spezielle Behörde, das Amt für Presse und Publikationen (GAPP). Die GAPP ist der offizielle Partner der Frankfurter Buchmesse, sie organisiert das Gastland-Programm und hat dafür unter anderem eine halbe Million Euro an Zuschüssen spendiert für die Übersetzung chinesischer Romane ins Deutsche.
Die Zensoren der GAPP schreiten ein, wenn wichtige Führer der Kommunistischen Partei attackiert werden, wenn irgendwelche Minderheiten im Land in nicht opportuner Weise vorkommen oder gar Anspielungen auf die Studentenunruhen von 1989; aber auch gegen Pornografie oder das, was im heute eher prüden China dafür gilt. Prinzipiell unerwünscht ist alles, was die »Stabilität und Einheit Chinas« gefährden könnte.
Wie in anderen kommunistischen Staaten waren Bücher in China bis in die neunziger Jahre hinein die schärfsten Waffen im intellektuellen Diskurs. Doch seit einigen Jahren ist die zentrale Börse für kluge und aufrührerische Gedanken das Internet.
Es ist im Land ziemlich unübersichtlich geworden. 150 000 Bücher pro Jahr, Millionen chinesischer Seiten im Netz - und besonders verwirrend ist, dass über viele der scheinbar verbotenen Themen heute in Peking ohne großes Bohei öffentlich diskutiert werden darf.
Zum Beispiel hinter den grauen Mauern des Buchladens Sanwei, der an der Ost-West-Magistrale im Herzen der Stadt liegt, gar nicht weit weg vom Tiananmen-Platz. Das Gebäude ist ein traditionelles Stadthaus, wie es sie früher zu Abertausenden gegeben hat in Peking. Nun steht es inmitten von Bürohochhäusern und Großbaustellen wie ein Knirps unter Giganten.
Li Shiqiang betreibt hier seit 1988 die erste unabhängige Buchhandlung der Stadt, gemeinsam mit seiner Frau Liu Yuansheng. In einem zwei Wohnzimmer großen Raum, dessen Wände mit gerahmten Schwarzweißfotos des alten Peking vollgehängt sind, liegen auf hohen Holztischen vor allem politische Bücher aus. Bücher über Obama, den globalen Klimaschutz, die Finanzkrise und Bob Dylan; auch ein ins Chinesische übertragener Sammelband von Aufsätzen des Philosophen Jürgen Habermas und Helmut Schmidts »Menschen und Mächte« sind hier zu haben.
In der zum Buchladen gehörenden Teestube stehen fünf Dutzend Stühle und ein paar Tische herum. Manchmal gibt es Jazzkonzerte, jeden Samstagnachmittag wird zu Vorträgen und Diskussionen geladen. Man redet hier über moralische Grenzen der Profitgier, über die politische Sprengkraft des Islam und über die Zwänge der chinesischen Zensur. »Es kommt fast nie vor, dass wir mit einem Verbot der Behörden belegt werden«, sagt Li Shiqiang, »wir fragen einfach nicht um Erlaubnis, und meistens schert sich keiner um uns.«
Li Shiqiang wurde 1945 geboren, als China ein Schlachtfeld war, auf dem der Bürgerkrieg tobte, nachdem die japanischen Besatzer geschlagen waren. Er war vier Jahre alt, als auf dem Tiananmen-Platz Hunderttausende die Gründung der Volksrepublik China feierten. Li Shiqiang wurde Ingenieur. 1958 verlor seine Frau als »Rechtsabweichlerin« ihren Job als Lehrerin. 1966 rief Mao die Kulturrevolution aus, und alle Gebildeten waren plötzlich Abschaum.
Sieben Jahre lang, von 1968 bis 1975, saß Li Shiqiang im Gefängnis. »Wir haben viele Katastrophen erlebt«, sagt er, während seine Frau Tee serviert, »und auch wenn es vielleicht lächerlich klingt, weil wir nur zwei gewöhnliche einzelne Menschen sind: Wir wollen mit der Arbeit in unserem Laden alles dafür tun, weitere Katastrophen zu verhindern.«
1989, als das Militär auf dem Tiananmen-Platz den Aufstand der Studenten mit Panzern niederwalzte, gehörte Li Shiqiangs Tochter zu den Protestlern und wurde für zwei Jahre ins Gefängnis gesteckt. Sie lebt heute in Südkorea. Nach dem Tiananmen-Massaker waren die Vortragsnachmittage im Sanwei-Buchladen verboten, erst 2002 durften sie wieder loslegen mit den Diskussionen, »und wir stellen fest, dass in letzter Zeit neue Besucher aus der wohlhabenden Mittelschicht kommen«.
Manchmal sei er zornig über das, was Chinas Schriftsteller heute schreiben, sagt Li. »Es ist die Profitgier, die sie daran hindert, über die wichtigen politischen Fragen unseres Landes zu schreiben, nicht die Zensur. Die ganze Gesellschaft will Geld verdienen, und ich stelle enttäuscht fest: die Schriftsteller auch.«
China hat ein riesiges buntes Medienangebot, es hat sich zu einer schier unbesiegbaren ökonomischen Weltmacht aufgeschwungen, seit die Machthaber der KP den Slogan »Bereichert euch!« an die Massen ausgegeben haben.
Der Schriftsteller Yu Hua, ein gedrungener Mann mit wirrem Haarschopf und viel Schalk in den Augen, hat von seinem letzten Roman »Brüder« allein in China 1,5 Millionen Exemplare verkauft, die vielen Raubkopien nicht mitgerechnet. »Ich habe einfach Glück gehabt«, ruft er und fuchtelt mit den Armen, »ein paar Monate früher oder ein paar später, und mein Buch hätte in China nie erscheinen dürfen!«
Er sei »der Zensur durchgerutscht«, vermutet Yu Hua, weil sein Buch kurz nach dem Tod einer berühmten Politikerwitwe, einem prominenten Opfer der Kulturrevolution, erschien und die staatlichen Aufpasser gerade auf neue Direktiven warteten, ob man über den mörderischen Irrsinn dieser Zeit nun offener reden dürfe.
»Brüder«, das von diesem von Mao verordneten Schlachten ebenso erzählt wie vom chinesischen Turbokapitalismus der Gegenwart, verspricht auch in Deutschland ein Hit unter den vielen Übersetzungen zum China-Buchmessenjahr zu werden. Es ist ein grandioser, ziemlich derber Schelmenroman. Er erzählt die Geschichte von Glatzkopf-Li, einem gerissenen Geschäftsmann, und seinem Bruder Song Gang, einem nachdenklichen Verlierer.
Glatzkopf-Li ist ungebildet, aber selbstbewusst, ein typischer Neureicher im heutigen China, einer jener Kerle, die in den Erste-Klasse-Lounges der Flughäfen in ihre Handys brüllen, die in den Karaokebars nach den Mädchen grabschen, in teuren Cabrios durch die Städte düsen und gern mit Bündeln von Geldscheinen wedeln. Sein Geld hat Li mit Müll, gebrauchten Importanzügen aus Japan und krummen Immobiliengeschäften gemacht. Von seinen Profiten leistet er sich ein vergoldetes Klo.
Lis Bruder Song Gang ist einer dieser Menschen im heutigen China, die nicht klarkommen mit den schnellen neuen Zeiten. Die in Teehäusern oder verstaubten Büros verzweifelt über der Frage brüten, wie sie den Anschluss finden. Song Gang hat sich immerhin das schönste Mädchen der Stadt geangelt, später wird sie zur Puffmutter werden. Er selbst schlägt sich als Vertreter für eine »Busenwunder«-Creme durch - und lässt sich, um zweifelnde Kundinnen zu überzeugen, Brüste implantieren.
»Brüder« ist eine Groteske, der Autor Yu Hua aber beteuert, sein Roman sei aus dem wahren Leben gegriffen. Sogar die goldenen Klos gebe es wirklich. »Als mein Buch draußen war, haben mich gleich zwei Leser angerufen und gesagt: ,Unglaublich, Sie schreiben über meine Toilette!'«
Yu Hua ist 1960 geboren und in einer Kleinstadt in Zentralchina aufgewachsen, er hat einige Jahre als Dorfzahnarzt gearbeitet. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lebt er in Peking als Schriftsteller. Als 1994 der Regisseur Zhang Yimou seinen Roman »Leben« verfilmte, mit der berühmten Schauspielerin Gong Li in einer der Hauptrollen, wurde der Film verboten. Auch für eine Filmversion von »Brüder« sieht es nicht gut aus, man habe ihm schon Missfallen signalisiert, berichtet Yu Hua, das Buch werfe kein vorteilhaftes Licht auf die Folgen der Reform- und Öffnungspolitik.
Yu Hua wird in der offiziellen Delegation zur Frankfurter Buchmesse reisen, trotzdem sagt er Dinge, die man von einem erfolgreichen chinesischen Schriftsteller nicht erwarten würde: »Das drängendste Problem in China ist die Ungerechtigkeit. Unsere Richter und Polizisten sind korrupt. Im letzten Jahr gab es im ganzen Land zehn Millionen Beschwerdefälle. Zehn Millionen Menschen haben sich ungerecht behandelt gefühlt. Das ist unser größtes Menschenrechtsproblem.«
Vielleicht ist das Land zu groß, um es völlig kontrollieren zu können. Vielleicht ist es Zufall, dass Yu Hua heute reich ist und berühmt und Chinas Literatur in Frankfurt vertritt, während andere im Gefängnis sitzen oder Bücher schreiben, die nie veröffentlicht werden in China. Schwer zu kapieren ist, wo die Grenze verläuft zwischen normaler Aufmüpfigkeit und Dissidenz.
Auch der Schriftsteller Yan Lianke ist eigentlich kein Dissident, trotzdem hat er ein ziemliches offenes, mutiges Buch geschrieben. Es heißt »Der Traum meines Großvaters«, es ist ein Buch über einen realen Skandal, bei dem vor Jahren Zigtausende Menschen durch verschmutzte Spritzen und verseuchte Blutkonserven mit HIV infiziert wurden, verantwortlich waren Bluthändler, deren Taten von korrupten Parteifunktionären gedeckt wurden. Natürlich ist es in China verboten worden.
Yan Lianke war bis Mitte der Neunziger beim Militär, als Berufssoldat, er wohnte im Rang eines schreibenden Offiziers in einer Armeesiedlung. Bis er wegen unliebsamer Texte und Interview-Auftritte seine Uniform ausziehen musste. Seit kurzem ist er Literaturprofessor an der Pekinger Volksuniversität und lehrt klassische Literatur des 20. Jahrhunderts.
»Der Traum meines Großvaters« ist nicht das erste Buch von Yan Lianke, das verboten wurde. In einem früheren, das er 2005 schrieb, treibt es die Frau eines hohen Offiziers mit dem Untergebenen ihres Mannes so heftig, dass Mao-Büsten zu Bruch gehen: nicht lustig, fanden die Zensoren.
Jede Diskussion oder gar ein Einspruch sind in der Regel ausgeschlossen. Das Verbot eines Buchs kann teuer werden. Anders als im Filmgeschäft, wo bereits die Drehbücher zur Genehmigung vorgelegt werden müssen, findet die Buchzensur oft erst nach der Veröffentlichung statt. Yan Liankes »Der Traum meines Großvaters« zum Beispiel lag drei Tage lang in den Buchläden. Dann mussten die Verleger die gedruckten Exemplare einsammeln. Wegen des Verlusts stritten sie mit dem Autor um das Honorar. Es ist dieses finanzielle Risiko, oft verschärft durch von der Behörde verhängte Strafen, das die chinesische Zensur so effektiv macht. »Die Selbstzensur ist viel schlimmer als alle Eingriffe der Kontrolleure«, sagt Yan Lianke. »Auch ich habe jahrelang Kompromisse gemacht! Und was hat es genützt? Nichts! Chinas Autoren haben die Zensur in ihrem Blut.«
Dann verkündet Yan Lianke mit einem sarkastischen Lächeln, dass sich die Situation der chinesischen Autoren in Wahrheit dennoch enorm gebessert habe. »Vor 30 Jahren hat man unliebsame Schriftsteller gefoltert und umgebracht. Als man vor 15 Jahren zum ersten Mal einen Roman von mir verboten hat, musste ich ein halbes Jahr lang regelmäßig aufs Amt kommen und Selbstkritik schreiben. Heute lässt man mich privat in Ruhe.«
Yan Lianke wurde verwehrt, als Teil der offiziellen Delegation nach Deutschland zu kommen; als Ullstein-Autor hätte er trotzdem reisen dürfen, aber er will nicht: »Es ist besser, nicht zu fahren und still zu bleiben.« In Frankfurt veranstalte man »einen Tempel-Rummel« wie beim chinesischen Frühlingsfest, er würde dort nur den anreisenden chinesischen Politikern und Funktionären widersprechen, das sei gefährlich. »Ich muss in China leben. Ich bin nicht sehr stark, manchmal sogar feige. Ich muss an meine Mutter, meine Frau, meine Tochter denken. Ich will sie nicht in Schwierigkeiten bringen.«
Der gute Mensch Bertolt Brecht sagte: »Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft.«
WOLFGANG HÖBEL, ANDREAS LORENZ