Zur Ausgabe
Artikel 63 / 98

Ein moralischer Bankrott

Von Henryk M. Broder
aus DER SPIEGEL 51/1991

Broder, 45, lebt als Autor in Berlin.

Im Jahre 1946 fand in Krakau ein Prozeß gegen einige »Kapos« des Ghettos Plaszow statt. Es handelte sich um Juden, die den deutschen Besatzern behilflich gewesen waren, das Lagerleben zu organisieren. Sie wurden mit zusätzlichen Lebensmittelrationen belohnt und hatten etwas bessere Überlebenschancen als die Masse der jüdischen Gefangenen. Die »Kapos«, die bis zu ihrer Verpflichtung durch die Nazis ein ganz normales bürgerliches Dasein führten, waren, würde man heute sagen, Täter und Opfer zugleich.

Um ihr Leben zu retten oder wenigstens zu verlängern, nahmen sie es in Kauf, das Leben anderer zu zerstören und zu vernichten. Rückblickend kann man ihnen mit Mitleid oder Verachtung begegnen. Die Parallelen zu den Mitarbeitern der Stasi, die nun aus dem Zwielicht ihrer »inoffiziellen Mitarbeit« ans Licht der Öffentlichkeit treten oder dahin gezerrt werden, liegen auf der Hand. Mit einer Ausnahme. Es gab unter den überlebenden Juden keine Zweifel und keine Debatten, daß den »Kapos« zu Recht der Prozeß gemacht wurde.

Zu diesen Überlebenden gehörte auch meine Mutter, die über einen der Angeklagten auch Positives zu erzählen wußte. Sobald er sich ausgetobt, das heißt genug Menschen gequält, gedemütigt, gelegentlich auch erschlagen hatte, war er auch zu einer menschlichen Regung imstande. Dann trat er einem Gefangenen ein Stück Brot ab oder übersah irgendeine kleine Unkorrektheit, die er hätte ahnden müssen.

Als er nun nach dem Krieg vor Gericht stand, wandte sich seine Frau hilfesuchend an meine Mutter. Sie sollte doch bitte zu seinen Gunsten aussagen und bezeugen, daß er vielen im Lager auch geholfen hatte. An die Worte der Kapo-Frau kann sich meine Mutter noch heute erinnern: »Wer konnte ahnen, daß die Deutschen den Krieg verlieren würden?«

So ist das eben mit der Geschichte. Es kommt ganz anders, als man denkt. Das Große bleibt nicht groß und klein nicht das Kleine. Wer konnte ahnen, daß es mit der DDR so plötzlich vorbei sein würde? Und wer konnte ahnen, daß die Mächtigen im ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat über Nacht entmachtet würden.

Nun, zwei Jahre nach der Zeitenwende, mit der niemand gerechnet hat, ist von der anfänglichen Bereitschaft, mit der Vergangenheit aufzuräumen, es diesmal besser zu machen als nach '45, wenig geblieben. Es wird gemogelt, geschummelt, laviert und herumgeeiert. Daß die ehemaligen »Zonis« auf diese Weise aus dem Sumpf ihrer Geschichte zu entkommen versuchten, ist ganz natürlich. Sie haben 40 Jahre taktiert, sich mit kleinen Notlügen und großen Chimären das Leben zurechtgelegt.

Alles basierte auf dem Prinzip der Simulation: Simuliert wurden Sozialismus, Antifaschismus, Völkerfreundschaft und Wohlstand, wenn es nicht anders ging, dann mit gefälschten Statistiken. Und die Bürger der DDR simulierten Loyalität zu einem Staat, von dem sie mit Gewalt an der Massenflucht gehindert wurden. Kein Wunder, daß viele von ihnen von einem bestimmten Zeitpunkt an zwischen Schein und Sein nicht mehr unterscheiden konnten.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die Äußerungen ehemaliger DDR-Bürger über ihr Leben unter den Bedingungen des real existierenden Sozialismus einigermaßen verstehen. Henrik Poller, ein führender Aktivist der Bürgerbewegung, heuerte 1984 bei der Stasi an und erfüllte die ihm erteilten Aufträge »mit vorbildlicher Disziplin« bis 1985. 1990 ließ er sich vom Bündnis 90 als Kandidat bei den Landtagswahlen in Brandenburg aufstellen. Erst nach den Wahlen wurde ihm im Herbst '90 bewußt, »daß ich ein IM war«. Vorher war ihm seine Doppelrolle nicht aufgefallen.

Stefan Heym, zu DDR-Zeiten eine der wichtigsten Oppositionsfiguren, sagt heute: »Ich kann nicht mein ganzes Leben wegwerfen, bloß weil hier Leute schlecht und schlimm und verbrecherisch gehandelt haben.« Was auf den ersten Blick einsichtig klingt, ist eine moralische Bankrotterklärung. Niemand verlangt von Heym, daß er sein Leben wegwerfen soll, was immer er sich darunter vorstellt. Das Eingeständnis, daß er zu denjenigen gehörte, die sich aus den Privilegienkammern des Systems bedienten, würde schon reichen.

Und Pastor Friedrich Schorlemmer, der das Leben in der DDR »farbiger und lebenswerter« machen wollte und noch am 4. November 1989 die Massen auf dem Alexanderplatz vor dem »Ausufern der verständlichen Emotionen« warnte, sagt heute, es dürfe nicht sein, daß »die Stasi jetzt, wo sie weg ist, noch mehr über uns herrscht als vorher«, was ungefähr so sinnvoll ist, als würde jemand erst nach dem Abzug eines Gewitters vor demselben warnen.

Der Verlust der Maßstäbe geht so weit, daß, wie der Theologe Richard Schröder in der FAZ berichtete, auf der Berlin-Brandenburg-Synode der Evangelischen Kirche jemand behauptete, es finde eine Hetzjagd gegen die Stasi statt, die der Judenverfolgung der Nazis gleiche . . .

Das alles muß man nicht gut finden, aber man darf es nicht vorschnell verurteilen. Den Bürgern der DDR ist der Boden unter den Füßen so schnell und so radikal weggezogen worden, daß sie abstürzen mußten. Und im freien Fall kann man schlecht Haltung zeigen.

Wenn also Stephan Hermlin die Stasi-Debatte mit Denunziationen während der Nazi-Zeit vergleicht, wenn Thomas Langhoff sagt: »Ich will nicht aufklären«, dann denke ich mir: Die sollen mit ihren Problemen selber fertig werden. Und wenn Stefan Richter, ehemaliger Leiter des Reclam Verlages in Leipzig und seit kurzem »freier Autor«, über Wolf Biermann herfällt, dann kann ich es ihm nicht mal übelnehmen, daß er Biermann einen »Meinungs- und Gesinnungsterroristen« nennt, als würde noch immer das ZK der SED bestimmen, wo die Meinungsfreiheit aufhört und der Meinungsterror anfängt. Es dauert eben eine gewisse Zeit, bis sich staatliche Kulturfunktionäre an den rauhen Wind einer freien Diskussion gewöhnt haben.

Wenn aber ein Westler wie Günter Graß, der sich in seiner Rolle als moralisches Ersatzgewissen der Nation immer gefallen hat, Biermann einen »Großinquisitor« nennt, dann möchte ich gern wissen, was in diesem Mann vorgeht. Neidet er Biermann die Publizität? Will er allein darüber entscheiden, in welchem Falle eine Nachfrage erlaubt sein soll und in welchem nicht?

Graß hat vor zwei Jahren, als die Wiedervereinigung ins Haus stand, immer wieder gesagt, das deutsche Volk habe wegen Auschwitz ein Recht auf staatliche Einheit auf immer verloren. Er hat dies für eine moralische Äußerung gehalten. Tatsächlich war es nur eine politische Dummheit, für die wieder einmal die Juden als Begründung herhalten mußten.

Nun setzt Graß noch eins drauf, er sagt, mit demselben Impetus und derselben Inkompetenz, mit der er die Strafe für Auschwitz vertrat, es habe selten einen »grausameren und absurderen Sieg« gegeben als den der früheren Stasi in der heutigen BRD. Nimmt man diese Aussage ernst, dann würde man der Stasi eine vernichtende Niederlage dadurch bereiten, daß man über ihre Aktivitäten und Verbrechen den Mantel des Schweigens und der Barmherzigkeit ausbreitet. So kann es Graß nicht gemeint haben. Oder doch?

Freimut Duve, auch er ein großer Moralist, wenn auch mit einem mageren OEuvre, hat Biermann aufgefordert, den Büchner-Preis zurückzugeben, nachdem Biermann den Ost-Berliner Lyriker Sascha Anderson als Stasi-Spitzel enttarnt hatte. Auch nachdem Anderson in einem Zeit-Interview Biermanns Vorwürfe bestätigt hatte, sah Duve keinen Grund, seine Aufforderung zurückzunehmen und sich bei Biermann zu entschuldigen.

Und Gerhard Zwerenz, der jeden Krawall, den nicht er angezettelt hat, unangebracht findet, mahnte seine Schriftstellerkollegen auf Seite 1 des Neuen Deutschland, es wäre fatal, »die Stasi-Herrschaft zu dämonisieren«. Den Vogel allerdings schoß Mathias Greffrath in der Wochenpost ab, als er den Streit um den Rektor der Humboldt-Universität, Heinrich Fink, mit der »Dreyfus-Affäre« verglich: »Auch damals ging es darum, ob eine Gruppe von Staatsbürgern minderes Recht hat, erschwerten Zugang zu Staatsämtern und offiziellen Würden.«

Solche Statements sind von anderer Qualität als die verklemmten Exkulpationsübungen der »Zonis«. In einem Land, in dem jeder zweite Journalist am liebsten Pressesprecher eines Ministers oder Bürgermeisters werden möchte und in dem jeder revolutionäre Schriftsteller sich so lange weigert, für die Bild-Zeitung zu schreiben, bis sie ihm ein Angebot macht, in einem solchen Land verteidigen die staatstragenden linksalternativen Freigeister vor allem eins: ihr Grundrecht auf Kollaboration. Um den potentiellen Kollaborateur in sich zu verteidigen, solidarisieren sie sich mit einem, der von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch gemacht hat.

Es wäre ungerecht, wenn bei der Bewältigung der DDR-Geschichte die Bundesrepublik ungeschoren davonkäme. Fällt es denn nicht langsam auf, daß die Justizbehörden der Bundesrepublik in keinem einzigen Fall die Auslieferung eines NS-Verbrechers (Eichmann, Brunner, Mengele) mit einer solchen Intensität betrieben haben, wie sie es bei Honecker getan haben?

Und hat man noch immer nicht begriffen, daß die DDR ohne die Hilfe, die ihr aus der Bundesrepublik zuteil wurde, gar nicht bis zum Jahre '89 durchgehalten hätte? Die DDR wurde von der Bundesrepublik subventioniert, von allen Parteien politisch und von den kritischen Intellektuellen moralisch legitimiert. Allen Sonntagsreden zum Trotz gab es eine breite nationale Front von der CSU bis zu den Grünen, die an einem Fortbestand der DDR ein heftiges Interesse hatte.

Es waren nicht nur Vertreter der Wirtschaft, die mit den Kommunisten gern Geschäfte machten. Auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Regenbogens posierten diejenigen, die den Respekt genossen, mit dem sie in der DDR behandelt und in der Bundesrepublik nicht ganz so nobel zelebriert wurden. Nicht wenige westdeutsche Künstler und Intellektuelle hielten der DDR aus ganz trivialen Gründen die Treue: die Sängerin, hüben eine kulturelle Altlast, drüben eine gefeierte Botschafterin des Friedens; der Schriftstellerverbandsfunktionär, daheim eine DKP-Schranze, in der DDR eine große Nummer; der Professor, dessen grauenhafte Theaterstücke von westdeutschen Dramaturgen mit spitzen Fingern abgelegt und von DDR-Bühnen dankbar angenommen und gespielt wurden. Sie alle mögen von dem Gedanken nicht lassen, den Stefan Heym so trotzig artikuliert: »Trotzdem glaube ich, die Grundidee ist gut und richtig.«

Leute wie Biermann und Fuchs sind es, die den öffentlichen Frieden stören. Es wird nicht mehr lange dauern und sie werden als »Nestbeschmutzer« angeprangert werden, von kritischen linken Intellektuellen, die in vorauseilendem Selbstschutz jeden Kollaborateur zum Stasi-Opfer umdichten werden. - Wir werden uns noch wundern, wie viele inoffizielle Repräsentanten die untergegangene DDR vor allem in der BRD hat.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 63 / 98
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten