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Musik Ein perfektes Dribbling auf 88 Tasten

Von Klaus Umbach
aus DER SPIEGEL 29/1994

Die Tür geht auf, und da ist sie: die berühmte Löwenmähne. Ein imposant aufgetürmter Kopfschmuck aus schwarzen Locken, ein genialischer Wust in gepflegter Fasson.

Erst dann fällt auch der junge Mann auf, den die Krause krönt: Scheu kommt er hervor, linkisch, in eckiger Hast, und stakst hurtig zum Flügel. Der Frack schlottert ein wenig. Dann artige, furchtbar artige Diener, mit denen sich der Wohlerzogene dem Begrüßungsapplaus beugt.

Nicht die Spur von Mienenspiel, das Gesicht ist ernst und blaß. Ein cherubinisches Antlitz, schreiben die Feuilletons, ein seraphischer Knabe. Jedenfalls müßte der junge Mann mehr an die frische Luft.

Der Auftritt des russischen Pianisten Jewgenij Kissin, 22, wirkt wie ferngelenkt - und ist es auch. Die Szene des Entrees, ob in der New Yorker Carnegie Hall oder in der Berliner Philharmonie, hat stets die gleiche Regisseurin: Mutter Kissin, die unauffällige Frau im Hintergrund.

Immer ist sie bei ihm und um ihn, seit Jahren. Das Kissin-Image vom properen Virtuosen mit den untadeligen Manieren eines Konfirmanden ist ihr Werk, Schenja, so Kissins Kosename, ein Muster an Muttersohn. Doch sobald Kissin auf dem Klavierschemel Platz genommen hat, geht das Gängelband, das ihn steuert, von Mamotschka auf die Ziehmutter über. Nun hat Anna Kantor die Fäden in der Hand, eine weißhaarige Dame von unbestrittener Autorität und großmütterlichem Charme.

Frau Kantor ist Kissins erste und immer noch einzige Lehrerin. Sie läßt ihren Eleven nie aus den Augen, geschweige aus den Ohren. Das Kissin-Image vom Spielmann mit den unbegrenzten Möglichkeiten ist ihr Werk, Schenja ihr Musterschüler, sie sein kritischer Seismograph. Sie überwacht jeden seiner Triller, Läufe, Sprünge. Sie hat ihn so merkwürdig weit weg von der Klaviatur plaziert, damit er alle Kraft direkt aus dem Kreuz in den Steinway stemmen kann.

Sie hat ihn vor allem vor dem öden Drill landestypischer Konservatorien und vor den Torturen bewahrt, unter denen Pianisten Preisträger werden. Kissin hat noch keinen Wettbewerb gewonnen - weil er noch keinen bestritten hat.

Und damit dem schüchternen Virtuosen auch im Gespräch kein falscher Ton unterläuft, steht ihm noch eine Dolmetscherin zur Seite, auch sie stets abrufbereit. Sie dient als Kontrollorgan über Kissins Eigenart, ohnehin wenig zu sagen. Kann so, unter dreifacher Vormundschaft, Musik aufkommen - jung, impulsiv, mit all dem Brio eines entdeckerfreudigen Draufgängers?

Schon beim ersten Schlenker, mit dem Kissin sich in Chopins cis-Moll-Walzer schaukelt, stiehlt er sich taktvoll aus dem Dreifrauenhaus; und wenn er beidhändig die saftigen C-Dur-Akkorde hinwuchtet, mit denen Schuberts »Wanderer-Fantasie« loslegt, dann ist er mit einem Schlag Solist, im wahrsten Sinne: auf sich gestellt und, im Handumdrehen, die größte Hoffnung für die Piano-Szene des nächsten Jahrhunderts.

»Der junge Zar des Klaviers«, schwärmt Le Figaro. »Kaum zu begreifen«, titelt die Stuttgarter Zeitung. Die FAZ sieht »das Publikum gleichsam aus den Stühlen gehoben«.

Der Klavierologe Joachim Kaiser fand Kissins Münchner Debüt 1989 »so delikat und aufregend, als säße der junge Horowitz oder der junge Arrau am Flügel«.

Den Adelstitel »Jahrhundertbegabung« schob Kaisers Kollege Wolfgang Schreiber jüngst nach, als Kissin seine diesjährige Sommertournee begann, mit Salzburg und Schleswig-Holstein als den kommenden Festival-Highlights.

Viel Theaterdonner, PR-beflügelt? Pianisten, auch solche von Format, sind schließlich keine Mangelware. Dennoch »wirft sich«, laut New York Times, das Publikum Kissin »zu Füßen«, und sei es in Standing ovations. Die Begeisterung gilt dem Comeback einer totgeglaubten Tugend: Das Klavier klingt wieder, wie einst beim alten Rubinstein und wie bei Horowitz selig.

Jahrzehntelang haben die Pianeure den Flügel auch als Schlagzeug mißbraucht und zum Möbel aus Holz und Metall verdonnert. Und nun taucht plötzlich dieses immer noch kindlich wirkende Bleichgesicht auf, entdeckt das Instrument als Sesam mit den schönsten Saiten des Lebens und singt darauf wie ein Pavarotti des Pianos.

Als Star einer der jüngsten, pflegt Kissin den Stil von vorgestern - und ist genau damit seiner Zeit voraus. Wie einst die großen Belkantisten des Instruments Mozart-Sonaten in Mozart-Opern verwandelten und die Kantilenen der Romantiker gleichsam vom Stimmband spielten, so hält er auf guten Ton, selbst im Härtetest zeitgenössischer Werke.

Kissin hat ausgewachsene Männerhände, aber keine Pranken. Zehn weiße Tasten greifen sie spielend, elf noch so gerade. Das reicht, bei täglich mehrstündigem Training, um auch die haarigsten Oktav-Kaskaden Liszts treffsicher hinzulegen.

Wo sich, etwa in Chopin-Etüden, alle Gemeinheiten pianistischer Virtuosität tummeln und türmen, wird Kissins Manufaktur - scheinbar - ein wüstes Handgemenge, und mit den Fingern geht es drunter und drüber. Keine Angst: das optische Tohuwabohu hat musikalisch seine Ordnung, so perfekt ist das Dribbling auf den 88 Tasten, so präzis die Kontrolle in Kissins Lockenkopf.

Nicht übertrieben: ein Naturtalent, der geborene Klavierist. Schon mit zwei, daheim im engen Moskauer Appartement, schlief Schenja am liebsten unter dem Instrument, da war sein Himmelbett.

Als die ältere Schwester bei Frau Mama mit regelmäßigem Unterricht begann, spielte der Bruder ihr alles nach. Noten kannte er nicht.

Erst nach längerem Zögern ließen die Eltern auch den Jüngeren, der zum Ingenieursberuf des Vaters ausersehen war, ans Klavier. Von Anfang an daneben: Frau Kantor, Lehrerin an der Moskauer Gnessin-Schule für Hochbegabte. Dieser hier war ihr Höchstbegabter.

Noch nicht schulreif, spielte ihr der Knirps fast alles vor, was sie hören wollte. Kaum konnte er Noten lesen, paukte er sich hinter ihrem Rücken die großen Brocken der Literatur ein.

Mit zehn durfte Schenja erstmals vor größeres Publikum, nach Landessitte in der Provinz. Zwei Jahre später, im März 1984, schaffte er, Bubikopf überm Vatermörder, im Moskauer Konservatorium mit einer grandiosen Wiedergabe beider Chopin-Konzerte an einem Abend den Hochsprung in die Nomenklatura der Sowjet-Stars.

Die Moskowiter - ein Tonband von damals hat es festgehalten - flippten aus, der Mitschnitt zirkulierte bald weltweit unter den Auguren des Betriebs. Allerorten wurde die Klavierszene hellhörig; die Kunde kam schließlich auch zum greisen Karajan, der sich immer gern mit grünem Holz schmückte.

Doch bei den Proben zum Silvesterkonzert 1988 in der Berliner Philharmonie »gab es Schwierigkeiten«, wie Kissin heute, immer noch mit zuchtvoller Zurückhaltung, einräumt. Karajan zelebrierte Tschaikowskis b-Moll-Konzert, den populären Reißer, als Melodram voll altväterlichem Pomp und breitgewalzter Poesie. Spielzeit: 50 Minuten, fast das Doppelte einer Horowitz-Version aus dessen wilden Jahren.

Kissin muckte auf, Frau Kantor muckte mit. Die beiden Russen wollten mit dem Nationalheiligtum zwar nicht auf die Rennbahn, aber auch nicht auf die Kriechspur. Kissin: »Da war Karajan, das Genie. Und ich war jung. So lief das.«

So lief das nicht. Der Kompromiß - Kissin gab nach, Karajan zog etwas an - erwies sich als fauler Friede: Das Stück lahmte in voller Länge.

Über Musik spricht Kissin auch heute noch wenig, »ich rede auf dem Klavier«. Aber Politik läßt ihn auftauen, selbst von privaten Erlebnissen erzählt er zuweilen.

Etwa davon, daß er glaubte, die Welt ginge unter, als er im Fernsehen vom Tode Breschnews erfuhr; davon, wie seine Eltern erstmals offen von den Sünden der Kommunisten redeten; wie er, unter Glasnost, endlich reisen durfte, den Genuß von Sushi entdeckte und den Kitzel auf Achterbahnen in Disneyland.

Dann war in Moskau Putsch, und wieder hatte er Angst: »Wir bereiteten uns auf Flucht vor. Eine Dame versprach mir, mich in ihrem Wandschrank zu verstecken, sollte Militär auftauchen.« Statt dessen blieb Jelzin obenauf, die Kissins zogen nach Manhattan.

1989, mitten im Kollaps der alten UdSSR, sollte Kissin in Amsterdam das erste Klavierkonzert von Schostakowitsch spielen, dessen Schlußsatz er bis dahin stets »leichten Herzens, sogar sarkastisch« hatte abschnurren lassen.

Doch einen Tag vor dem Auftritt erfuhr er von Sacharows Tod, »und das änderte alles«. Nun gab er dem munteren Kehraus plötzlich »tragische Züge«, aus dem bunten Finale wurde schwarze Kunst.

»Das kam ganz von selbst«, erinnert sich der patriotische Kosmopolit. »Bin ich ein Russe im Westen?« fragt er zurück und wohl mehr noch sich selbst. »Im Westen werde ich als Russe, in Rußland als Jude betrachtet. Aber es ist und bleibt mein Land.« Vermutlich hat ihn Mütterchen Rußland noch fester an der Kandare als Mamotschka, Anna Kantor und die Dolmetscherin. Y

Genuß von Sushi und Kitzel auf der Achterbahn

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