Film Ein Präsident wird gerettet
Abraham Lincoln, der Sklavenbefreier und 16. Präsident der Vereinigten Staaten, wurde im Theater erschossen, 1865, während der Vorstellung von »Our American Cousin«. Daß ein Journalist Frau Lincoln anschließend gefragt haben soll: »Und wie hat Ihnen die Aufführung gefallen?«, ist nicht verbürgt.
Der 20. Präsident, James Abram Garfield, wurde von einem enttäuschten Postenjäger 1881 in einem Eisenbahn-Depot in Washington niedergeschossen. William McKinley, der 1897 sein Präsidentenamt antrat, wurde auf der Pan American Exposition in Buffalo von einem Anarchisten tödlich niedergestreckt.
John F. Kennedy starb 1963, erschossen bei einem Auto-Korso durch Dallas, Texas. Sein Bruder Robert starb während des Präsidentschaftswahlkampfs 1968 in Los Angeles ebenfalls durch eine Kugel.
Mordanschläge gab es gegen die Präsidenten Jackson, Truman, Ford (zweimal) und Reagan. Der Reagan-Attentäter tat es aus Liebe zum Kino.
Schon dieser kursorische Überblick zeigt: Präsident der USA sein ist gefährlich, eine relativ kleine Berufsgruppe hat ein relativ hohes Lebensrisiko. Anders ausgedrückt: Das Präsidenten-Attentat ist ein amerikanisches Trauma.
Von diesem Trauma handelt der Hollywood-Thriller »Die zweite Chance« ("In the Line of Fire"), ein Film, der mit dem amerikanischen Ideal-Recken Clint Eastwood und dem amerikanischen Verwandlungskünstler John Malkovich patriotisch besetzt ist.
Aber weder Malkovich noch Eastwood spielen den attentatsbedrohten Präsidenten - der ist vielmehr als eine wahlkampfführende Zielscheibe, als eine Art Pappkamerad oder Kleiderständer zwischen zwei kämpfenden Männern ziemlich unwichtig.
Es geht zwar um sein Leben, aber der Präsident selbst spielt in dem Film keine Rolle. Man braucht sich nicht mal zu merken, ob er Demokrat oder Republikaner ist, weil er das ist, was man bei Hitchcock den McGuffin nennt: der Knochen, um den man sich balgt.
»Die zweite Chance« ist also kein Politfilm (was auch Oliver Stones »JFK« nur in Maßen war), sondern ein Reißer, ein Krimi, ein Thriller.
Dieses Genre ist schon deshalb so beliebt und erfolgreich, weil Thriller im Zeitalter der Gremien, Verkehrsstaus und Meinungsumfragen unverbrüchlich paradox an Duelle, ritterliche Zweikämpfe von Mann zu Mann, glauben.
Der daran glaubt, ist allerdings im Falle der »Zweiten Chance« ein Geistesgestörter. Der möchte mit seiner fanatisch, mit größtem technischen Geschick und äußerster Brutalität betriebenen Absicht, den Präsidenten spektakulär zu erschießen, einen Secret-Service-Mann, der schon zum Bewachungsteam um John F. Kennedy gehörte, herausfordern.
Die Dramaturgie wird dem Film also durch die Wahnidee des Attentäters aufgedrückt - und es hat etwas zutiefst beunruhigend Logisches, daß dieser Tüftler und Bastler in einer anonymen Massengesellschaft zu dem verrückten Attentat getrieben wird, das ihn aus der Anonymität herausheben soll - und sei es durch den Tod.
So macht es auch einen Sinn, daß es völlig egal ist, wer das anvisierte Opfer, wer der Präsident der USA ist - so wie John Hinckley ja nicht Reagan meinte, sondern über das Attentat in einen aberwitzigen »Dialog« mit Jodie Foster kommen wollte.
Der Attentäter wird faszinierend gespielt von John Malkovich, der sich für die Rolle nicht nur eine Wampe angefressen hat, sondern vor allem die psychischen Frustrationen und Verunstaltungen als beklemmende Studie von Isolation und Verstörung spielt. Dieser Mann sucht den Dialog mit dem alt und grau gewordenen Secret-Service-Beamten. Und den spielt Clint Eastwood.
»Die zweite Chance« ist also, darüber gibt es keinen Zweifel, ein Clint-Eastwood-Film, verstärkt durch den Dialog und den Zweikampf mit dem Charakterspieler Malkovich. Ein Männerfilm also, zwei Kerle und ein Knochen?
Keineswegs, denn Eastwood hat auf seine älteren Tage, spätestens seit seinem Meisterwerk »Erbarmungslos«, seine Rolle mit starken Zweifeln durchsäuert und mit ätzender Ironie durchsetzt.
Eastwood spielt den pensionsnahen Sicherheitsbeamten, der sich ächzend und schnaufend nochmals in die Sielen des Dienstes werfen muß, als hinreißend komisch-heroische Attacke vor allem auf die glatt-geölten Männermaschinerien, die den Präsidenten beratend als Wahlkampfmanager, Helfer und Beschützer umgeben.
Er spielt dieses Fossil, das in Wahrheit lebendiger (auch: weil anfälliger) als all die anderen ist, in der neuen braven Welt der »political correctness«.
Und natürlich eckt er mit seinen Zoten und Anzüglichkeiten bei einer jungen Kollegin (Rene Russo) am stärksten an: Klar, daß sie (so sind Kintopp-Gesetze nun mal) später nicht nur seine Geliebte, sondern auch seine einzige Verbündete wird.
Das fast Erstaunlichste an diesem durch und durch spannenden, meist sehr selbstironischen und total amerikanischen Film ist, daß ihn Wolfgang Petersen gedreht hat. Und daß Petersen, der in Hollywood bisher so recht kein Bein auf den Boden brachte, mit diesem uramerikanischen Thema an den US-Kinokassen den Durchbruch durch die 100-Millionen-Dollar-Schallgrenze, also zum Supererfolg, schaffte.
Man sieht die USA der Konfetti-Paraden und beinwerfenden Jubelgirls, der Hotelkongresse und der Managersitzungen. Der Ostfriese Petersen hat das mit sarkastischer Authentizität gefilmt.
Und so geht es zur Verfolgungsjagd durch den amerikanischen Wahlkampf. Der duellgeile Attentäter lockt seinen Verfolger durch die Provinz, blamiert und düpiert ihn schon mal, indem er bei einem Präsidentenauftritt einen bunten Werbe-Luftballon anpiekst, worauf beim Knall sich alle schützend über den Präsidenten werfen und ihn so lächerlich machen - Spiel mit dem Sicherheitswahn der Sicherheitsdienste.
Am schönsten ist, wie Petersen dem patriotischen Pathos das Lachen beigebracht hat. Da wollen alter Agent und junge Agentin im Hotel endlich ins Bett, und beim Ausziehen fallen ihr sämtliche Utensilien geheimdienstlicher Tätigkeit klirrend und nacheinander zu Boden: der Staatsdienst als Slapstick.
Kurz darauf werden die beiden, noch ehe es funktioniert hat, von der Pflicht unterbrochen. Und ächzend hebt sie Handschellen, Minisender, Pistole etc. wieder auf und steckt alles unter die Kleider. Man kann es sehen: So kommt die Pflicht vor der Liebe, wenn man einen Präsidenten retten muß.
Hellmuth Karasek