Ein Prosit auf den Gauleiter
Die »größte Weinprobe der Welt«, exerziert von einer 110 Kilometer langen ununterbrochenen Menschenschlange fröhlicher Weintrinker, angekündigt für den nächsten Sonnabend am Schauplatz der Deutschen Weinstraße in der Pfalz. Wo sonst als hier, in Helmut Kohls, unseres gemütlichen Kanzlers, ureigener Provinz? Muß nicht, wo die Ressourcen jener Rhetorik liegen, die uns schon die »größte Steuerreform in der Geschichte der Bundesrepublik« versprochen hat, auch die Gemütlichkeit selber zum gigantomanischen Ereignis werden?
Doch würde, wer so spräche über Pfalz und Pfälzer, im Grunde über sie nur sprechen, wie unsere Regierenden über sie gesprochen haben wollen. Es gibt in dieser Region der Bauernaufstände, des Hambacher Festes, der 1848/49er Revolution, durchaus noch etwas kaputt zu machen an Geschichte.
Und zweifellos würde auch über den Charakter populistischer Politik in diesem unserem Lande sich täuschen, wer in großmundigen »geschichtlichen« Versprechungen lediglich tollpatschige Unbedarftheit am Werke sähe, die allenfalls zum weinseligen Festfeiern taugt; wer im organisierten Massenjubel einer nie dagewesenen »Weinprobe« lediglich harmlosen Größenwahn vermutet, dem als einziges historisches Ziel, wie von den Initiatoren proklamiert, das »Guiness-Buch der Rekorde« vorschwebt.
Nicht zufällig wollen ja ausgerechnet die konservativen Modernisierer, die gerade dabei sind, das System der Bundesrepublik gründlicher zu verändern als alle »Systemveränderer« zusammen, immer wieder der Geschichte an den Busen. Chuzpe, die in den Geschichtsbegriff für Großtaten der Gegenwart wie die Steuerreform inflationiert, springt auch mit Vergangenheit so um, als gehöre diese zum Regierungsfundus.
Populistisch an dieser Neohistorie ist vor allem der Instinkt für die Orte, an denen sie sich wirkungsvoll inszenieren läßt. Trotz vieler Liebesbekundungen gegenüber dem Geschichtsunterricht spielt dabei das letztlich lustlose Schulgeschehen nicht die erste Rolle - so wenig wie die gern und feierlich beschworenen nationalen Gedenktage 23. Mai, 17. Juni, 20 Juli, an denen es die Menschen, wenn man sie läßt, eher ins Grüne zieht. Nein, der Raum, in dem wohlberechnete Geschichtsinszenierung fast täglich stattfindet und wirklich noch auf die Breite der Gefühle und originären Stolz, auf ungebrochene Lust am Feiern und handfeste Geschäftsinteressen treffen kann, ist die Region mit dem Alltag ihrer
Feste. Eine Region, die gegenwärtig dabei ist, sich die Chance zu ihrer eigenen Geschichte von oben her wegfeiern zu lassen, ist die Pfalz. Schon vor zwei Jahren hat sich das Hambacher Schloß zwischen Neustadt und Landau als nationale »Wiege der Demokratie« zu Grunde restaurieren lassen müssen. Aus der liberal-demokratischen Untertanenrevolte des Hambacher Festes von 1832 wurde beim 150jährigen Jubiläum ein Festival für die rheinland-pfälzische Obrigkeit.
Heuer, mit der »größten Weinprobe der Welt«, schreitet die Besetzung der Geschichte in eigentümlicher Steigerung fort, überzieht die ganze Landschaft der Weinstraße. Unmöglich konnte ein derartiges Supermassenfest von unten her entstehen. Was ihm an Spontaneität abgeht, mußte ihm organisatorisch eingeblasen werden - nicht zufällig als historische Reminiszenz.
Der Geist, der über der ganzen Gigantomanie schwebt, ist die Erinnerung an ein anderes weinseliges Fest, das es nun zu feiern und zu übertreffen gilt: jenen Festtag im Jahr 1935, als sich der Kolonne des NS-Gauleiters Josef Bürckel die von ihm begründete und eingeweihte »Deutsche Weinstraße« hinunter, von Schweigen bis Grünstadt, ebenfalls schon das Bild einer einzigen (damals nur 80 Kilometer langen) Weinprobe darbot.
Bürckel, wie man dazu wissen muß, genoß als Spezialist für Eingliederungsfragen bei Hitler hohes Ansehen und war als »Reichskommissar« im Saarland, später in Österreich und in Lothringen einschlägig aktiv. Sein Organisationstalent setzte er ein, um als erster seinen Gau »judenfrei« erklären zu können und über 70 000 französisch-sprachige Lothringer zu vertreiben. Mit durchaus erfolgreichen sozialpolitischen Maßnahmen machte er sich bei vielen Pfälzern ebenso populär wie mit seinem jovialcholerischen Temperament und seiner Trinkfestigkeit.
An diese Popularität knüpft das geplante »Jubiläum« der »Deutschen Weinstraße« (1935-1985), zu dem die Weinprobe am 7. Juli der einleitende »Paukenschlag« sein soll, in obszöner Offenheit an. Man habe, so ein Initiator, »keine Berührungsängste«, denn »was Josef Bürckel sonst noch« (!) getan habe, tangiere die Geburtstagsfestivität nicht.
So feiert der Populismus seine Triumphe: Er reproduziert sich in seiner Tradition, verweist ausdrücklich auf die historische Berechtigung dazu, aber verbittet es sich, Geschichte als ganzes ins Bewußtsein kommen zu lassen.
Hinter der Glanzfassade obrigkeitlicher Volkstümlichkeit dehnt sich eine Tabuzone, die zu hüten der reizbaren Volksseele aufgegeben wird: Wo ist der Miesmacher, der es wagt, gegen die berechtigten Absatzsorgen der Winzer, gegen die Interessen des Fremdenverkehrs, gegen die Harmlosigkeit eines Festes - und all dies gilt 1984/85 wie es schon 1935 galt - seine nörgelnde Stimme zu erheben? Ist nicht die Weinstraße ökonomisch und ästhetisch wirklich ein Stück Pfälzer Heimat geworden?
Erwartete Kritik ist auf diese Weise von vornherein dazu bestimmt, auf jener Ebene schwerlich abweisbarer materieller Bedürfnisse und scheinbar unpolitscher Lustlosigkeit aufzulaufen, auf der, heute wie damals, die Inszenierung stattfindet. Und anders als bei einem gleichgearteten Jubilierversuch vor zehn Jahren, in der sozialliberalen Ära, scheint die Spekulation auf das Verstummen der Gegner diesmal aufzugehen.
Zum Lehrstück für die Republik könnte den provinziellen Fall in der Tat vor allem das schier hörbare Schweigen all derer werden lassen, die sich sonst mit viel Sensibilität am antifaschistischen Gedenken an Arbeiterbewegung, Judenverfolgung, bekennende Kirche und Widerstand üben. Ihre Sache wäre es, sich auch um diejenigen zu kümmern, an denen jetzt, mit den dreisten Mitteln des Amüsements, die Übung massenhafter Vergeßlichkeit zu Ende gebracht werden soll.
Aber von den Geschichten und Biographien antifaschistischen Leidens scheint wenig an die Alltagsnot und Verführbarkeit kleiner Leute zu erinnern, wie es Winzer und ländliche Gewerbetreibende sind. Kein dialektischer Versuch bahnt sich an, zu erklären, warum die Motive, aus denen heraus viele Menschen in einer Region wie der Pfalz völkischen Suggestionen erlagen, unser historisches Verständnis erfordern. Und warum gleichwohl - oder besser: eben deshalb - politische Kultur es erheischt, gegen die organisierte Verdrängungskunst einer peinlichen Geburtstagsfeier zu protestieren.
Der Vorwurf, daß rechter Populismus die Geschichte propagandistisch halbiert, indem er lediglich sich selber in der Rolle des deus ex machina immer wieder vorführt - dieser Vorwurf schlägt daher auch auf die zurück, die es eigentlich besser wissen, aber unaufgefordert Terrain preisgeben. Und das muß vor allem die Linke treffen.
Wenn jüngst im Sinn solcher Selbsterkenntnis der Mut zu einem, metaphorisch gesprochen, linken »Populismus« propagiert wurde (Peter Glotz), so könnte das als bloße Nachahmung des rechten interpretiert werden. Umgekehrt muß ein Schuh daraus werden: Gerade auf jenen der Linken eher fremden Feldern, wo sonst bequeme Gemütlichkeit sich aggressiv breitzumachen pflegt, wird beharrlich die Tugend differenzierender Genauigkeit aufzubieten sein, aus der allein historisches Bewußtsein und damit die Kraft zur Selbstbefreiung entspringen kann.
Wer klärt in ländlichen Regionen über die ökologischen und gesellschaftlichen Kosten des Modernisierungsprozesses auf, von dem der rechte Populismus unaufhörlich zehrt? Wer über die letztendlichen Gewinner dieses Prozesses, zu denen die jubelnden kleinen Leute sicher nicht gehören werden? Wo eine gigantomanische Weinprobe unwidersprochen für Strukturpolitik verkauft werden kann, ist sicher noch Platz für das vermißte linke »Projekt«.
Will sie sich auf den wirklichen Erfahrungshorizont der ländlichen Regionen einlassen, wird die Linke nicht zuletzt Abschied zu nehmen haben von einem traditionalistischen Geschichtsbegriff, der sich im Ergebnis oft nur komplementär zu dem der konservativen Modernisierer verhält. Im Mai galt es, an das illegale Treffen pfälzischer und badischer Sozialdemokraten am Asselstein vor fünfzig Jahren zu erinnern. Wieder einmal wurde die Gelegenheit wahrgenommen, um den Begriff des »Widerstandes« ausdrücklich auf Aktionen gegen ein diktatorisches Regime festzulegen. Das kann nicht das letzte Wort sein, wenn aus Geschichte gelernt werden soll.
Es kann nicht das letzte Wort sein für eine Region, wo den Menschen in der beispiellosen Massierung von militärischem Fluglärm, ziviler und kriegerischer Atomarchitektur, Munitionsdepots und Giftgaslagern jeden Tag die eigene Geschichte gegenwärtig ist. Dem gemütlichen Grinsen des Populismus wird Paroli nur ein regionales Geschichtsbewußtsein bieten, das die sinnliche Gegenwart der Geschichte von ihrem absoluten Ende her erfährt: In der schlampigen Machbarkeit der Apokalypse und der ubiquitären Technokratie des Verdrängens, gegen die alles in uns sich auflehnt.