ENZENSBERGER Einatmen - Ausatmen
Als der 30jährige deutsche Lyriker Hans Magnus Enzensberger Anfang dieses Jahres von Rom nach Frankfurt übersiedelte, um dem Suhrkamp Verlag als Lektor zu dienen, bekam er einen »Schock«. So jedenfalls nennt er das, was er nach fast dreijährigem Italienaufenthalt angesichts der florierenden Stadt am Main empfand.
Die literarische Frucht dieses Schocks war »Landessprache«, ein sieben Buchseiten langes politisches Poem, Titelgedicht seines soeben erschienenen zweiten Versbandes.* Der Verfasser sei »in der Tat ein bedeutender Lyriker, der einzige vielleicht, der sich - heute, zornig und zart, 'ein' Erbe Bertolt Brechts nennen darf«, begeisterte sich flugs Enzensbergers Kollege von der »Gruppe 47«, Walter Jens, in der »Zeit«.
Wenn der Vergleich mit Brecht auch etwas hochgegriffen erscheint, so ist doch sicher richtig, daß politisch engagierte oder interessierte Lyriker in der Bundesrepublik heute dünn gesät sind. »Gräserbewisperer«, wie Gottfried Benn die Naturlyriker boshaft nannte, und pseudo-avantgardistische Wortklauber nach Art der »movens«-Bande (SPIEGEL 37/1960) beherrschen die literarische Szene.
Enzensberger jedoch, dessen Laufbahn so modisch-konventionell wie die vieler seiner jungen Dichterkollegen begann - mit einem Förderungspreis der »Hugo -Jacobi-Stiftung« (1956) und mit Beiträgen für die Anthologien »Junge Lyrik«, »Jahresring« und »Transit«-, legt heute großen Wert darauf, nicht als »Jung«, »modern« oder gar »avantgardistisch« zu gelten. In einer »Gebrauchsanweisung«, die er, nicht ohne Koketterie, seinem neuen Gedichtband beilegen ließ, erklärt Enzensberger, »avantgardistische Leser abschrecken« zu wollen. Die seinen Versen vorangestellten Zitate klassischer Autoren, wie zum Beispiel Plinius, Heraklit und Vergil, sollten »darauf hinweisen, daß der Verfasser nichts Neues zu sagen hat«.
1957 hatte Enzensberger einen Freiplatz in der Villa Massimo in Rom bereits nach wenigen Wochen, im Stich gelassen: »Das ist deutsche Inzucht. Ich mietete mir ein Haus bei Rom.« Auch einen zweiten Förderungspreis lehnte er ab.
Statt dessen gab sich Non-Avantgardist Enzensberger dem »Einatmen« hin - so nennt er seine diversen Auslandsaufenthalte. Ehefrau - Dagrun aus Norwegen und das mittlerweile dreijährige Töchterchen Tanaquil atmeten mit, bis 1957 in einem Blockhaus im norwegischen Stranda, später in jenem Landhaus bei Rom. Der Zeitpunkt des »Ausatmens« war gekommen, als Enzensberger, von Frankfurt schockiert, eine Verlagswohnung im vornehmen Frankfurter Westend bezog. Und solcherart waren die Atemstöße, in deutsche 2Landessprache« übersetzt:
hier geht es aufwärts,
hier ist gut sein,
wo es rückwärts aufwärts geht,
hier schießt der leitende herr den leitenden
herrn mit dem gesangbuch ab,
hier führen die leichtbeschädigten mit den
schwerbeschädigten krieg,
hier heißt es unerbittlich nett zueinander
sein.
Enzensberger selbst ist alles andere als nett zu seiner Umwelt. Auf seiner Schwarzen Liste lyrischer Schmähungen stehen unter anderem: blindekuhspielende Polizisten, amtliche schmierige Adler, Bewohner schmutziger Nebensätze, ein bestochenes Jüngstes Gericht, Päpste in Leihwagen, abgeschabte Genies, unaufhörlich fressende Leichen bei Kranzler, Schaumgummihochhäuser in Düsseldorf, Nobelpreisträger in Rudeln, automatische Bachwochen, Gesichter aus Mayonnaise und Kitt sowie Kapuziner, die rosig ihre Gebete gurgeln.
Des Preisens würdig ist dem Lyriker Enzensberger allenfalls das Firmament,
... das zehnmal zehntausend faden hoch
harrt,
nirgends nämlich,
das unser und seiner geschwelgt und könig
lich labt
den nächstbesten, der sonstwie heißt
oder iljitsch, pius, philemon
oder enzensberger, fremdbrödler von beruf,
im gewimmer
wohnhaft, mikrobenbeet,
umsonst getauft,
unter doppelgängern zuhaus.
Gelegentlich fällt auch ein kleines Lob für die Lachse; die Wale, das Nordlicht, den Sozialismus oder die Sellerie ab. Zwiespältig dagegen ist Enzensbergers Haltung zu seinem zwiegespaltenen Vaterland, das er einmal als »arischen Schrotthaufen« besingt:
deutschland, mein land, unheilig herz der
völker,
ziemlich verrufen, von fall zu fall,
unter allen gewöhnlichen leuten:
meine zwei lander und ich, wir sind ge
schiedene leute,
und doch bin ich inständig hier,
in asche und sack, und trage mich.
was habe ich hier verloren?
Eine Dichterlesung im April dieses Jahres in Leipzig, von dem ostzonalen Germanisten Professor Hans Mayer geleitet, ließ Enzensberger diese »zwei Länder« am eigenen Leib erfahren. Eine interne Diskussion zwischen den eingeladenen Autoren - Peter Huchel (Potsdam), Stephan Hermlin (Ostberlin), Ingeborg Bachmann (Zürich) und Hans Magnus Enzensberger - war ein glatter Mißerfolg. Enzensberger: »Hermlin und ich redeten in zwei verschiedenen Sprachen. Ich kam sehr deprimiert zurück. Es ist noch viel schlimmer drüben, als es in der FAZ zu lesen ist.«
Die stets von ihrer Würde durchdrungene »Frankfurter Allgemeine« ist dem politischen Dichter Enzensberger überhaupt ein Ärgernis. So dichtete er zum Beispiel in »Landessprache":
... verloren an dieses fremde, geschiedne
geröchel,
das gepreßte geröchel im
neuen deutschland,
das frankfurter allgemeine gerochel
(und das ist das kleinere Übel),
ein mundtotes würgen, das nichts von
sich weiß
Sorgte sich Enzensberger beim Erscheinen seines Buches: »Das Schlimmste, was mir passieren könnte, wäre eine gute Kritik von (Friedrich) Sieburg.«
Obwohl ihm solches Ungemach vermutlich erspart bleiben wird - in der »Frankfurter Allgemeinen« kritisierte inzwischen Rudolf Krämer-Badoni den »landessprache«-Autor als einen »Mann mit bewundernswerten Gehirnpartien und mit klirrender, manchmal scheppernder, manchmal treffender Stimme« -, will der lyrische Atemtechniker Enzensberger in etwa achtzehn Monaten das Land, wo man »unerbittlich nett zueinander« ist, wieder verlassen und zu neuem Luftholen fern der Heimat aufbrechen.
Vorher jedoch wird der fleißige und vielseitige Dichter, der sich neuerdings zur Schonung seiner strapazierten Handgelenke einer elektrischen Schreibmaschine bedient, mindestens noch eine internationale Lyrik-Anthologie unter dem Titel »Museum der modernen Poesie«, ferner eine Übersetzung der »Beggar's Opera« von John Gay sowie ein Hörspiel »Der Mittelmäßige« und schließlich auch noch eine Sammlung von Kinderreimen ausatmen.
* Hans Magnus Enzensberger: »landessprache«; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; 104 teiten; 7,20 Mark
Dichter Enzensberger
»was habe ich hier verloren?