Eine Autokratin des Geschmacks
Als Kind saß sie auf den Knien des alten Liszt und klimperte ihm etwas Beethoven vor. Als 22jährige spielte sie mit Grieg vierhändig dessen Peer-Gynt-Suite. Als reife und reiche Frau half sie Debussy und Strawinsky mit Geld aus.
Toulouse-Lautrecs Pinsel kitzelte ihre Fußsohlen. Der alte Renoir flehte sie an, ihm barbusig Modell zu stehen (sie lehnte ab und bereute es später). Dasselbe mit Maillol.
Proust hat sie in zwei Frauenfiguren seiner »Suche nach der verlorenen Zeit« porträtiert, Cocteau in einem Roman und einem Theaterstück. Lautrec und Renoir und Bonnard und Vuillard, der ihr unter Tränen eine Liebeserklärung machte, haben sie gemalt. Ravel widmete ihr »La Valse«.
In ihrem Salon verkehrten Gide und Mallarme, Diaghilew und Nijinsky, Caruso und Arthur Rubinstein, aber auch die Politiker Briand und Clemenceau. Bei ihr zu Haus und mit ihrem Augenbrauenstift malte Picasso nach der Premiere von Manuel de Fallas Ballett »Der Dreispitz« dem Komponisten einen Lorbeerkranz auf die Glatze.
Marie Sophie Olga Zenaide Godebska, genannt Misia, Tochter eines polnischen Bildhauers und einer Belgierin, die einen Cellisten zum Vater hatte, ist eine Muse und Mäzenin gewesen, wie es sie in neuerer Zeit ein zweites Mal nicht gegeben hat, ein Paradiesvogel im Paris der Belle Epoque, eine Art Super- und Edelgroupie der Kunst-Moderne bis in die goldenen Zwanziger. Die Geschichte ihres Lebens (1872 bis 1950) ist ein wahrhaft phantastischer Lesestoff.
Sie selber hat diese Geschichte kurz vor ihrem Tod erzählt. Unter dem Titel »Misia« erschienen die Memoiren 1954 auf deutsch, im vorigen Jahr kamen sie bei Suhrkamp neu heraus.
Die ganze Geschichte war das freilich nicht. Misia erzählte ihr außergewöhnliches Leben, kaum verwunderlich, mit allerhand Auslassungen. Vollständiger, genauer und auch farbiger präsentiert es sich nun in der Biographie, die zwei Amerikaner über die schöne Polin in Paris geschrieben haben: »Misia« von Arthur Gold und Robert Fizdale.
( Arthur Gold/Robert Fizdale: »Misia«. ) ( Deutsch von Jürgen Abel. Scherz Verlag, ) ( München; 400 Seiten; 36 Mark. )
Auf ihr Thema waren die Autoren als Musiker gestoßen: Gold/Fizdale sind ein international bewährtes Pianisten-Duo. Die Beschäftigung mit Komponisten wie Debussy, Ravel und Strawinsky und persönliche Begegnungen mit diesem wie mit anderen Künstlern, die Misia noch gekannt hatten, setzten sie auf deren Spur.
Das Buch der beiden Amateurschriftsteller, die ihrem Thema unter anderem »drei Winter« in Paris nachgeforscht haben, zeichnet sich durch gut dokumentierte Detailfülle, kultivierten Stil und auch ironischen Witz aus. Gold/Fizdale bewundern Misia, ohne sie zu vergöttern, sie goutieren ihre versunkene luxuriöse Welt, ohne sie zu verklären.
So ist denn durchweg mit Genuß und Gewinn nachzulesen, wie jenes »polnische Mädchen, dessen Esprit jedermann in Bann zieht und das die ganze Stadt nur zärtlich beim Vornamen nennt« (so die Zeitgenossin Colette S.133 über Misia), um die Jahrhundertwende zu einer Salon-Fürstin aufsteigt, die »einen Platz einnehmen wird in der Geschichte des Geschmacks, der Pariser Kunst« (Zeitgenosse Paul Morand).
Ausgebreitet wird der Roman ihrer drei stürmischen Ehen: mit dem Landsmann und Intellektuellen Thadee Natanson, dessen Zeitschrift »Revue Blanche« ihr den Umgang mit bedeutenden Künstlern eröffnete, mit dem millionenschweren Pariser Zeitungskönig Alfred Edwards, auf dessen Jacht »Aimee« sie die Seine und den Rhein befuhr, und zuletzt mit dem reichen Spanier Jose-Maria Sert, einem Salonkünstler, der unter anderem den Genfer Völkerbundpalast und, für 150 000 Dollar Honorar, den Ballsaal des New Yorker Waldorf-Astoria-Hotels mit Wandmalereien ausschmückte.
Die Ehe mit Natanson zerbrach an dessen Schulden, in die ihn Geschäfte mit Edwards gestürzt hatten, und an Edwards'' aggressivem Charme. Dieser Lebemann, der Misia auf einer Reise im Orient-Express bis nach Wien nachstellte, betrog die Angetraute später mit einer Pariser Schauspielerin, die auch seine ausgefalleneren sexuellen (zum Beispiel koprophilen) Bedürfnisse zu befriedigen verstand. Sert schließlich, Misias liebster Mann, erlag einer jungen Kunststudentin aus (unsicherem) georgischem Adel, die zeitweise mit dem Ehepaar zusammenlebte, und ließ sich 1927 von Misia scheiden.
Jede der drei Ehen hat zur materiellen Fundierung von Misias Musen- und Mäzenatentum beigetragen. Wichtiger dafür aber waren -- lehrreich für manchen heutigen Kunstförderer, ob Privatmann oder staatliche Institution -- andere Vorzüge: Misias Enthusiasmus, ihr sicherer Geschmack und ein untrüglicher Sinn für Qualität, der sich besonders gegenüber der musikalischen Avantgarde bewährte.
»Ich achte die Kunst nicht, ich liebe sie«, so zitieren Gold/Fizdale ein Schlüsselwort ihrer Heldin. Misia verteidigte sich damit gegen Vorwürfe, weil sie einige von ihr in Auftrag gegebene Bonnard-Gemälde nach ganz persönlichem Gusto zurechtgeschnitten hatte. Sie warf kleine Zeichnungen, die Toulouse-Lautrec während des Mittagessens an ihrem Tisch kritzelte, achtlos fort. Und sie verschenkte ein Päckchen Proust-Briefe, die sie aus Unlust an langwieriger Lektüre nie geöffnet hatte.
Ihre besten Jahre waren die, in denen Sergej Diaghilews »Ballets Russes« mit dem Superstar Vaclav Nijinsky in Paris Tanz- und Musikgeschichte machten, die Zeit der skandaltriumphalen Uraufführungen von Debussys »Nachmittag eines Fauns« (1912), Strawinskys »Le sacre du printemps« (1913) und Erik Saties »Parade« (1917).
Misia protegierte und propagierte die russischen Tänzer. Sie brachte Meister verschiedener Künste zu denkwürdiger Zusammenarbeit, vermittelte zwischen zerstrittenen. Sie rettete eine gefährdete Ballett-Premiere in letzter Stunde durch einen 4000-Franc-Vorschuß, bewirtete Tänzer, Maler, Dichter und ihren Anhang mit Champagner-Soupers (für Proust gab es heiße Schokolade). Der dankbare Strawinsky schenkte ihr eine Partitur des »Sacre«-Balletts mit seinen choreographischen Anmerkungen.
Am besten verstand sie sich mit Diaghilew. Der russische Ballett-Impresario und die polnische Pariserin, der homosexuelle Dandy und die Salonlöwin harmonierten nicht nur in ihren ästhetischen Vorlieben, als »Autokraten des Geschmacks« (Gold/Fizdale), sie trafen sich auch in ihrem Talent zur gesellschaftlichen Kabale, in der Lust an ätzendem Witz und boshafter Nachrede. Misias Domäne war, so formulieren es die Biographen, jene »belebte Ecke, wo Kunst und Klatsch sich treffen« -ein Ort, auch das lehrt das Buch von Gold und Fizdale, wo die Kunst nicht schlecht gedeiht, zumal wenn Luxus sie salbt.
Die Biographen sind in ihrem Element, wenn sie schildern, wie Misia, Diaghilew, Satie, Picasso (als Bühnenbildner), Jean Cocteau (als Librettist) und der Choreograph Leonide Massine mitten im Ersten Weltkrieg mit der Produktion des Balletts »Parade« und allerlei produktionsinternen Intrigen und Eifersüchteleien vollbeschäftigt sind.
Hübsch zu lesen auch, wie die Mäzenin 1914 Lieferwagen der Pariser Couturiers für Verwundeten-Transporte organisiert und selber vorneweg S.134 im Mercedes an die Front fährt, neben sich den 25jährigen, dank ihrer Beziehungen vom Militärdienst befreiten Cocteau in einer maßgeschneiderten Sanitäter-Uniform.
»Sich nützlich zu machen, das Elend sterbender Soldaten zu lindern«, schreiben Gold/Fizdale, »war für Misia ein aufregendes Gefühlserlebnis«, immerhin. Die russische Revolution begeisterte sie, auf Distanz, als ein »enormes Ballett«.
Zu den Lücken in Misias Lebensbeschreibung, die ihre amerikanischen Biographen ausfüllen konnten, gehört die Geschichte ihrer drei Jahrzehnte währenden, von Haßliebe geprägten Beziehung zu der Modeschöpferin Coco Chanel.
Misia hatte der noch unbekannten Chanel den Zutritt zur feinen Pariser Gesellschaft, zur adligen Schickeria auch, verschafft und so ihre Karriere gefördert. Sie nahm sie zu Ferien in Venedig mit. Nach einiger Zeit begann Coco mit ihrer Gönnerin gesellschaftlich und in der Fürsorge für aufstrebende Künstler zu rivalisieren. Strawinsky, der sich in die Modemacherin verliebte, erhielt von ihr ein Haus geschenkt. Den Dichter Pierre Reverdy machte sie Misia abspenstig.
Als Ende der zwanziger Jahre, nach der Scheidung von Sert, Misias Glanz und Geltung verblaßten, kehrten sich die Rollen um: Fortan war sie die Begleiterin der zehn Jahre jüngeren Coco, so 1931 bei einer Hollywood-Visite, zu der Produzent Sam Goldwyn die berühmte Chanel eingeladen hatte.
Als Misia ihre Memoiren verfaßte, schrieb sie auch ein Kapitel über Coco. Weil die Freundin, die selber Memoiren plante, Einwände machte, ließ sie das Kapitel fort und tilgte im -- zeitweiligen -- Zorn Cocos Namen im ganzen Buch.
Bei ihren Recherchen fanden Gold und Fizdale auch jenes unterdrückte Kapitel. Sie haben es in der Biographie vollständig abgedruckt, und so ist nun amüsant nachzulesen, wie Misia dafür sorgte, daß sich der strebsamen »Modistin«, der »Lieferantin« Chanel »die Türen der Salons öffneten«.
Und auch, wie Coco zu einem ihrer größten Erfolge kam: Sie erhielt, für 6000 Franc, das Rezept für ihre weltberühmte Parfüm-Serie ("Chanel Nr. 5") durch Vermittlung Misias, die es ihrerseits von einem ehemaligen Sekretär der Kaiserin Eugenie hatte, der seinerseits darauf in Eugenies Nachlaß gestoßen war -- ein Schönheitswasser-Rezept aus dem 16. Jahrhundert vom Parfümier der berüchtigten Katharina von Medici.
Misias letztes Lebensjahrzehnt war voller Tristesse. Zwar, den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Okkupation überstand die alte Dame in Paris leidlich, nicht zuletzt wegen der guten Verbindungen ihres Ex-Ehemannes Sert, Franco-Anhänger und Liebhaber einer deutschen Diplomatengattin, zur Besatzungsmacht.
Aber während manche ihrer französischen Freunde -- wie der Schriftsteller Morand, wie der Tänzer Serge Lifar, der sich rühmte, von Hitler zärtlich gestreichelt worden zu sein, oder wie auch die Antisemitin Coco Chanel -- durchaus mit den Nazi-Besatzern sympathisierten und kollaborierten, hatte die gebürtige Polin für diese nichts übrig.
»Die Truppen halten Einzug wie in einer Wagneroper«, notierte 1940 in Paris der Misia-Freund und spätere Ghostwriter ihrer Memoiren Boulos Ristelhueber. »Gravitätisch und hochmütig ziehen sie erdbebengleich dröhnend vorbei. Reihen von Wotans und Lohengrins mit blitzenden Stahlhelmen, übernatürlich schön.«
Misia sah in den deutschen Eroberern nur »zu groß gewordene homosexuelle Pfadfinder«. (Das Wort »homosexuelle« ist in der deutschen »Misia«-Übersetzung, wie noch manches andere, ausgelassen.) Sie sympathisierte mit der Resistance, mit Serts Hilfe wurde der jüdische Ehemann der Schriftstellerin Colette vor dem KZ gerettet. Für den Poeten Max Jacob kam Serts und Misias Fürsprache zu spät.
1945 war ihre schöne alte Welt endgültig dahin. Nun kam sie auch mit der Kunst nicht mehr mit, mißbilligte etwa, zur Bekümmerung des Künstlers, Picassos neuere Werke.
Vereinsamt, deprimiert und von Schmerzen geplagt, verfiel sie immer mehr ihrer Morphiumsucht (die sie mit nicht wenigen ihrer Künstlerfreunde teilte). Gelegentlich setzte sie sich auch in der Öffentlichkeit einen Schuß durch den Rock. Einmal wurde sie von der Polizei festgenommen und für eine Nacht zusammen mit anderen Drogensüchtigen, mit Betrunkenen und Prostituierten eingesperrt.
Am 15. Oktober 1950 starb Misia Sert in Paris. Ihr Leichnam wurde von Coco Chanel zurechtgemacht und geschmückt.
Wenige Stunden vor ihrem Tod hatte die Sterbende einer Besucherin gesagt, sie solle sich »etwas aus diesem Zimmer« als Andenken mitnehmen -»schnell, ehe Coco da ist«.
S.132Arthur Gold/Robert Fizdale: »Misia«. Deutsch von Jürgen Abel. ScherzVerlag, München; 400 Seiten; 36 Mark.*Mit Ehemann Edwards (r.) und Freunden an Bord ihrer Jacht.*S.134Am Lido von Venedig mit Diaghilew (l. stehend), Coco Chanel (l.) undeiner italienischen Freundin.*