»Eine Beschreibung deutscher Verhältnisse«
SPIEGEL: Sie haben am Hamburger Schauspielhaus das »Fatzer«-Fragment von Brecht inszeniert. Warum dieses Fragment? Halten Sie die anderen Stücke Brechts für ausgespielt?
Karge: Wir haben vor gut zehn Jahren, 1967, noch mit dem Berliner Ensemble versucht, ein zweites Programm aufzubauen, und hatten das mit den Brecht-Abenden gemacht, wo wir mit nicht als Stücken ausgeschriebenen Texten experimentierten. Und dabei kam damals auch der Gedanke auf, mit den Fragmenten etwas anzufangen, die relativ unbekannt waren. Damals kam die Arbeit »Brotladen« mit der Premiere 67 zustande. Wir stießen auf ein Zitat von Brecht, der »Brotladen« und »Fatzer« für seine dramaturgisch besten Arbeiten hielt. Seit damals haben wir den »Fatzer« schon am Wickel. Das ist aus verschiedenen Gründen damals nicht zustande gekommen, aber uns hat das Material dann über viele Jahre immer wieder beschäftigt. Wir wollten den »Fatzer« dann zum Brecht-Geburtstag in Berlin an der Volksbühne machen. Da haben wir aber die Rechte von den Brecht-Erben nicht bekommen, so daß wir schließlich das Angebot von Hamburg angenommen haben.
SPIEGEL: Was reizt Sie thematisch am »Fatzer«?
Langhoff: Thematisch reizt einen natürlich im Moment hier in der Bundesrepublik am stärksten die Beschäftigung mit einem Thema, das sich als Terroristen-Problematik umschreiben läßt. Und die Brechtsche Betrachtungsweise, daß er den Egoisten Fatzer oder den Untergehenden nicht kritisch negativ bewertet.
SPIEGEL: Es handelt sich doch im »Fatzer« um eine Gruppe von Deserteuren im Ersten Weltkrieg, die nach Mülheim kommen und sich dort zu verstecken suchen. Das Verhältnis von Fatzer zu seinen Kameraden ist das wechselseitiger Egoismen. Und das betrachtet Brecht trotzdem positiv?
Langhoff: Ich glaube ja, oder zumindest er wertet es nicht in dem Maße. Ich glaube, deswegen ist das auch Fragment geblieben.
SPIEGEL: Nun spielen Sie den »Fatzer« zusammen mit Kleists »Prinz von Homburg«, und über den Prinzen von Homburg gibt es von Brecht ein ziemlich verächtliches Sonett.
Langhoff: Ich glaube, daß diese Kleist-Betrachtung von Brecht zu einseitig war oder vielleicht eine Verärgerung gegenüber Kleist ausdrückte, den er dann zu ungenügend gelesen hätte. Das Wesentliche beim »Homburg« ist für uns die Frage der Kujonierung, d. h. die Frage nach einem Staatswesen, das als äußerste Maxime für alle wirklich nur Zucht und Ordnung kennt. Aber das ist keine nachträgliche Kritik an der Kleistschen Homburg-Figur, sondern das ist die von Kleist vorgenommene Beschreibung von wirklichen deutschen Verhältnissen -- das heißt immer Staatswesen und nie Gemeinwesen.
SPIEGEL: So hat der preußische Hof das Stück ja auch verstanden und quasi unterdrückt.
Karge: Richtig, der Hof hat das völlig richtig verstanden. Ich glaube auch, ganz richtig verstanden, daß in diesem jungen Burschen etwas ungeheuer Anarchistisches ist, was mit aller Gewalt zerstört werden soll. Ich finde eigentlich das Interessante an dem Stück, daß der Homburg wirklich dadurch, daß er zum Schluß weiterleben muß, umgebracht wird.
SPIEGEL: Es gibt zur Zeit in Hamburg eine Plakat-Aktion der CDU, auf der zu lesen steht: »Linke Träumer gefährden die Zukunft unserer Kinder«. Da haben Sie dieses Träumerelement ...
Karge: Durchaus ...
SPIEGEL: Wollen Sie also mit beiden Stücken die Terroristen-Furcht und Hysterie mit darstellen?
Langhoff: Ja, und ich meine auch, daß der »Homburg« die konkreteste und miserabelste Alternative zum Terrorismus-Problem in Deutschland darstellt. Denn warum ist das Terrorismus-Problem hier so gewaltig? Weil man hier überhaupt nur das Staatswesen als Alternative kennt. Nichts sonst. Und deswegen fanden wir es wichtig, dieses Stück, das so extrem die Ödheit eines Staatswesens zeigt, gegen den »Fatzer« zu stellen.
SPIEGEL: Wenn Sie jetzt in Hamburg inszeniert haben, hat das seinen Grund auch darin, daß momentan in Berlin(Ost) für Experimente mit Brecht keine Chance besteht?
Langhoff: Ja, wir hätten dieses Stück sehr gern mit unserem Ensemble, der Volksbühne, gemacht. Aber wir haben, wie gesagt, die Rechte nicht bekommen und haben auch danach ein Projekt, das wir machen wollten, nämlich das Preußendrama von Heiner Müller, nicht machen können.
SPIEGEL: Wenn Sie die Rechte bei der Volksbühne nicht bekommen haben -- die Rechte hätten Ihnen die Brecht-Erben auch für Hamburg verweigern können.
Karge: Ja, das hängt wohl mit der gesamten Theatersituation in Berlin zusammen, die für uns im Moment unerquicklich geworden ist. Wir haben zusammen mit anderen über acht Jahre lang versucht, an der Volksbühne ein neues Theater in Berlin aufzubauen, und dabei einen Kampf darum geführt, daß Brecht an allen Berliner Theatern gespielt werden darf -- und nicht nur am Berliner Ensemble.
SPIEGEL: Die Erlaubnis, Brecht an der Volksbühne zuspielen, wäre in Ihren Augen eine nötige Alternative zu den musealen Praktiken des Berliner Ensembles gewesen?
Langhoff: Ja, und es gab auch Abmachungen oder Gespräche darüber. Als Ruth Berghaus noch Intendantin des BE war, haben einige, wie ich glaube: vernünftige Theaterleute Berlins gehofft, auf diese Weise die Verkrustung zu lockern. Eingetreten ist heute das Gegenteil, das heißt mit dem Professor Doktor Wekwerth ist die Institution Berliner Ensemble wieder gefestigt, gleichzeitig ist in ziemlich radikaler Weise ein Theaterversuch wie der an der Volksbühne zum Scheitern gebracht worden. Sie wissen, daß Besson seine Intendanz aus all diesen Gründen nicht mehr weiterführt.
SPIEGEL: Hätten Sie auch nach Magdeburg oder auch nach Dresden statt nach Hamburg ausweichen können?
Karge: Ich kann nur so viel sagen: wir haben von Magdeburg oder Dresden bis heute keinerlei Angebote erhalten.
SPIEGEL: Hängen Ihre Schwierigkeiten an der Ost-Berliner Volksbühne eigentlich mehr mit Eigenarten und Ticks der Brecht-Erbin zusammen, die das Werk des Vaters wie ein privates Erbgut betrachtet, oder geht es auch um eine politische Auseinandersetzung mit Ihrer Arbeit?
Langhoff: Ich sehe da eine politische Auseinandersetzung. Also wenn es wirklich nur um die Dummheit der Brecht-Erben ginge, dann wäre das kein Gegenstand; dann müßte man sagen, das ist zwar schlimm, aber man muß eben ohne Brecht auskommen. Die Theatersituation in der DDR, die Art sich auseinanderzusetzen, hat für mich im Moment etwas Rückläufiges, wieder etwas Konservierendes. Daß Versuche wie die der Volksbühne gestoppt werden, nur aus der Furcht, daß die Versuche selbstverständlich Sprengstoff, also auch Sprengstoff für das Theater in sich haben, zeigt einen gewissen Trend zur Konservierung, den wir immer meinten, mit Brecht durchbrechen zu können. Und dafür war Brecht uns wichtig. Man kann ihn nicht losgelöst von diesem Zusammenhang sehen, sonst ist es wirklich nur so, daß man sich über die Albernheit dieser Brecht-Tochter unterhält. Das kann nicht der Gegenstand von Theaterarbeit sein.