OPER Eine Diva in Blue Jeans
Lange wird sie es nicht mehr aushalten. »Zu spät«, singt die leichenblasse Heldin, zu spät sei es für Versöhnung und Happy End. Klagende Kantilenen, qualvolles Tremolo, noch eine herzzerreißende Umarmung der Liebenden, dann erliegt Violetta, die Kameliendame aus Giuseppe Verdis »La Traviata«, ihrer Schwindsucht - wenn nötig, jeden zweiten Abend.
Schwerstarbeit ist das, natürlich, doch für Anna Netrebko, 32, bedeutet es weit mehr. Glaubhaft bleiben bis zum Tod, überirdisch singen trotz gespielter Höllenpein, das ist ihre Leidenschaft, darin will sie perfekt sein, sogar wenn sie Texte singen muss, über die literarisch beschlagene Menschen nur gerührt grinsen.
Auch am 20. Juli, eine Woche nach dem ersten Galakonzert, wird die Sopranistin an der Münchner Staatsoper Verdis Edel-Hure verkörpern, als wäre sie selbst todgeweiht, und das mit einer klanglichen Verve, die noch jeden Saal zu Ovationen hingerissen hat.
»Eine bemerkenswerte Kombination aus Leichtigkeit und genügend Gewicht« attestierte ihr eher steifleinen der Wiener »Kurier« Anfang April beim »Traviata«-Gastspiel. »Glockenrein«, »silbern«, »süß und ein ganz bisschen scharf wie dunkler Honig«, »einzigartig ausdrucksstark«, ja »laser-perfekt«, mit solchen Vorkosterwörtern hat manch ein Spezialist versucht, ihrem punktgenauen, dunkel getönten Ausnahme-Sopran gerecht zu werden.
Da ist es schon leichter, das Bühnenwesen Netrebko zu schildern: »berückend«, »grazil«, »geschmeidige Eleganz, katzenhafte Schönheit und mit das strahlendste Lächeln der Zunft«, schwärmen die Kritiker. Wieder bei Sinnen, loben sie, wie munter die Sängerin auf der Bühne agiert: Von Mozarts innig-keuscher Pamina bis zur durchtriebenen Rosina aus Rossinis »Barbier von Sevilla«, von Bellinis schlafwandelnder Amina bis zur Bauernschönheit Micaëla aus »Carmen« scheint kein weiblicher Charakter ihr fremd zu sein.
Oder doch? Ja, auch Violetta zu sein mache Spaß. »Aber im Grunde finde ich Heldinnen, die nur schmachten, öde«, sagt sie lächelnd. »Es muss an der Figur was Tolles dran sein, etwas Spannendes.« Die empörte Donna Anna aus Mozarts »Don Giovanni«, mit der sie vergangenes Jahr sensationell bei den Salzburger Festspielen debütierte, in so eine Rolle kann sie sich hineinsteigern. Am liebsten mag sie in Mozarts Tonkosmos die ironisch-gewitzte, Männer durchschauende Braut Figaros, Susanna. »Die melancholische Gräfin dagegen werde ich nie singen, selbst wenn meine Stimme sich dahin entwickelte«, erklärt sie rasch, und ihre Augen blitzen.
Es muss ja nicht ihr letztes Wort sein. Wohl beherrscht sie längst ein Repertoire, das bis zum Ende einer Karriere vorhielte, von Mozart und den Belcanto-Rollen des 19. Jahrhunderts bis zur Natascha in Prokofjews gewaltiger Tolstoi-Oper »Krieg und Frieden«, dazu Lieder, russische natürlich, aber auch die verführerisch perlenden von Richard Strauss ("Einfach klasse"). Trotzdem möchte sie sich nicht zu sehr festlegen.
»Ich war damals sowieso erstaunt, als ich auf dem Petersburger Konservatorium zu hören bekam, ich hätte eine gute Stimme«, sagt sie mit professionellem Understatement. Gewiss, zur Bühne hatte sie schon mit fünf Jahren gewollt, »tanzen oder spielen«, Opern dagegen hasste sie. Aber dann war die Aufnahmeprüfung für Gesang auf einmal »viel leichter« - und parallel dazu entdeckte die Studentin an den Opernfilmen von Franco Zeffirelli, vor allem aber bei den Aufführun-gen von Walerij Gergijews Kirow-Truppe, wie spannend großes Musikdrama sein kann.
Klar, dass die Callas ihr Idol wurde - auch wenn ihr eigener Allround-Sopran, der zärtlich gurren, aber auch virtuos tirilieren und schmettern kann, kaum etwas vom Bitterstoff der großen Tragödin an sich hat. Klar, dass sie die große Mirella Freni verehrt ("Wenn ich sie gehört habe, singe ich besser") und natürlich Altmeisterin Renata Scotto, von der sie erst kürzlich nach Italien eingeladen wurde.
Fehlt nur noch die nette Geschichte, dass Maestro Gergijew die Studentin aus dem fernen Süden, aus Krasnodar, nicht als Siegerin im renommierten Glinka-Gesangswettbewerb, sondern als Putzhilfe in seinem Mariinskij-Theater entdeckt haben soll, und die Mär vom Naturtalent ist perfekt. In Anna Netrebkos Rückblick gibt es weder Schweiß noch Tränen.
Wie von Wolken getragen scheint sie unter Gergijews Leitung die Titelrolle in Glinkas Märchenoper »Ruslan und Ljudmila« gemeistert zu haben, die den ersten Auslandserfolg in San Francisco brachte; wie träumend hört sie es an, wenn die Reinheit ihrer Stimme mit den Jahrhundertgrößen Rosa Ponselle oder Maria Callas verglichen wird; stundenlang hätten jetzt die Wiener um Karten für ihre »Traviata« angestanden - »ich bin so glücklich!«
Doch wer in all dem nur eine Hochglanzfassade nach amerikanischem Marketing-Muster erblickte, läge eben auch falsch. Den Weichzeichner des Fotografen, dem sie für ihr im Juli erscheinendes Debütalbum mit großen Arien von Mozart bis Dvorák und Puccini posieren musste, hat Anna Netrebko wahrlich nicht nötig. Auch fern der Oper, wo sie am liebsten Jeans trägt, ist und bleibt sie eine Schönheit.
Sosehr sie den Erfolg genießt, so hart bleibt ihre Selbstkritik. Dass die Klangfarben-Palette ihrer Stimme manchmal noch ein paar Schattierungen mehr vertragen könnte, weiß sie am besten. Barockopern? »Ich könnte es versuchen, aber es ist eben ein ganz anderer Stil.« Britisches? »Ach, ich mag Benjamin Britten so sehr - aber das kann ich nicht singen, es ist auf Englisch. Händel habe ich probiert, aber es geht nicht; keine Ahnung, warum.« Wagner? »Mein Lieblingskomponist, wunder-
bar! Aber singen - na ja, vielleicht in zehn Jahren Elsa im ''Lohengrin'' oder Eva in den ''Meistersingern''. Aber das sind riesige Aufgaben, und meine Stimme ist doch nicht groß genug.«
Ein lyrischer Koloratursopran, der in der Wiener Staatsoper mühelos alle Partner übertönt, zu mager? Eine Model-Erscheinung, die nach zwei Stellproben jede Aufführung nicht nur meistert, sondern mit ihrem Temperament beherrscht, und dann solche Skrupel? Vielleicht ist es auch bloß routinierte Bescheidenheit.
»Wenn ich erst einmal auf der Bühne bin«, sagt sie, »dann ist es vorbei mit der Nervosität, dann fühle ich mich wie auf der Achterbahn.« Legato, Piano und Triller als Thriller für sich selbst und das atemlose Publikum, als sportliche Herausforderung, die einen durchschütteln muss, wenn sie echt sein soll - so nüchtern fasziniert begreift sie ihren Beruf. Kein Wunder, dass sie gern reitet und neuerdings auch Tennis spielt, sofern noch Freizeit übrig ist.
Viel davon hat es in der letzten Zeit nicht gegeben. Jüngst, zwischen Engagements in Wien und St. Petersburg, blieben ihr gerade mal zehn Tage, um mit ihrem Freund, dem italienischen Rossini-Tenor Simone Alberghini, im toskanischen Kurort Saturnia ein wenig auszuspannen. »Seit zwei verdammten Jahren«, mault sie ganz undamenhaft, »arbeite ich wie ein Pferd. Ich bin so müde, ich kann kaum noch Musik hören.« Ihre Eigentumswohnung in St. Petersburg sieht sie fast nur zum Ein- und Auspacken ihrer Koffer.
Das wird sich dieses Jahr kaum ändern. Nach den zwei Abenden in München geht es zum Star-gespickten Verbier Festival in der Schweiz, wo sie sogar Pergolesi singen wird - also doch Barock -, dann folgen Salzburg, »Figaro« in Florenz, Los Angeles, San Francisco und noch einmal sieben Abende in Los Angeles.
Dort wird sie schon wieder eine Märtyrerin der Liebe verkörpern: Donizettis Lucia di Lammermoor. Wieder muss sie glaubhaft und voller Passion dem Unheil entgegensingen. Zum Lohn aber gibt es ein Sonder-Solo für ihre Stimme: Vor ihrem Tod wird Lucia wahnsinnig. Der Ehrgeiz, diese hochmelodiösen Irrsinnsszenen Wirklichkeit werden zu lassen, macht aus der Rolle dann doch noch das, was Anna Netrebko einfach braucht: eine tolle Partie. JOHANNES SALTZWEDEL
* Links: als Donna Anna in Mozarts »Don Giovanni«, mit ThomasHampson in der Titelrolle; rechts: als Servilia in Mozarts »Laclemenza di Tito«.