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Eine fremde, seltsame Welt

Kritiker verließen zwar unter Protest die Vorführung, doch der Skandalfilm »Wild at Heart« errang bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme. Der amerikanische Regisseur David Lynch ("Eraserhead«, »Blue Velvet") steigt damit endgültig vom Kultfilmer zum gesuchten Starregisseur auf.
aus DER SPIEGEL 34/1990

Die Leserin, die sich beim Boston Herald meldete, war tief beunruhigt. Sie bewundere Laura Dern ja so, aber es gebe da Gerüchte, ihr Liebling habe in einem Pornofilm mitgewirkt. Nein, erwiderte ihr der Leserdienst, Laura Dern sei bisher an keinem Porno beteiligt gewesen, allerdings zeige der Film »Wild at Heart«, in dem sie eine Hauptrolle spiele, ein paar sehr eindeutige Szenen.

Kaum weniger besorgt waren die Filmberichterstatter von der FAZ und der SZ. Beide erklärten sie »Wild at Heart«, als er in Cannes vorgeführt wurde, zur cineastischen Katastrophe; der eine renommierte bei seinen Lesern sogar damit, daß er die Vorführung lange vor dem Ende des Films verlassen hatte. Peinlich war dabei nur, daß die Berichte erst nach der Verleihung der Goldenen Palme erscheinen konnten, als längst feststand, daß ausgerechnet jener Film triumphiert hatte, den der eine als »widerwärtige Melange von Brutalität und Sentimentalität« (SZ) empfand und von dem der andere genau wußte, daß »beim Festival von Cannes kein widerlicherer Film« (FAZ) zu sehen war.

Wenn gleich zwei seriösen Feuilletons der Untergang der abendländischen (Kino-)Kultur schwant, dann muß schon ziemlich viel Gefahr im Verzug sein. David Lynchs fünfter Film, der am vergangenen Wochenende in den USA anlief und vom 20. September an in den deutschen Kinos zu sehen sein wird, dürfte den eigensinnigen Regisseur endgültig durchsetzen - und das fast 20 Jahre nachdem Hollywood das Autorenkino einkassiert hat.

»Wild at Heart« erzählt die älteste Geschichte der Welt: zwei Königskinder, die nicht zusammenkommen können. Daß sie es am Ende doch tun, daß sie jahrelange Trennungen überstehen, die der Junge Sailor (Nicolas Cage) im Gefängnis verbringt, während das Mädchen Lula (Laura Dern) allein ihr gemeinsames Kind aufzieht - das gehört zu den unglaublichen Wundern in Lynchs Version der Geschichte.

Sie beginnt mit einem Totschlag, den Sailor begeht: Er knallt einen auf ihn angesetzten Killer so lange mit dem Kopf gegen die Wand, bis der Mann in einer Blutlache tot daliegt. Aber nach diesem Gewaltakt beruhigt sich der Film, Sailor wandert ins Gefängnis. Als er nach fast zwei Jahren entlassen wird, flieht er mit seiner Freundin nach New Orleans, und Lulas Mutter setzt Killer auf Sailor an. In Rückblenden erfährt man allmählich, warum: Sailor wurde als Fahrer des Fluchtautos Zeuge des fingierten Unfalltodes von Lulas Vater (er starb im Feuer); und dann ist diese Frau eifersüchtig auf den Jungen, weil er ihr die geliebte Tochter wegnehmen will.

Eines Nachts passiert das Ausreißerpaar den Schauplatz eines grausigen Verkehrsunfalls: Die einzige Überlebende traut sich nicht nach Hause, weil sie von ihrer Mutter Vorwürfe wegen des verlorenen Portemonnaies erwartet. Das Mädchen wundert sich noch über das klebrige Zeug, das ihr aus dem _(* Laura Dern, Nicolas Cage. ) Haar trieft, Blut, dann ist sie tot.

Voller Unschuld, aber mit wißbegierig aufgerissenen Augen haben Sailor und Lula dem Mädchen beim Sterben zugesehen. Ein texanisches Kaff namens Big Tuna ist die nächste Station ihrer Fahrt durchs Unglück. Sie lernen dort Bobby Peru (Willem Dafoe) kennen, einen widerlich schleimigen Mexikaner, der ihnen beiden zusetzt. Dieser Teufel in Gestalt des feindlichen Ausländers naht sich Lula als Verführer und Sailor als Kumpel. Er überredet den Willenlosen zu einem Banküberfall, bei dem er ihn zu erschießen gedenkt; denn Bobby ist der Hitman des Gangstersyndikats.

Nur zufällig entgeht Sailor seinem Tod; statt dessen muß er wieder ins Gefängnis. Am Ende schickt ihn die gute Fee aus einem älteren Märchen, der amerikanischen Sage vom Land hinter dem Regenbogen im »Wizard of Oz«, zurück zu Frau und Sohn, und alles wird gut werden.

Dieses harmlose Märchen vom verfolgten Liebespaar kann es aber nicht sein, was Kritiker und Laien so gegen »Wild at Heart« aufbringt, es ist die heimtückische Art, in der Lynch seinen bisher besten Film inszeniert hat.

Wie schon in »Blue Velvet« (1985) schwelgt Lynch auch diesmal in den Fünfzigern, als sich Amerika zur Jugend bekehrte. Hätte er unter Eisenhower gearbeitet, dann hätte Lynch B-Pictures gedreht, billige und ein wenig lächerliche Filme über mutierte Spinnen und wie Ritter gewandete Marsmenschen.

Vielleicht hätte er auch schon bei einem der Jugendfilme mitgemacht, bei » . . . denn sie wissen nicht, was sie tun« oder »Saat der Gewalt«. Vielleicht hätte er auch ein ähnliches Wunderwerk zustande gebracht wie der Schauspieler Charles Laughton mit dem einzigen Film, den er selber gedreht hat, »Die Nacht des Jägers« (alle 1955). Denn offensichtlich ist die nächtliche Reise von Lula und Sailor durch die Südstaaten von der expressionistischen Fahrt auf dem Märchen-Fluß inspiriert, die die beiden verfolgten Kinder in Laughtons Film unternehmen. Hinter ihnen jagt der falsche Prediger her, am Ufer werden sie von wilden Tieren belauert, doch obwohl sie vom Bösen umfangen sind, kann ihnen nichts geschehen.

Die fünfziger Jahre, das zeigt Lynch auch in seiner erfolgreichen Fernsehserie »Twin Peaks«, sind für ihn noch keineswegs vergangen. Die Zeit der ersten Jugendrebellion, die ersten Jahre des Rock''n''Roll: Das ist für ihn wie heute.

Ursprünglich hatte David Lynch Maler werden wollen; seinem Blick durch die Kamera auf die Welt merkt man es noch an. Wie der berufsmäßige Voyeur sieht er immer einen Moment zu lange hin, als könne er sich nicht so schnell von seinen perfekt inszenierten Tableaus trennen. Eigentlich ist Lynch gar kein Filmregisseur, sondern nur ein Arrangeur gewalttätiger Bilder. Das beginnt mit den Titeln, hinter denen ein aufflammendes Streichholz explodiert, und hört noch lange nicht auf mit Marietta Pace, Lulas Mutter, die sich wie eine Indianerin auf dem Kriegspfad das ganze Gesicht mit Lippenstift beschmiert.

Lynch kultiviert damit das Staunen seines jugendlichen Helden Jeffrey Beaumont in »Blue Velvet«, der die Nachtseite der Wirklichkeit kennenlernt: »Es ist eine fremde, seltsame Welt.« Für jemand, der aus Missoula in Montana kommt, bei den Pfadfindern war und 1961 als Fähnleinführer der Vereidigung von Präsident Kennedy beiwohnen durfte, bleibt die Welt ein Wunder. Noch immer, auch wenn er seine Naivität inzwischen hervorragend spielt, schaut Lynch mit den großen Augen des Jungen aus Missoula in die Welt.

Die Gräßlichkeiten, die man dem Regisseur Lynch vorwirft, sind schieres Kasperle-Theater, Effekte, über die man auch lachen kann. Bei dem Banküberfall verliert einer der beiden Schalterbeamten eine Hand. Während er zusammen mit seinem ebenfalls blutüberströmten Kollegen danach sucht und der ihn damit tröstet, daß es heutzutage gute Prothesen gebe, schleppt ein Hund die abgeschossene Hand zur Tür hinaus.

Das ist mehr ein schülerhafter Scherz als die Grausamkeit, bei der für manchen Kritiker der Kino-Spaß aufhört. An Stellen wie dieser geht »Wild at Heart« in einem irren Comic strip auf. Ebenso schülerhaft wirkt Lynchs Reverenz an Alfred Hitchcock: Wie sein Meister will er möglichst viele Toiletten ins Bild bringen.

»Wild at Heart« ist aber noch ein wenig mehr als das Amüsement des Erwachsenen, der selig seine knabenhaften Gelüste nacherlebt; der stolz wie ein Autodidakt den Ödipuskomplex vorführt und so tut, als habe er ihn eben erst entdeckt.

In der verstörendsten Szene von »Wild at Heart« verschafft sich Bobby Peru, der »schwarze Engel«, Einlaß in das Motelzimmer, in dem Lula auf Sailor wartet. Mit Drohungen setzt er ihr zu, umgarnt sie mit all seiner Schmierigkeit, fordert sie auf, ihn mit »Fick mich! Fick mich!« zu reizen, und als er sie fast soweit hat, entzieht er sich ihr grinsend. Lula zittert noch, als das Scheusal sie längst allein gelassen hat; sie schämt sich ihrer unwillkommenen Gier. Hier hat Lynch schockhaft den Einbruch des Bösen vorgeführt, und er brauchte sich nicht einmal auf ein ironisches Zitat zurückziehen.

Wenn der Zuschauer das Kino verläßt, ist er erschlagen von den Effekten, die der kindliche Pyromane für ihn aufgeboten hat. Ein Schrecken, ein Bild jagt das nächste, doch mittendrin steht ein Zauberer, der sich die reine, unschuldige Freude am Spiel bewahrt hat. Wer ihm nicht bis hinter den Regenbogen folgen mag, der soll sich ruhig auf seinen guten Geschmack hinausreden; die Filme von Lynch sind zum Glück geschmacklos. »Wenn man darüber reden kann, hat das nichts mehr mit Kino zu tun«, sagt David Lynch.

* Laura Dern, Nicolas Cage.

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