Zur Ausgabe
Artikel 72 / 95

Eine Magd voll Blut und Wunden

SPIEGEL-Redakteur Hellmuth Karasek über »Stigma« in München *
aus DER SPIEGEL 20/1987

Felix Mitterers »Stigma« läßt sich als düstere Bauerntragödie erzählen, die unter einem katholisch verhangenen Tiroler Himmel im 19. Jahrhundert spielt. Eine Art Gretchen namens Moid, als Magd, von den Knechten bedrängt, von Bauer und Bäuerin geduckt, vom Sohn vergewaltigt.

Die Schwangere, die sich in religiösen Wahn, in sie schüttelnde Hysterie flüchtet, des Heilands blutende Wundmale an Händen und Füßen zeigt. Von einem herbeizitierten Mediziner und einer herbeigereisten Kirchenautorität als Schwindlerin und Teufelsbesessene entlarvt wird und elend zugrunde geht.

Da fehlt nichts; Blut fließt, Knödeln dampfen, es wird gehungert, gerauft, gewildert; das Stück ist so derb geschnitzt wie die Holzlöffel, mit denen die Bauersleute gierig und hastig in ihre Teller fahren.

Felix Mitterers »Stigma« läßt sich auch als lastende, naive Legende erzählen, in der Glaube und Wunder wie ein schweres Wetter in ein Tiroler Bauerngehöft einfahren.

Wie, wenn Gott seine Wunder mitten im 19. Jahrhundert unter armen Leuten wiederholt? Wenn er das Unglück seiner Gnade an einer armen Magd vollzieht, sie die Passion Christi mit-leiden, nachleiden läßt? In einer brünstig aufgeladenen Welt, deren Männer das Mädchen so lange bedrängen, bis sie sich in die Inbrunst zu Jesus flüchtet und rettet, alle Schrecknisse eines Wunders erleidend.

Eigentlich sind diese beiden Stücke, die in Mitterers »Stigma« zusammengezwungen sind, unvereinbar: das 19. Jahrhundert, das nach sozialen Gründen und Ursachen fragt und an sie glaubt, und der Glaube, der zwar keine Berge versetzen, aber Wunden fließen lassen kann und der sich jede Frage nach Ursache und Wirkung verbietet.

Hat man allerdings vor Augen, daß fast gleichzeitig, als »Stigma« auf der Bühne des Münchner Residenztheaters geprobt wurde, im Olympiastadion der Papst in München einen neuen Heiligen als Seligen aus der Tiara zauberte, während über die computergesteuerte Anzeigetafel (die sonst zeigt, daß Hoeneß, notfalls mit blutender Märtyrerstirn, ein Tor geschossen hat) Rupert Mayers Heiligenbild elektronisch nachgezeichnet wurde - dann, ja dann kommen einem die Unvereinbarkeiten im letzten Jahrhundert noch wie pure Harmonie vor.

In München hat Franz Xaver Kroetz Mitterers »Stigma« inszeniert. Er hat sich dabei das Stück mit einer imponierenden Selbstverständlichkeit angeeignet: Es ist jetzt von Kroetz und von Mitterer zugleich.

Die Widersprüche und Brüche zwischen Stationen-Drama und Mysterienspiel auf der einen, sozialkritischer Studie auf der anderen Seite sind nicht weggebügelt, sondern von Kroetz so schroff verstärkt worden, daß sie zum eigentlichen Thema des Stücks werden.

In der Kroetz-Inszenierung reiben sich Wunder und Wirklichkeit direkt aneinander, ohne daß uns Erklärungen an die Hand gegeben werden. Im Gegenteil: Die stärkste Wirkung geht von der Aufführung dann aus, wenn sie mit der magischen Kraft ihrer realistischen Bilder alle Vernunftsuche ad absurdum führt.

Im Zentrum der Aufführung steht das Exorzistenbild. Sowohl der Medizin-Professor wie der Monsignore befragen die Stigmatisierte hochnotpeinlich mit ihren Methoden. Beide, sowohl der Arzt wie der Geistliche, sind Experten in ihrem Fach, selbstsicher, versiert, routiniert, sie lächeln stolz und überlegen, wenn andere Zweifel anmelden.

Der Arzt (Hans Diehl spielt ihn als schmalen, sich in seine professorale Autorität rettenden Behandlungs-Bürokraten) führt mit einer Ahle durch die Wunden und verkündet dem versammelten Volk seine diagnostischen Einsichten wie von der Kanzel. Monsignore dagegen packt sein Exorzisten-Besteck aus, als handle es sich um naturwissenschaftliche Instrumente. Beide sind Kinder eines positivistischen Zeitalters, das Glauben wie Unglauben umfaßt.

Und doch gehen beide an Moid, der Magd, zuschanden, sie können sie nur

quälen und peinigen, nicht überführen. Weder die felsenfest an sich glaubende Medizin beweist was, wenn sie herausfindet, die Wunden seien echt, aber das Mädchen andererseits schwanger. Noch der teufelsaustreibende Satanologe, der sich schließlich samt dem Mädchen und dem Dorfpfarrer konvulsivisch zuckend mit Schaum vor dem Munde auf dem Boden wälzt. Er zeigt bestenfalls, daß der Teufel auch keine weniger zutreffende Umschreibung für bestimmte Zustände ist als naturwissenschaftliche Diagnosen.

Die Inszenierung von Kroetz, in magisch kargen Räumen angesiedelt und von Armen, Gebrechlichen, Geschlagenen bevölkert, die der Regisseur so unsentimental sieht wie ein Bunuel, fragt daher auch nicht, wer Moid geschwängert hat - wenn sie, wie von unsichtbaren Engeln getragen, zu ihrem Heiland emporfährt, sagt die Aufführung nur, daß Gott oder dem Theater oder unserer Phantasie kein Ding unmöglich ist.

Heinz Hausers Bühnenbild zeigte vereinfachte Räume mit fast symbolischem Licht und lastenden Perspektiven, zu denen die detailbesessenen Kostüme (Otto Kollross) wirksam kontrastierten.

Nein, Kroetz (und Mitterer in dieser Aufführung) geht es um anderes: Es schält sich das Drama einer Frau heraus (und Olivia Gregolli spielt sie, ganz unbekümmert um vorteilhafte Wirkung bald als schreiend Besessene, bald als somnambul Entrückte), die aus einer Männerwelt aus Habgier, Brunft und kalter Berechnung förmlich in eine andere Wirklichkeit der blutenden Phantasmagorien gedrückt wird.

Am Anfang sitzt sie bedrängt und beengt am Tisch, die Knechte drücken die Knie an sie und umwerben sie gewalttätig. Am Ende, breit, schwanger, durch alle Höllen gegangen, sitzt sie raumgreifend da. Die Männer, die Distanz zu ihr halten, werden ihrer nur noch Herr, indem sie sie, abweichend vom Mitterer-Text, einfach abstechen.

Die Blutrünstigkeit, die Blutbrunst eines dörflich magischen Katholizismus mischt das Blut aus Wundmalen, aus Menstruation und Entjungferung. Kroetz, dies ist das größte Verdienst der Aufführung, stellt sich auch als Regisseur nicht besserwisserisch oder gar denunziatorisch zwischen das Stück und die Schauspieler, und so gibt es zwei Priesterporträts, wie sie rührender, bedrohlicher und komischer zugleich nicht denkbar sind: Wolfgang Reinbacher als Exorzist, der den Teufel in sich entdeckt, und Herbert Rhom als abgerissenen Gottesmann, der dem Mädchen erst mißtraut, sie nachher mit seinen schwachen Kräften zu verteidigen sucht.

»Stigma«, ein Theaterabend, der sich nicht nur aufklärerisch über die Kirche hermacht, sondern auch katholisch über die Versäumnisse und Verdrängungen der Aufklärung herfällt.

Hellmuth Karasek

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 72 / 95
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten