DEUTSCHE GESCHICHTE Eine Passion
Der Propyläen Verlag »sollte daher den Mut haben, diese Publikation zurückzuziehen. Es ist ein durch keine Ergänzung zu rettendes, wirres und dummes Buch": Professor Karl Otmar von Aretin, Historiker in Mainz, am 5. Januar in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« über Hellmut Diwalds »Geschichte der Deutschen«.
Der Propyläen Verlag und dessen Autor, der Erlanger Geschichtsprofessor Diwald, entschlossen sich jedoch anders. Ende Februar, fünf Monate nach Erscheinen der ersten Auflage. lieferte der Verlag eine revidierte Ausgabe aus -- ohne viel Gerede davon zu machen, sozusagen klammheimlich. Drei Seiten des insgesamt 760 Seiten zählenden Werkes haben eine Korrektur erfahren: durch Streichungen, Zusätze, Akzentverschiebungen. Sie sollen. entgegen dem Ratschlag Aretins, das Buch »retten«.
Die drei korrigierten Seiten, mit den Nummern 163, 164 und 165, sind der Judenvernichtung unter Hitler gewidmet. »Die Endlösung« heißt denn auch die Abschnitts-Überschrift auf Seite 163. In der Tat waren es diese Seiten des Urtextes, welche vornehmlich, wenn auch keineswegs allein, die Kritik der Rezensenten des SPIEGEL, der »Zeit«, der »Süddeutschen Zeitung«, der »FAZ« und anderer Zeitungen auf sich gezogen hatten.
Nahezu unisono warfen die Rezensenten Diwald vor:
>Er provoziere bei seinen Lesern den Eindruck, als ob die Wahrheit über die »Endlösung« und »Auschwitz« noch unbekannt sei, von den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges geheimgehalten werde und mithin die Judenvernichtung überhaupt in Zweifel zu ziehen sei.
* Er tauche, wie es in der ersten SPIEGEL-Rezension vom 23. Oktober hieß, »die ganze bisherige Auschwitz-Berichterstattung in ein Licht der Unglaubwürdigkeit« (SPIEGEL 43/1978).
Der erste Vorwurf stützte sich vornehmlich auf einen Satz auf Seite 165, in dem Diwald behauptete, die »Endlösung« sei »trotz aller Literatur in zentralen Fragen noch immer ungeklärt«. Der damit vermittelte Eindruck, es gebe bis auf den heutigen Tag ein Auschwitz-Geheimnis, wurde noch durch eine Passage über das Auschwitz-Nebenlager Birkenau für nicht arbeitsfähige Häftlinge vertieft. In diesem Lager seien -- so Diwalds ursprüngliche Darstellung -- im Sommer 1942 ungefähr 20 000 Menschen an Typhus gestorben, und das sei »der Grund, warum sich in Birkenau ungewöhnlich große Einrichtungen für die Verbrennung der Toten befanden«.
Insbesondere diese Kombination der Birkenau-Passage mit dem Satz von den ungeklärten zentralen Fragen der »Endlösung« löste Beunruhigung aus, obwohl Diwald an anderen Stellen keineswegs die Tatsache der Judenvernichtung in Zweifel zog -- so etwa in dem Satz auf Seite 164: »Dies ist das grauenhafte Thema der systematischen Vernichtung eines Volkes (der Juden), das für Ereignisse büßen mußte, für die es gemäß der Logik eines Wahnsystems verantwortlich gemacht wurde. .
In der Tat kritisierten die Rezensenten an Diwalds »Endlösungs« -Abschnitt auch nicht, er habe falsche Angaben zur Sache gemacht. Vielmehr beanstandeten sie, seine Darstellung sei, wie Golo Mann es am 4. Dezember im SPIEGEL (49/1978) ausdrückte, »verquollen«, »dumpf gemurmelt«, »im Stil von Qualtingers »Herrn Karl"' gehalten und lasse, wie es in fast allen Rezensionen hieß, mit dunklen Andeutungen das Gefühl aufkommen, die bisherige »Endlösungs«-Literatur hintergehe die Öffentlichkeit.
Die bisherige Auschwitz-Literatur diene -- das ist Diwalds Generalthese, die er nicht nur auf den Seiten 164 und 165 vertritt -- dem Vorwurf der Kollektiv-Schuld der Deutschen und darüber hinaus einer Nachkriegspolitik, die sich gegen die Deutschen überhaupt richtet.,, Man beutete«, so hieß es ursprünglich, »eins der grauenhaftesten Geschehnisse der Moderne durch bewußte Irreführungen, Täuschungen, Übertreibungen für den Zweck der totalen Disqualifikation eines Volkes aus.«
Die nahezu einstimmige Kritik der Presse an Diwalds »Geschichte der Deutschen« irritierte, nach einem beträchtlichen Verzögerungssatz, auch das Haus Springer, zt dem der Propyläen Verlag gehört. Man machte sich an die Lektüre Diwalds und war »außer sich«, wie auch von Oberverleger Axel Cäsar Springer selbst berichtet wird. Diwald hatte en »essential« der Springerschen Hausphilosophie verletzt: das Postulat der Versöhnung mit den Juden und Israel.
Zwar versuchte Springers Flaggschiff »Die Welt« am 18. November mittels eines nachsichtig geführten Diwald-Gesprächs (Überschrift: »Deutschland -- kein Wintermärehen") eine halbwegs brauchbare Verteidigungsposition zu beziehen. Doch schon in der nächsten zwei Tage später erschienenen Ausgabe befand sich das Blatt auf dem Rückzug. In einer 25-Zeilen-Glosse über Diwalds Buch, die vom Chef der »Welt«-Redaktion Peter Boenisch (Kürzel: P. B.) verfaßt worden war, hieß es, man dürfe »Kriminalität und Brutalilat« der deutschen Vergangenheit »nicht relativieren«.
Anfang Januar schließlich kündigte der Propyläen Verlag an' Autor Diwald werde für die nächste Auflage einige Textstellen umschreiben. Daß es darüber, was unter »einigen Textstellen« zu verstehen sei, zwischen Propyläen-Chef Jobst Siedler einerseits und Diwald andererseits ein strapaziöses Gerangel gegeben hat, ist inzwischen bekannt. Der eine. Siedler, wünschte, so heißt es, das Umschreiben von 200 bis 300 Seiten. Diwald hingegen wollte sich nur auf drei Seiten einlassen. Er siegte -- »vorläufig«, wie man sagt.
Rund 65 000 der 100 000 geplanten Exemplare des ursprünglichen Textes wurden gedruckt und ausgeliefert. Vom neuen Text gibt es inzwischen 30 000 Exemplare. Sollte es noch eine weitere Auflage geben, müßte, meint man im Hause Springer, Diwald mehr umschreiben.
Das scheint auch die Meinung des Verlegers selbst zu sein. Denn noch Ende Januar versprach Springer, bei
* Mit dem vorsitzenden der jüdischen Gemeinde West-Berlin. Heinz Galinski
einem Empfang der Berliner jüdischen Gemeinde, seinen Zuhörern, »Diwalds Buch »Geschichte der Deutschen' in veränderter und verbesserter Form neuaufzulegen und die Erstauflage nicht mehr zu vertreiben. Das Buch werde danach nicht wiederzuerkennen sein« -- so die »Allgemeine jüdische Wochenzeitung« vom 9. Februar.
Vorläufig freilich ist Diwalds Buch noch wiederzuerkennen -- trotz beträchtlicher Änderungen. Gestrichen sind vor allein die Stellen. in denen behauptet wurde, das »Problem »Auschwitz"' werde zur »Herabwürdigung der Deutschen« benutzt (siehe: Kasten Seite 233).
Umformuliert hat Diwald die Passage über Birkenau und über die angeblich ungeklärten zentralen Fragen der »Endlösung«. » Birkenau« ist dabei ganz weggefallen, und aus den »zentralen Fragen« im alten Text sind nunmehr »zentrale Fragen der Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Entscheidungsbefugnisse« geworden -- was dem Leser allerdings zumutet, bloße Organisationsprobleme des Judenmords für »zentral« zu halten (siehe Kasten Seite 233).
Hinzugefügt hat Diwald einen Absatz, in dem er erläutert, warum es so schwer ist, über den Judenmord zu sprechen: »Völliges Verstummen«, heißt es dort, drohe angesichts der Tiefendimension des nicht zu fassenden Verbrechens«. Kein Zweifel: Für Diwald ist die Geschichte der Deutschen eine Passion -- in beiden Auslegungen des Wortes: eine Leidenschaft und eine Leidensgeschichte.