Zu den Totengräbern der Weimarer Republik, da hilft kein Vertun, muß auch die »Weltbühne« rechnen, nun wieder im alten Glanz habhaft, weil photomechanisch nachgedruckt*. Die Metapher »Totengräber«, so wie sie auch heute noch im Schwange ist, bedarf dabei der Korrektur. In den seltensten Fällen sind es ja die Totengräber, die einen Lebenden zu Tode bringen. Vielmehr, sie tun den Leichnam, den bereits Toten, unter die Erde.
Anders steht es mit der Metapher des »Steigbügelhalters«, die im Zusammenhang mit dem Ende der Republik von Weimar und mit der Heraufkunft Hitlers ebenso häufig verwendet wird. Wer einem anderen in den Sattel hilft -- und reiten konnte dieser Reiter ja -, ist ein Steigbügelhalter: Im Falle Hitlers der Herrenreiter Papen, der Intrigen-General Schleicher, der in der Verfassung nicht vorgesehene Hindenburg-Sohn Oskar. der hölzerne Marschall selbst, der Industrie-Presse-Zar Hugenberg, aber auch der ehrenwerte Brüning, beispielsweise, und der weniger ehrenwerte Prälat Kaas.
Bei all diesen unterschiedlichen Personen macht die Kennzeichnung »Steigbügelhalter« nur Sinn, wenn man unterstellt, sie hätten absichtlich einem in den Sattel geholfen. von dem sie dachten, reiten werde er schon nicht können. Und in diesem Irrtum, mehr oder minder, befanden sie sich ja auch: Hitler als der Golem eines Herrn, der selber nur eine Charaktermaske war, des Alfred Hugenberg nämlich.
Da ich die »Weltbühne« so schnurstracks den Totengräbern Weimars zugeschlagen habe, möchte ich gleich hinzufügen, daß sie als Steigbügelhalter Hitlers dennoch nicht in Frage kommt. Wie das? Kann man ein System erledigen helfen, ohne für das nächste mitverantwortlich zu sein? In dem Versuch, diesen offenbaren Widerspruch aufzulösen, soll sich meine Beschreibung der »Weltbühne« -- gegründet von Siegfried Jacobsohn, illuminiert von Kurt Tucholsky, personifiziert in Carl von Ossietzky -- erschöpfen.
Die »Weltbühne« als die für den Weimarer Staat typischste periodische Hervorbringung zu bezeichnen, trage ich keine Bedenken, auch wenn von dieser Wochenschrift nie über 15 000 Exemplare gedruckt worden sind. Typisch für Weimar ja, aber hat sie diesen Nachfolgestaat des Bismarck-Reiches auch mit Zähnen und Klauen verteidigt? Hier möchte ich den Irrtum gar nicht erst aufkommen lassen, es hätten Zeitungen und Zeitschriften allemal staatstragende Institute zu sein. In Staaten, die der Meinungsfreiheit keine Chance geben, kann eine Zeitung oder Zeitschrift nur subversiv, nur unterminierend, nur in destruktiver Absicht geschrieben werden. Und da es den schlechthin freiheitlichen Staat nicht gibt -- auf deutschem Boden hatten wir schon freiheitlichere Zustände als eben jetzt -, ist eine Zeitung oder Zeitschrift ganz ohne subversive, unterminierende, destruktive Tendenzen ein Unding.
Aber dieser Staat Bundesrepublik wird ja nun nicht von seinen Zeitungen »Die Weltbühnex Vollständiger Nachdruck der
* Ausgaben 1918 bis 1933. Vollständiger Nachdruck der
Ausgaben 1918 bis 1933. Athenäum Verlag, Königstein/Ts., 16 Bände. ca. 27 000 Seiten.
oder Zeitschriften bedroht; er ist, wenn er sich nicht mißversteht, überhaupt nicht bedroht. Allenfalls kann man ihn für gefährdet halten, weil er in seinen eigenen Mechanismen gefangen ist. weil er die Gefährdungen anderer Wähler-Demokratien teilt, in denen man den Blick über den Tellerrand ebensowenig riskiert.
Das war im Deutschland von 1930 anders, als der letzte sozialdemokratische Reichskanzler, der letzte parlamentarisch regierende Reichskanzler überhaupt, das Handtuch warf. Wie konnte es dazu kommen, daß die unzweifelhaft demokratische und verfassungstreue SPD dieses Kanzlers Hermann Müller, daß diese zum Schluß einzig noch verbliebene Verfassungspartei von seiten der »Weltbühne« Hohn und Spott, nicht aber Stärkung erfuhr?
Mir scheint, die »Weltbühne« hat ihren Staat deswegen nicht geschützt und gestützt, weil es ihr Staat nicht war. Wenn es denn stimmt, daß auch Staaten von ihren Widersprüchen leben, so liegt der Ton doch auf »leben«. Die Weimarer Republik aber war eine einzige Zeitbombe. Sie steckte so voller Sprengsätze, daß viel Selbsttäuschung nötig war, an ihre Lebensfähigkeit zu glauben. Sie war, anders als die Bundesrepublik, niemandes Staat, war so, wie sie sich von Beginn entfaltete, von niemandem gewollt.
Viel Optimismus, wenn nicht Aberglaube gehört zu der Annahme, ohne einen Hitler hätte das Deutsche Reich als parlamentarische, den Frieden sichernde Republik überlebt. Das scheint doch mehr als zweifelhaft.
Jede Staatsgründung hat ihre innere Ratio, und die von Weimar ging nicht in Richtung Frieden und nicht in Richtung parlamentarische Demokratie. Es ist heute üblich geworden, die SPD-Führer des Jahres 1918, die lange genug geschmäht worden sind, zu glorifizieren. Dazu besteht kein Grund. Ebert, Scheidemann, Noske, Wels, sie waren rechtschaffene, mittelmäßige Politikos, anders als die bedeutenden SPD-Führer von heute mitnichten auf ihre Aufgabe vorbereitet. Alfred Döblin in seinem »1918«-Epos läßt kein gutes Haar an ihnen, allenfalls an dem Bluthund Noske, dessen »Wo gehobelt wird, da fallen Späne«-Praxis ihm bezeichnenderweise Eindruck macht; in der »Weltbühne« nannte Tucholsky den Gustav Noske »diesen Reichsverderber«, das war im März 1919.
Nein, es waren nicht die mittelmäßigen Männer am Anfang der Republik, die ihr zum Verhängnis wurden. Immerhin haben sie eine im ganzen brauchbare Verfassung zustande gebracht. Dieser Staat präsentierte sich als Wechselbalg, weil die ibm eingeborenen Widersprüche unauflösbar nicht schienen, sondern waren. Jene, die, oft unbewußt und unwissend, zu seinem Ende beitrugen, hoben die Grube aus für einen nur scheinbar Lebenden, für einen zum Tode Bestimmten, ja in Wahrheit für einen Toten: Totengräber eben, buchstäblich.
Ich weiß natürlich, daß ich hier zuspitze und übertreibe. So präzise läßt sich Geschichte nicht examinieren, daß man mit letzter Sicherheit sagen könnte, der Staat von Weimar sei von Beginn nur eine Seheinlösung, sei die Verpuppung gewissermaßen für etwas anderes, sei nur ein im voraus berechenbarer Übergang gewesen. Ohne Hitler, ohne Weltwirtschaftskrise, ohne sechs Millionen Arbeitslose, ohne Hindenburg, ja, wer weiß?
Aber halten wir uns an Tatsachen. Halten wir uns an das, was war. Döblin schrieb seine vierbändige Abrechnung »November 1918« in den Jahren 1937 bis 1943, zwanzig Jahre post festum. Und was haben wir vor uns? Ein im Ton entschiedenes Werk, für Karl und Rosa, für Spartakus, für die Räte der Arbeiter und Soldaten, für Lenin, gegen die Sozialdemokratie, gegen die links von ihr stehenden oder schwebenden oder liegenden »Unabhängigen«. Im emotionalen Engagement ist der Autor so eindeutig, wie, na, sagen wir die »Weltbühne« zwischen 1918 und 1933.
Emotional scheint alles geritzt. Man ist und bleibt gegen die teils schlappe, teils verräterische, teils lächerliche Sozialdemokratie, gegen diese »ehemaligen Arbeiterführer«. Versucht man aber, die Emotionen abzustreifen, so bleibt die schiere und pure Ratlosigkeit als Kern, bei den Leuten der »Weltbühne« garniert mit falschen Hoffnungen und falschen Befürchtungen.
Döblin, regelmäßiger Mitarbeiter der »Weltbühne«, wie sich fast von selbst versteht, scheint mir als Parallel-Zeuge darum so geeignet, weil er nicht nur wie Tucholsky und Ossietzky die Kompromißgeburt der Republik selbst miterlebt hat, sondern, anders als diese beiden, den Adolf Hitler in seinem außenpolitischen Triumph. Sogar der Döblin der Hitler-Siege kann sich ja immer noch nicht entscheiden, darin ähnlich den Leuten der »Weltbühne«, wie er das Jahr 1918, wenn es an ihm gewesen wäre, hätte gestalten mögen.
Im November 1918, hier herrscht begrüßenswerte Einigkeit, hat alles angefangen. Eine richtige Revolution war es nicht, auch noch gut. Aber wollte man denn eine, und wenn ja, was für eine? Wollte man den Lenin in Petrograd kopieren? Bei aller beträchtlichen Sympathie, das denn doch nicht. Der schoß ja sogar seine eigenen linken Sozialrevolutionäre tot.
Wollte man Spartakus in Berlin siegen und die Nationalversammlung in Weimar à la Lenin auseinanderjagen lassen? Am liebsten, ginge es nach dem Herzen der »Weltbühne« und des Alfred Döblin, am liebsten ja. Nur waren da einige betrübliche Tatsachen.
Erstens hatten Karl und Rosa, wie sie selbst wohl wußten, die Massen nicht hinter sich, nicht genug Massen, nicht einmal die Mehrheit der Arbeiter oder auch nur der klassebewußten Proletarier. Eine Nationalversammlung wählen und gleichzeitig Revolution machen, das ging ja wohl nicht. Und die Westmächte, die in Rußland recht wacker intervenierten? Und die noch intakten Einheiten des zurückflutenden kaiserlichen Heeres? Alles unbeachtliche Faktoren? »Mein Gott, diese Leute kannten keine Rache und keinen Sadismus«, ließ sich der große Unpolitische 1935 aus seinem Küsnachter Ohrensessel über die »gutmütige Revolution von 1918« vernehmen, ganz Humanist, ganz Olympier, ganz Thomas Mann.
Nein, es hilft nichts, die gemeine Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. hat lange Zeit, für viele bis heute, vergessen machen, daß sie
* Mit General von Lüttwitz. der 1920 den Kapp-Putsch militärisch leitete.
eine Sache vertraten, deren Sieg weder möglich noch, vom Zeitpunkt 1918 aus betrachtet, wünschbar war. Und wer will denn mit Überzeugung sagen, 1918 hätte er sich die Diktatur einer Minderheit über die Mehrheit gewünscht? So schrieb Tucholsky 1919: »Wenn Revolution nur Zusammenbruch bedeutet, dann war es eine; aber man darf nicht erwarten, daß die Trümmer anders aussehen als das alte Gebäude.« Tucholsky weigerte sich expressis verbis, zu diesem Volk »ja« zu sagen. Aber sich ein anderes wählen, das konnte er auch nicht, und darum wich er 1924 aus nach Paris.
Ein bißchen Revolution ja, das hätten wohl viele gern gehabt. Aber die ist bekanntlich so schwierig zu haben wie ein bißchen Schwangerschaft. Was blieb dem Friedrich Ebert, von dem bißchen Revolution schon ganz handfest bedroht, denn anderes übrig, als sich unter den Schutz des Militärs zu stellen? Umsonst wird derlei nicht geliefert, und so erleben wir denn einen unpolitischen und staatstreuen Chef der Reichswehr, der den Zivilisten sein »Truppe schießt nicht auf Truppe« und »Die Reichswehr steht hinter mir« ins Gesicht schnarrt, ohne Konsequenzen, versteht sich. Man war ja schon froh. daß er nicht putschte.
Und die Bevölkerung? So ganz scheint sie der neuen Demokratie, auch ohne Hitlers Tiraden, nicht getraut zu haben. Wie wäre sonst möglich gewesen, daß die Vorgängerin unserer knackigen CSU, die Bayrische Volkspartei, bei der Wahl des Reichspräsidenten 1925 nicht dem Kandidaten der Verfassungsparteien, dem. Zentrumsvorsitzenden Marx, sondern dem Monarchisten Hindenburg ihre Wähler-Million zuführte. 500 000 Stimmen, nicht für den Marschall. sondern für den Zentrumsmann Marx abgegeben, hätten das Blatt gewendet. Aber im sprichwörtlichen »bayrischen Sumpf«, auch »Ordnungszelle des Reiches« geheißen, konnte man der nordlichterigen Schwesterpartei Zentrum nicht verzeihen. daß sie im Lande Preußen mit den Sozialdemokraten ging. Oder sollte es an dem Drei-Kreuze-Namen Marx gelegen haben«?
Der Steinwurf, in dessen Radius die »Weltbühne« agierte, zielte nicht auf Frieden, sondern auf Revanche, nicht auf Demokratie, sondern auf Staatsstreich. In diesen mörderischen Dreh hatte der erstrangige Theaterkritiker Siegfried Jacobsohn seine »Weltbühne« gestellt, aus seinem Theaterblatt »Schaubühne« machte er die »Weltbühne«. wohl weil er die richtige Einsieht hatte, auf den Brettern lasse sich die Welt zwar deuten, aber nicht bedeuten.
Der, laut Tucholsky, »idealste deutsche Redakteur, den unsere Generation gesehen hat«, starb 1926, erst 45 Jahre alt. Zu seinen großen Leistungen zählen nicht so sehr die Leitartikel wie die Enthüllungsfeldzüge der »Weltbühne« gegen die vaterländischen Geheimverbände der »Schwarzen Reichswehr« und gegen die Schandurteile einer auf dem rechten Auge schielenden und nach links auskeilenden Justiz. Sechzehn Fememorde konnte die »Weltbühne« nachweisen, keines der neun gegen die Fememörder ergangenen Todesurteile wurde vollstreckt.
Bestimmender Redakteur nach Siegfried Jacobsohn wurde der sarkastisch karge Carl von Ossietzky, der sich als Leitartikler hervortat. Er trug einen Wappenring derer von Ossietzky. eines vermutlich in corpore geadelten polnisch-oberschlesischen Dorfes, ständig am Finger. Für den Untergang der Weimarer Republik wird dieser charakterstarke Schreiber Symbol figur. Er teilt ihr Schicksal, er verkörpert ihre Widersprüche. Und so ist es nur folgerichtig, daß heute nicht nur darüber gestritten wird, ob eine Universität den Namen Heinrich Heines tragen, sondern auch, ob eine andere die Carlvon-Ossietzky-Universität heißen soll. Über ihn wurde 1938 in einem Nachruf gesagt: »Die Konsequenz seiner Überzeugungen trug er nicht nur geistig, und das heißt: bis zum Irrtum, sondern auch moralisch, und das heißt: bis zur Gefahr.
Ja, er hat sich gefährdet. Die Erbsünde der Republik sah er in dem Bündnis zwischen Ebert und den Generalen. Die Wahl des Feldmarschalls Hindenburg zum Reichspräsidenten erfüllte ihn mit präzisen, nur zu berechtigten Ahnungen. Und wegen Landes-Verrats, wegen eines Artikels über die illegalen Machenschaften der Reichswehr ("Windiges aus der deutschen Luftfahrt"), wurde er zu anderthalb Jahren Gefängnis verurteilt; siebeneinhalb Monate saß er ab. Ossietzky sah sich als einen Handelnden, und dem Handelnden bleiben Einsichten verschlossen, die ihn, nähme er sie an, zur Passivität verurteilen würden. Es ehrt Ossietzky, daß er, anders als Tucholsky, nicht resignierte.
War in den Anfängen der »Weltbühne« das Volk noch nicht wert, von Tucholsky akzeptiert zu werden, so verengte sich die Kritik bald auf die politischen Führer: »Nicht die Masse hat versagt, sondern die Führung, immer die Führung.« Die Republik stirbt an ihrer eigenen Feigheit. So auch Ossietzky über Weimar: »Staat ohne Idee und mit ewig schlechtem Gewissen«, umgehen von »ein paar sogenannten Verfassungsparteien, gleichfalls ohne Idee und mit ebenso schlechtem Gewissen«. Dies stimmte, es gab keine Partei. die im Consensus mit der Staatsidee war. Aber ach, es gab eine Partei, die der Republik unverbrüchlich die Treue hielt, ihrer, wie wir heute sagen würden, freiheitlich demokratischen Grundordnung. und das war die SPD. 1928 nach den Reichstagswahlen ging sie, gegen den Widerstand eines knappen Drittels. wieder in die Reichsregierung, der sie fünf Jahre ferngeblieben war, und stellte den Reichskanzler Hermann Müller.
Diese »große Koalition« war kein erhebendes Geschäft. Da regierten nicht die Minister, sondern die Fraktionsvorstände von Parteien. keine von ihnen mit dem Kuhhandel zufrieden. Eine Koalitionsabsprache kam nicht zustande, nicht einmal eine simple Methode tagtäglicher Verständigung, wie wir sie in der Bundesrepublik seit vielen Jahren gewohnt sind.
Nein, einen ästhetisch schönen, einen erhabenen Anblick bot diese vom Wahlergebnis zusammengeprügelte Koalition nicht. Nur, leider: sie war die einzig mögliche, sie war die letzte parlamentarische, und nach ihr würde kommen nichts Gutes, wenn auch Nennenswertes.
Wie verhielt sich die »Weltbühne« angesichts dieser letzten Chance? Man muß es sagen: Nicht eben weise, nicht eben politisch, ganz moralische Anstalt. Das war nur konsequent. Wer seit 1918 nein gesagt hatte zu dieser Beamtenschaft, diesen Richtern, Lehrern, Offizieren; nein zum Militarismus und zu dessen Gegenstück, dem unpolitischen Pazifismus; nein zu den Forderungen der Industriellen-Verbände, die ihre egoistischen Interessen betrügerisch als allgemeine ausgaben, und nein auch zu denjenigen bürgerlichen Parteiführern, die sich zu politischen Vertretern dieser Interessen hatten machen lassen; nein zum Nationalismus und nein noch zu sehr viel mehr, als sich hier aufzählen ließe, und immer ein begründetes Nein: der war schon programmiert, einmal zuviel nein zu sagen, nein nämlich auch zu diesem letzten Versuch parlamentarischer Demokratie (wobei man an die Hitler-Diktatur nicht dachte, das kroch da erst noch aus den Büschen).
War es da wohl richtig, wie Ossietzky tat, »von dem eilfertigen Ehrgeiz einer unverbesserlichen Sorte ewiger Ministrahler« zu schreiben, die »mit Schwertgeklirr und Wogenprall in ein unbesehenes Bündnis« steigen wollten? War es da richtig, der SPD zu raten, sie solle die Tür hinter sich zuschlagen, daß es durch ganz Deutschland hallt? War es richtig, dem Reichskanzler eine Laschheit vorzuwerfen, die ihn als Dorfschulzen unmöglich machen würde? Dem Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding sein Gemurkse mit dem Etat, eben jenem führenden Theoretiker der SPD, der seiner Partei auf einem Parteitag gerade erst zugerufen hatte: »Wenn Sie nicht verstanden haben, daß die Erhaltung der Demokratie und Republik das wichtigste Interesse der Partei ist, haben Sie nicht das Abc des politischen Denkens begriffen«
Blind waren nicht Hermann Müller und Rudolf Hilferding, blind waren ihre linken Gegner. Wußte Ossietzky nicht, daß es zu dieser Regierung keine demokratische Alternative gab? Naturlich wußte er es, aber geschrieben hat er, als gäbe es eine.
In der großen Koalition kämpfte die SPD vom ersten bis zum letzten Tag in der Position der Schwäche. Sie durfte in Konflikten nie so weit gehen, daß die Koalition in ihrer Existenz gefährdet wurde. Die anderen, voran Stresemanns Deutsche Volkspartei, riskierten das, nach dem plötzlichen Tode des Außenministers erst recht. Es war für sie, anders als für die Sozialdemokratie, kein Schrecken, keine demokratische Alternative zu wissen; kein Schrecken, nach dieser vielleicht eine halbdiktatorische Regierung in Kauf nehmen zu müssen, denn sie würden ja an ihr beteiligt sein; kein Schrecken, nach diesem Kanzler einen anderen zu bekommen, der dann vielleicht nur noch mit dem Notstandsparagraphen würde regieren können. Denn sie hofften, daß der Notstand dann schon in ihrem Sinne regiert werden wurde.
So daß alle diejenigen, die dringend vor Neuwahlen warnten, recht hatten. So daß der sozialdemokratische Kanzler und seine Minister nichts unver-
* März 1933 im Berliner Polizeipräsidium, zwischen dem KPD-Abgeordneten Ernst Torgler und dem Schriftsteller Ludwig Renn (Brille). Links, halb verdeckt: Gestapo-leiter Diels.
sucht ließen, um mit der großen Koalition wenigstens bis zum Abschluß des neuen Reparationsvertrages zu kommen, vielleicht aber sogar das Ende der Legislatur im Jahre 1932 zu erreichen.
Da war ihnen kein Opfer zu groß und kein Kompromiß zu faul. Anders ging es nicht. Da boten sie lieber das Schauspiel zusammenkrachender Charaktere, als sich türenschlagend zurückzuziehen. Nur eins war richtig: zu bleiben. Daß sie blieben, aber am Ende denn doch weichen mußten, weil niemand, niemand mehr sie unterstützte, das hat sie ihr Ansehen bei den Zeitgenossen gekostet.
Wer also der »Weltbühne« Vorhaltungen machen will, heiße er nun Herbert Wehner oder Golo Mann, er hätte reichlich Stoff. Zurück vom Rathaus und wieder zu Hause, wissen wir: Es war eine Todsünde, die Regierung Hermann Müller zu verhöhnen.
Aber richtig bleibt auch, es ging, von damals aus betrachtet, mit der Regiererei, wie sie in der großen Koalition betrieben wurde, nach Ansicht zu vieler Leute nicht mehr so weiter. Diese zu vielen Leute haben sich nicht die richtigen Gedanken gemacht, wie es anders weitergehen könne. Die Republik war zerrieben, und nicht im Traum hätten die Leute der »Weltbühne« daran gedacht, daß sie mitgerieben hatten.
Ein elitäres Selbstverständnis wird sichtbar, wenn Ossietzky in einem Nachruf auf Paul Levi schreibt: »Diese entschlossene Negation war sein Charakteristikum und wird sein Ruhmestitel bleiben übers Grab hinaus.« Levi hatte jenen linken Flügel der SPD angeführt, der 1928 gar nicht erst mit der Tür knallen, sondern gleich in der Opposition bleiben wollte. Denn, so Ossietzky, »er wollte nicht Mitschuldiger sein«. Man wurde aber, dies die Tragik im Weimarer Staat, so oder so mitschuldig, auch als »verkörperte Negation« (so Ossietzky über Levi).
Die ganz große intellektuelle Sauberkeit, die eingebildete Unschuld, sie führte zu Schlimmerem, oder schlimmer, es gab sie nicht. Was war denn das für eine Logik, den Sozialdemokraten, die man gerade erst aus der Regierung geredet hatte, nunmehr vorzuwerfen, sie leisteten Ruderdienste auf der Galeere des Herrn Brüning! Nicht einmal zu Brüning gab es ja, wie sich zeigen sollte, eine zivilisierte Alternative. Und die SPD, die eben diesen Brüning tolerierte, mußte sich nun in der »Weltbühne« Trabantentum und fehlende Initiative vorwerfen lassen.
In ihrem gedanklichen und formalästhetischen Bereich waren die Protagonisten der »Weltbühne« Persönlichkeiten, dies zweifellos. Aber das verführte sie zu einer überzogenen Persönlichkeitssuche im politischen Raum, wo die Tatsachen bekanntlich nicht aus ätherischem Stoff sind. Ein regierender Sozialdemokrat hatte allemal den Vorzug, als Persönlichkeit glatt durchzufallen. Er hieß dann etwa »Herr Füllfederhalterbesitzer Hermann Müller«.
Sehen wir uns an, was Ossietzky an dem zweimaligen Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding vermißte: Der sei »ohne das Wesentliche des führenden Menschen, die Witterung des Irrationalen hinter den Dingen«. Ihm fehle »der wehende Helmbusch«, fehle das, »was enthusiasmiert«. Ossietzky schrieb das 1924, als er der Redaktion der »Weltbühne« noch nicht angehörte.
Es gab ja aber vor 1933 solch einen führenden Menschen mit der Witterung fürs Irrationale, einen, der die Massen mit Uniformschmuck zu enthusiasmieren verstand. Man wird nicht sagen können, daß die »Weltbühne« die drohende Gefahr richtiger erkannt hat als die meisten anderen.
Hitler, so Ossietzky zu Anfang 1931 in dem Artikel »Brutus schläft«, habe am 14. und 15. September des Vorjahres, unmittelbar nach den für ihn erfolgreichen Reichstagswahlen also, den Zug verpaßt. Damals sei die Stunde für den deutschen Duce dagewesen, legal oder illegal, wen kümmere das! Und dann weiter wörtlich: »Aber dieser deutsche Duce ist eine feige, verweichlichte Pyjamaexistenz, ein schnell feist gewordener Kleinbürgerrebell, der sichs wohlsein läßt und nur sehr langsam begreift, wenn ihn das Schicksal samt seinen Lorbeeren in beizenden Essig legt. Dieser Trommler haut nur in der Etappe aufs Kalbfell. Mag auch Joseph Michael Goebbels dreimal wöchentlich in den Berliner Tanzpalästen seine Exhibitionen vollführen, das Haupt der Verschwörergemeinde glänzt durch Abwesenheit. Brutus schläft.«
Man liest das mit Beklommenheit. Hitler hatte begriffen, und Ossietzky hatte nicht. Je näher das Verhängnis rückte, desto dringlicher beschäftigten sich die »Weltbühne« und Ossietzky mit einem neuen Wunsch-Phantom, mit der Linken Einheitsfront.
Aber die war ja nun nicht zu haben. Es gab keine selbständige, es gab keine von Stalin unabhängige KPD. Und Stalin unterschätzte, wie alle anderen auch, den Hitler, er setzte auf Hugenberg, der die Weltrevolution kraft der Dialektik der Geschichte vorantreiben werde -- das Resultat gibt Stalin nicht ganz unrecht.
Da war aber auch keine SPD, die mit Stalin hätte paktieren können. Der hatte gerade Millionen von Kulaken in den Tod geschickt. Mit Moskau-Kommunisten konnte es eine Kampfgemeinschaft erst geben, als diese schlimmer gehetzt und gejagt wurden als alle anderen Nazi-Feinde. Als es zu spät war notabene. Verzweifelt forderte Ossietzky, was doch von dieser Stalin-Thälmann-KPD nicht zu haben war, »jenen berühmten Zusatz demokratischen Öls«. Ob man morgen werde so noch debattieren können, fragte er rhetorisch? Man konnte nicht.
Sicher hat Ossi, wie ich ihn ein einziges Mal nennen möchte, nicht für möglich gehalten, daß die neuen Herren ihn bis auf den Tod foltern würden. Schließlich kam er aus einem ordentlichen preußischen Gefängnis, 1932, per »Weihnachtsamnestie«.
Er wurde am Tag nach dem Reichstagsbrand verhaftet und aus dem KZ im Sommer 1936 entlassen, nach drei Jahren KZ-Folter todkrank, und entlassen nur aufgrund der Kampagne, ihm den Friedensnobelpreis zu verleihen, und entlassen nicht in die Freiheit. sondern erst in Krankenhaushaft, dann in ein privates Krankenhaus, offenkundig mit der Auflage, dort zu sterben. Dies tat er am 4. Mai 1938, bis zum Schluß. so Görings Anweisung, »unter geschickter Bewachung«.
»Warum, warum«, schrieb Tucholsky aus Paris, »ist Ossi nicht ins Ausland gegangen? Warum hat er uns das angetan?« Hätte er die Natur seiner Feinde gekannt, er wäre wohl ins Ausland gegangen. Aber es gibt irrationale Handlungen mit tieferem Grund. Ossietzky war wie ausersehen zum Märtyrer der Friedensidee. Dieser zum Infanteristen nicht taugliche, dieser in jeder Hinsicht zarte Mann, dieser schaffe Polemiker, er war tapfer angesichts der Gefahr.
Als ihm vor dem Reichsgericht Gefängnis ohne Bewährung drohte, verschanzte er sich nicht hinter dem Verfasser, wie er ja hätte tun können, sondern brachte die Richter durch seine offensive Verteidigung gegen sich auf. Und als Göring selbst ihm Ende 1936 nahelegte, auf die Annahme des Friedensnobelpreises zu verzichten, dann könne er »noch heute abend« als freier Mann nach Hause gehen, weigerte er sich, die schon vorbereitete schriftliche Erklärung zu unterschreiben. Er ging lieber zurück in sein bewachtes Krankenhaus als in eine wenn auch relative Freiheit. »Ich war Pazifist und werde Pazifist bleiben«. erklärte er dem jovialen Schlächter.
Sein kurzes Annahme-Telegramm -- »Dankbar für die unerwartete Ehrung. Carl von Ossietzky« -- wurde von der Post befördert, dies hatte Göring ihm zugesichert.
Und die sogenannten »Irrtümer« der »Weltbühne«, was ist damit? Mir scheint, das Verhängnis der Weimarer Republik war so gestrickt, daß alle, außer ihren Totschlägern, sich irgendwann in ihm verfangen mußten, Ja, wenn die damals Lebenden, unter ihnen der junge Stauffenberg und der junge Wehner. 1930 einen Film hätten sehen können, der das verwüstete Deutschland von 1945 zeigt! Und sind wir denn so sicher, daß in fünfzehn oder dreißig Jahren an die Adresse der jetzt Handelnden und Schreibenden nicht der gleiche, der schneidende Vorwurf erhoben wird, die Zeichen an der Wand falsch gedeutet zu haben? »Und schrieb und schwand.«