Hellmuth Karasek über Uwe Nettelbeck: "Mainz wie es singt und lacht" Eine Scherbenwelt aus Zitaten
Uwe Nettelbeck war bis 1969 Filmkritiker und (gelegentlich) Prozeßberichterstatter der »Zeit«, anschließend eine Weile Redakteur bei »Konkret«; eine geplante Mitarbeit für den »Spiegel« scheiterte ebenso wie mehrere Buchprojekte
So ließe sich, im üblichen Einebnungsstil, der Verfasser des Buches »Mainz wie es singt und lacht« vorstellen, wäre er nicht jemand, den es so und in dieser Rigorosität nicht noch ein zweites Mal gibt: ein unabhängiger Mann.
Unabhängig heißt zunächst: nicht auf Einkünfte aus unselbständiger Arbeit angewiesen. Nettelbeck brauchte Kompromisse, auf die Angestellte und freie Mitarbeiter im Kulturbetrieb wie im Journalismus angewiesen sind, nie zu schließen. Und -- was entscheidender ist: Er hat sie nie geschlossen.
Nettelbeck konnte man sich entweder leisten, so wie er war und ist, oder man konnte ihn sich nicht leisten. Seine Beiträge bestanden oft in »Happenings« -- man schrieb das Jahr 68
mit denen er Platz zu vernichten, Prinzipien zu durchbrechen, Gewohnheiten lächerlich zu machen trachtete. Warum ihn sich Zeitungen und Verlage immer weniger leisten konnten und wollten, geht aus seinem Buch hervor, obwohl oder gerade, weil es kaum Originaltexte von Nettelbeck enthält.
»Mainz wie es singt und lacht« ist die mit fremden Zitaten belegte Autobiographie eines Autors, der im Lauf der Zeit den »bösen Blick« für den Kulturbetrieb entwickelte: ein Nachfolger von Karl Kraus, dem sein Zeitalter als Rülpser und Blähungen der zu ihm gehörigen Journaille erscheint. (Der Unterschied zwischen Kraus und Nettelbeck mag auch der zwischen Wien 1910 und Lüneburger Heide 1970 sein.)
Wie Kraus sieht Nettelbeck den Lähmungs- und Lächerlichkeitstod mit der Druckerschwärze (zeitgemäße Variante: mit dem Fernsehen) heraufziehen. Wie Kraus versteht es Nettelbeck, aus den Zitaten einen Strick für die Zitierten zu drehen. (Wer von uns Schreibern nicht vorkommt, hat kaum Grund zur Schadenfreude -- er könnte mit gleich guten Gründen wie die Zitierten vorkommen.)
Und -- wie hei Kraus -- sind die Zitate meist mehr als nur ein hämisch gedrehter Strick für den, der sie abgesondert hat. Sie sind zugleich generalisierende Kommentare zur Gegenwart. Nettelbecks Buch ist die verletzende Kulturgeschichte eines Verletzten.
Wir Getroffenen und Betroffenen -- und betroffen ist, wie gesagt, jeder Teilnehmer an der Wort- und Bildverwertungsmaschinerie -- könnten es uns leichtmachen und von Bosheit, Häme, Indiskretion, Verletzung von Spielregeln und ähnlichem stammeln. Nicht aus der Welt geschafft wäre damit, daß die Nettelbecksche Zitatensammlung aus Presse, Literatur, Rundfunk und Fernsehen ein Zerrspiegel ist, der vieles unverzerrt zeigt, was uns Gewöhnung und üblicher Zusammenhang bis zur Unkenntlichkeit verzerren. Dafür nur zwei kurze, eher harmlose Proben: Testbild
Unser Bericht aus Südafrika war leider nicht in Farbe, meine Damen und Herren, aber noch ein Wort zum Rassismus ... Eine Berichtigung der »Süddeutschen Zeitung«. Dienstag. 18. Juni 1974
Das Traumhaus X der amerikanischen Bildhauerin Louise Nevelson im Feuilleton der Sonntagsausgabe stand (durch ein technisches Versehen) auf dem Kopf. Nettelbeck, darin Pathetiker wie sein Vorbild Kraus, glaubt, daß es genügt, die Worte denjenigen, die sie ausgestoßen haben, in den Hals zurückzuschieben. damit sie daran ersticken.
In einer Collage über den Dolomitenkrieg, einer Presseschau über die Ballonfahrer und in Agenturmeldungen über Kühe, die sich der Zivilisation und der zeitungsgerechten Verarbeitung ohnmächtig widersetzen, klingt nicht nur der Kraussche »Grubenhund«, sondern auch das Klagelied über die gemordete Natur (die Wälder, deren Niedergang für die Zeitungen Kraus elegisch anprangerte) nach. Und wie Nettelbeck die »Suhrkamp Buchwoche« 1975 im Zitat als Mischung aus Kommerz und Phrase, aus kassenklingelnder Eitelkeit und weihevollem Kulturleerlauf erscheinen läßt -- das müßte tödlich sein wie die Kraus-Dekuvrierungen von Alfred Kerr oder Maximilian Harden -- und ist es natürlich genauso wenig.
Nettelbeck ist viel zu gescheit, als daß er das nicht wüßte. Und während Karl Kraus für sein Tun, das mit den Opfern rigoros bis zur Vernichtung umsprang, eine unteilbare, weil geglaubte (göttliche) Moral in Anspruch nahm, mit der er der Doppelmoral seines Zeitalters, dem Gefälle zwischen Phrase und Wirklichkeit den Garaus machen wollte, fehlt Nettelbeck natürlich dieses Pathos für sein Richteramt.
Was bei Kraus die Moral war, ist bei Nettelbeck der Geschmack -- sein zitierender Ekel, der deshalb so koboldhaft wirkt, kann zwangsläufig nicht mehr auf dem Glauben basieren, daß alles Übel durch das Schreiben in die Welt kommt und daher durch das Schreiben vernichtend bekämpft werden muß. Sein zitierender Anwurf gegen den gedruckten und ausgestrahlten Auswurf der Welt ist ästhetisch. Sagte uns Kraus, daß der Fisch, den wir essen, gemordete Kreatur ist, so sagt uns Nettelbeck, daß wir den Fisch nicht mit dem Messer essen sollen.
Das macht die Opfer oft nicht weniger lächerlich, läßt ihren Enthüller aber oft weniger gerecht, dafür boshafter, selbstgerechter erscheinen. Nettelbecks Briefwechsel mit Lektoren, die unter anderem dieses Buch abgelehnt haben, ergibt, der Öffentlichkeit preisgegeben, vielleicht komische (weil übliche) Briefe aus dem Kulturbetrieb. Aber Nettelbeck, der für seinen Lebensunterhalt nicht arbeiten muß, macht sich ein ästhetisches Mißvergnügen mit Zwangslagen von Leuten, die Rücksicht nehmen müssen. Der Geschmacksekel, an dem er leidet und für den es genügend schwarz auf weiß gedruckte, in Farbe ausgestrahlte tägliche Gründe gibt, dieser Ekel hat bei Nettelbeck -- und auch das unterscheidet ihn von Karl Kraus -- zu einem fast völligen Verzicht auf das eigene Wort geführt.
Nettelbeck zitiert und collagiert fast nur noch. Der Glaube an die großen eigenen Essays, an das Pamphlet, an die Kulturkritik, der Kraus beflügelte, ist hier, in dieser Scherbenwelt der Zitate, verlorengegangen.
Das heißt auch, daß sich Nettelbeck nicht mehr aussetzen kann und will. Sein Rückzug aus der Welt der Journaille ist weniger mutig und weniger umfangreich, dafür folgerichtiger.
Und folgerichtig ist auch, wie sein Buch zustande kam, nachdem es kein Verlag so drucken wollte und konnte.
Nettelbeck übergab es dem Vertrieb »Zweitausendeins«, der ihm die ersten 1500 Exemplare garantierte und sich um den Inhalt einen Teufel scherte.
Zusammen mit verbilligten Schallplatten, sonst nur noch antiquarisch greifbaren Büchern und ähnlichem wird das Buch in Anzeigen ("Coupon einsenden") verramscht -- auch dies eine Methode, die unseren Kulturbetrieb erfolgreich auf die Hörner nimmt.
Die erste Auflage (2000 Stück) ist verkauft, die zweiten Zweitausend werden zügig gehandelt. Die Herstellungskosten, die Nettelbeck selbst übernommen hat, waren mit 1500 verkauften Exemplaren erreicht -- dazu ist das Buch mit 15 Mark schätzungsweise nur ein Viertel so teuer, wie es das bei einem »normalen« Verlag wäre. Kein Pferdefuß? -- Keiner. Vielleicht nur der, daß sich die Werbung, die »2001« ("Nettelbeck is back") dem Buch angedeihen läßt, wie eines der besten Zitate aus »Mainz wie es singt und lacht« liest: »Jener schon fast legendäre Schreiber ... in den späten 60ern für viele der Anlaß war, »Die Zeit' zu kaufen ... Nach fast 7 Jahren ist er nun plötzlich wieder da ...«
Schlimmer (oder besser) hätte das Suhrkamp auch nicht hingekriegt.
Die Überzeugung von Karl Kraus, daß die verletzte Weltordnung sich in jedem fehlenden oder überflüssigen Komma manifestiere, hat als Nettelbecksche Variante einen Schreibmaschinen-Fetischismus gezeitigt: Nettelbeck ist wahrscheinlich der sauberste und fehlerfreiste Schreibmaschinenschreiber der westlichen Welt.
Von dieser bewundernswert getippten Vorlage mit ihrem Wechsel zwischen kursiver und gerader Schrift ("Fremde Texte sind nicht ausnahmslos kursiv wiedergegeben, kursiv wiedergegebene aber ausnahmslos fremde") ist das Buch, nach Art der Raubdrucke, photomechanisch hergestellt worden.