Eine Sternstunde wird verfilmt
Ein später Juniabend an Hamburgs Außenalster, unwirtlich, kalt, der Atem wölkt sich weiß wie im Winter. Trotzdem wird bei Paolino, dem sardischen Hafen der Theaterkünstler und Presseleute, so scheint es, wild gefeiert.
Die Tische am Wasser sind überfüllt; Kerzenschein, Lampengirlanden, weiße Schirme; Paare, die sich zuprosten. Und auf dem kalten Wasser kreuzen mitten in der Nacht weiße Segler: immer wieder an den Feiernden vorbei, die immer wieder stereotyp in Fröhlichkeit ausbrechen.
Am anderen Ufer der Alster ist das weiße Atlantic Hotel in gleißendes Licht getaucht. Im Restaurant Paolino, dessen obligatorisch weiße Wände und Säulen rot eingefärbt sind, tauschen zwei weitherzige Damen mit wogenden Brüsten in kirschbedruckten Kleidern spitze Artigkeiten mit einer reifen, weißgekleideten Dame aus: Sie trägt einen weißen Schleierhut und ist die Nichte des Reichsmarschalls Göring.
Die busenschönen Frauen gehören zur Entourage des Verfassers der Hitler-Tagebücher: Eine hat er geheiratet, die andere ist seine Konkubine. Er kann sich beide mühelos leisten, eine Hamburger Illustrierte zahlt ihm Millionen.
Der Münchner Regisseur Helmut Dietl dreht in Hamburg die Presseszenen seiner Version des Hitler-Tagebuch-Skandals: »Schtonk«.
Während die beiden Damen (Dagmar Manzel und Veronica Ferres) neureich unsicher auftrumpfen und die überreife Nazisse (Christiane Hörbiger) Noblesse und Verachtung zu wahren sucht, sitzt Dietl auf dem Regiestuhl und fragt: »Warum fahren jetzt die Segler nicht?« »Flaute«, antwortet der Regieassistent. »Trotzdem«, meint Dietl. Es ist halb zwei Uhr nachts, und der Wind auf dem Wasser hat ein Einsehen.
Fünf oder sechs sarkastische Sätze zwischen drei Frauen, die sich nicht leiden können und sich auszutrumpfen suchen - dafür geht die halbe Nacht drauf, dafür fahren Boote hin und her, dafür schälen sich rund 60 Statisten immer wieder aus den Mänteln, um Sommer zu mimen, dafür brummen die Stromaggregate am anderen Alsterufer, und die Prachtbauten von Hotels und Versicherungen erstrahlen im hellen Licht.
Hamburg leuchtet. Am nächsten Abend sind es die Vier Jahreszeiten, die im Scheinwerferlicht erstrahlen. Im Alsterpavillon, der mit seinen rosigen Wolkengardinen den verstaubten Charme der fünfziger Jahre veratmet, wartet der Starreporter und Journalist Hermann Willie auf sein erstes Rendezvous mit der Göring-Nichte. Er ist pleite und will ihr die Jacht des Reichsmarschalls und Onkels zurückverhökern, notfalls mit brachialem Einsatz seines öligen Charmes.
Als sie kommt, stößt er vor Aufregung die Blumenvase um. Sie mustert mit einer Mischung aus Lust und Widerwillen das schmierig-stattliche Mannsbild. Er, das ist ein stammelnder, sich ranschmeißender Götz George mit Pomade im Haar, einem Ziertuch in der Brusttasche und einem blöden Siegergrinsen im Gesicht. Er zappelt und winselt und schmeichelt; er kommt und siegt.
Kein Zweifel: Niemand andrer als Gerd Heidemann, der Stern-Spürhund mit der Schwäche für braune Fährten, hat ihm Modell gesessen - gesessen im schmerzhaftesten Sinn des Wortes. Und der hatte doch wirklich was mit der Göring-Tochter (die zur Nichte verfremdet ist), der hatte doch wirklich Görings Jacht »am Bein«, hatte sich finanziell mit dem Nazikahn überhoben und trieb schon deshalb mit seinem Nazi-Sparren sein Blatt, den Stern, in die Hitler-Katastrophe.
Am 30. Drehtag ist es soweit. Im CCH, dem Hamburger Kongreßzentrum, findet in einem großen Saal die Pressekonferenz statt, die der größte Triumph in der Geschichte des Stern und im Leben des Stern-Reporters Heidemann werden sollte - und der Anfang vom Ende wurde.
Im Saal drängen sich über 500 Statisten, mit Blitzlichtgerät, Fotoapparaten, Kassettenrekordern, Fernseh- und Videokameras zu Journalisten aus über 80 Ländern geschminkt. Auf dem Podium das triumphierende Gremium aus Chefredakteuren, Verlegern und Ressortleitern, das der Welt gleich verkünden wird, die »Geschichte des Dritten Reichs« müsse fortan »neu geschrieben« werden.
Die Statisten-Massen entwickeln, wenn sie durch Megaphone ermuntert und entfesselt werden, eine eigene Dynamik. Eine Stimmung entsteht wie eine Mischung aus Sportpalast und Popkonzert.
Georges Reporter Willie erlebt den Triumph seines Lebens. Die Menge umringt ihn johlend, die Kollegen aus aller Welt greifen, schreien nach ihm, nachdem er ein Hitler-Tagebuch wie eine Hostie hochgehalten hat. Er steigt wie in Trance auf den Tisch: Jeden Augenblick wird er entschweben. Er erlebt nach, was Hitler bei seinen rhetorischen Begattungen der Menge erlebte: einen Rausch.
George ist in Schweiß gebadet. Seine Züge sind aufgelöst, eine Melange aus Glückseligkeit und Erschöpfung. Der Verleger (der Ex-DDR-Star Ulrich Mühe spielt ihn) geht erschrocken und angewidert vom Podium: Mit diesem schmierigen Orgasmus möchte er nichts zu schaffen haben.
Spätestens bei dieser Szene, die Dietl und sein Team mit Riesenaufwand und stoischer Professionalität drehen, wird klar, warum sich der Regisseur in dieses Projekt vernarrt und verbissen hat, warum er in fast drei Jahren manche Szenen bis zu 18mal umschrieb, warum er verbissen für die Besetzung kämpfte und sich bei der produzierenden Bavaria über zwölf Millionen Mark erkämpfte - »Schtonk« wird der aufwendigste deutschfinanzierte Film, etwa doppelt so teuer wie andere teure deutsche Filme.
Dietl will optische Opulenz als Authentizität, und er will sie, weil er glaubt, mit »Schtonk«, mit dem Skandal und Flop der Hitler-Tagebücher, einen Zipfel deutscher Wahrheit im Griff zu haben. Es geht ihm nicht darum, dem Stern noch einmal hämisch unter die Nase zu reiben, daß er auf einen drittklassigen Fake reingeflogen ist. Und nicht eine möglichst naturgetreue Nachpinselung eines braunen Fälschers mit Eulenspiegel-Zügen und eines angebräunten Reporters mit neurotischer Neigung zum Größenwahn ist das Thema des Films.
Nein, die Farce der Hitler-Tagebuch-Pleite wiederholt die Tragödie Hitler-Deutschlands - die eine Fälschung spiegelt den anderen Betrug, die Tinte das Blut.
Mitten in der rasenden Menge der johlenden Reporter stehen zwei »alte Kameraden«, einer Obergruppenführer der SS (gespielt von Georg Marischka), der andere ein Kunstprofessor Hitlers (Karl Schönböck). Beide fragen sich mitten im Rausch, was denn wohl die Buchstaben F. H. auf den angeblichen Hitler-Tagebüchern bedeuten, denn, so Marischka mit beißendem Spott, »Fritz hat er ja wohl nicht geheißen«.
»Falscher Hase«, sagt der andre Alt-Nazi, und dann ermahnen sich die beiden, den Arsch zusammenzukneifen, Ruhe zu bewahren. Sie merken, mitten im Triumph, daß Hitler gerade zum zweiten Mal den Bach hinuntergeht, hinab in den Orkus, in einen Dreck aus Betrug und Fälschung.
Die Weltgeschichte wiederholt sich nicht, sie repetiert ihre blutigen Tragödien nur als billige Komödien. Und das war ja wohl der wahre, der innerste Kern der Hitler-Tagebücherei: Sie versuchte, zum zweiten Mal und postum, aus dem Führer ein Idol, einen anständigen Kerl zu machen, sie wollte aus dem Mörder einen Menschen machen - so wie sich der Mörder seinen blinden Anhängern gern anbiederte.
Jede der in Hamburg gedrehten Szenen des Dietl-Films macht das aufs schönste deutlich: Es bedurfte der schmierigen Energien eines Sozial-Desperados, um alle Gesetze des politischen und gesellschaftlichen Anstands außer Kraft zu setzen. George, von einer dämonischen Energie angetrieben, wirkt wie eine journalistische Zweitausgabe eines Vorbilds, das sich nach oben gehangelt hat. Auch er droht im sozialen Sumpf zu ersaufen, also zieht er, wild um sich rudernd und schlagend, die anderen zu sich hinunter.
Der Reporter als höhnisch-satirisches Echo auf den Führer. Vor allem aber eine Gesellschaft, die mitten in Saturiertheit und Aufschwung endlich von der Geschichte freigesprochen werden wollte: Wenn Hitler ein Mensch war, dann, nicht wahr, dann waren alle, die ihm folgten, Menschen. Dann war die Vergangenheit, durch sentimentale Tagebucheintragungen über Eva und Arbeit und Moral, endlich bewältigt. Dann war die Geschichte reinigend umgeschrieben.
In einem Springer-Büro wird eine Redaktionskonferenz der Illustrierten Express (wie der Stern, zum allgemeinen deutschen Beispiel verfremdet, heißt) abgehalten. Es ist die Konferenz, auf der Willie, von seinen Geldnöten geschüttelt, seiner Chefredaktion die Jacht »Carin II« als Titel verkaufen möchte, für 40 000 Mark sei sie zu haben, das deutscheste aller Schiffe.
Harald Juhnke, der den Ressortleiter Kummer mit knaziger Stimme, Cowboystiefeln und buntem offenen Hemd unter all den Schlipsträgern der höheren Ebene spielt, weiß, daß seinem Willie das Schiff, das der zum Titel machen will, selbst gehört.
Aber auch die Chefredakteure finden es schnell heraus. Willie-George wird immer verzweifelter, er bietet seine braune Ware wie auf dem Trödelmarkt an. Görings Bademantel, weiß, mit Achselklappen und Goldborten, Görings Tafelsilber, das er aus der Nichte des dicken Marschalls herausgeschlafen hat. Er zieht es, während er vor seinen Bossen in die Knie geht, aus einem blauen Plastiksack.
Der eine Chefredakteur (Hermann Lause spielt ihn als leisetreterischen Anpasser, der immer Angst hat, von anderen untergebuttert zu werden) schnuppert am Mantel den Schweiß der Geschichte: 40 Jahre ist es her, und der Mantel riecht noch . . . Der andere Chefredakteur (Martin Benrath), ein knorriger Boß mit demokratischem Selbstbewußtsein, verbittet sich Hitler-Devotionalien: Solange er Chefredakteur sei, käme der braune Dreck nicht aufs Titelblatt.
Eine andere Szene, in Övelgönne, wo die Jacht »Carin II«, inzwischen voll bezahlt und wieder in Schuß gebracht, zum Ort wird, wo Willie Heidemann triumphal und triumphierend als Entdecker der Hitler-Tagebücher seine Chefredakteure zu einer Feier an Bord lädt. Genau wie im richtigen Leben (sprich: Stern) konnte der Reporter die Bücher hinter dem Rücken seiner schwächlichen Chefs mit Hilfe des Verlags ins Blatt bugsieren: Jetzt soll der braune Dreck auf den Titel, als Weltsensation Nummer eins.
Und Willie läßt seine Chefs vor den Nazigrößen Kotau machen. Er stellt seinen demokratischen Chef, der sich jeglichen Hitler-Kult verbeten hatte, einem SS-Obergruppenführer und einem Nazi-Historiker vor. Die Herren salbadern was vom »Herz, das auch in der Brust des Führers schlug«. Und Benrath, der sich mühsam ein einverständiges Grinsen abquält, zeigt einen Chefredakteur beim Gesinnungsknick.
Wie konnte es geschehen? So konnte es geschehen. Damals 1933 und damals 1983, als man die deutsche Geschichte neu schreiben wollte. Jetzt schreibt Dietl sie als Komödie.
Manchmal wird klar, warum Dietl seinen Film, sein Presse-Hamburg nicht im sterilen Studio, sondern am Ort der Handlung drehen mußte. Schon vorher hatte er in Nordrhein-Westfalen und in der ehemaligen DDR gefilmt: vom Aufwand, so Dietl, der deutsche Atmosphäre aufspürt, fast ein »road movie«. Denn so etwas wie einen Geist des Ortes (früher Genius loci genannt) gibt es, manchmal im winzigen Detail.
Als Dietl bei Paolino dreht, das Lokal von Weiß auf Rot umfärbt, bleibt aus Gründen der optischen Überzeugungskraft nichts so, wie es war. Die Schirme, die Girlanden, die Kerzenkandelaber, all das überstrahlt die Wirklichkeit zur Film-Realität. Nur die Speisekarte bleibt. Und der Zufall will es, daß sie mit einem Foto des wuchtigen Henri Nannen bei Tisch Reklame macht. Nannen, das war doch der mächtige Schatten, der die schwächlichen Nachfolger in das grelle Licht des vermeintlichen Hitler-Ruhms trieb?
Auf der Mammutpressekonferenz im CCH schwenken die begeisterten Teilnehmer der historischen Sternstunde die Illustrierten-Nummern mit den Hitler-Tagebüchern auf dem Cover wie Fahnen eines Sieges. Die Express-Hefte gleichen der historischen Stern-Nummer. Die gleichen Kladden mit den gleichen verschnörkelten Initialen, bei denen sich Kujau so plump zwischen »FH« und »AH« vergriffen und vertan hatte - ohne daß jemand diesen platten Schwindel merkte. Der echte Stern vom 28. April 1983 zeigte die falschen Tagebücher bläulich eingefärbt. Jetzt, auf dem Deckblatt der Film-Illustrierten Express, sind sie braun »verfälscht«.
Blau und braun, blauäugig und braunstichig - das ist der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahrheit, auf den es Dietl ankommen lassen will.