»Eine Zensur findet gelegentlich statt«, Klaus Staeck
Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland keine Zensurbehörde, keine Stelle, die als Amt Manuskripte, Bilder und Noten beurteilt. Es gibt keine Stelle, bei der man sieh Auskunft und einen Stempel, ein Imprimatur für weltliche Schriften holen könnte.
Trotzdem gibt es in der Bundesrepublik immer mehr Menschen, die in der apodiktischen Feststellung des Grundgesetzes »Eine Zensur findet nicht statt« nur noch eine ironische Floskel sehen, ein Relikt aus liberaler Zeit. Zwischen Augenzu- und Panikmache hat sich eine Grauzone gebildet, die zur allgemeinen Verunsicherung beiträgt.
Es gehört zum Wesen der Zensur, daß man sie nicht klar definieren kann. Der weiße Fleck in der Zeitung, das geschwärzte Bild sind romantische Relikte aus einer Zeit, in der es Leute gab, die ganz offiziell die Berufsbezeichnung Zensor trugen. Bald jeder Narr weiß inzwischen, daß die Selbstzensur das eigentliche Problem der Zensur ist.
Die Selbstzensur macht die Zensur, den Eingriff von außen, überflüssig. Funktioniert sie total, kommt die Zensur denkgesetzlich gar nicht mehr vor. Der Verfassungssatz: Eine Zensur findet nicht statt, würde formal voll erfüllt, weil eine Notwendigkeit zum Eingriff gar nicht mehr vorkommt.
Zur Beschreibung der Grauzone gehört auch der Mißbrauch, der mit dem Wort Zensur gelegentlich getrieben wird. In einem Klima, in dem Zensur und Selbstzensur grundsätzlich als möglich erscheinen, entschuldigt sich mitunter auch die Unfähigkeit mit der Zensur, um die Verwirrung komplett zu machen.
Dabei hält die Gesellschaft schon immer zwei Mittel bereit, um mit dem Unbequemen, dem Ungewöhnlichen und Ungewohnten fertig zu werden: Konsumierung oder Kriminalisierung mit vorausgegangener Isolierung.
Nachdem Jahre ins Land gegangen sind, ohne daß die Wirksamkeit meiner Arbeiten wesentlich unter dem Verschleiß gelitten hätte, dem jeder Konsum ausgesetzt ist, wird die zweite Variante von meinen politischen Gegnern um so intensiver geprobt. Für mich sind Zensur und Selbstzensur keine inhaltsleeren Begriffe, mit denen ich auf akademischen Podiumsdiskussionen jongliere, sondern dutzendfach erfahrene Realität.
Dabei tritt die Zensur in immer neuen Formen auf, oft schwer nachweisbar, relativ selten direkt und offen, manchmal freiwillig mitvollzogen, gelegentlich in einer Art Überreaktion auch nur eingebildet. In Zeiten wie diesen wird auch vieles der Zensur zugeschrieben, das in Wahrheit nur der Feigheit zum Opfer fiel.
Ein Ziel jeder Zensurmaßnahme ist die Erreichung eines Zustandes, der den nächsten Eingriff nicht mehr erforderlich macht. Zensur war immer unpopulär. Erst die für Dritte kalkulierbare Form von Selbstzensur erübrigt das Verbieten, Streichen, Schneiden. Die Angst des Individuums, der Zensur zum Opfer zu fallen, produziert den von Beginn an gereinigten Text, der des Zensors nicht mehr bedarf.
Im Laufe der Zeit sind immer größere Bereiche entstanden, von denen »man ja weiß, daß man dies und jenes nicht mehr schreiben und senden darf": in Sendeanstalten, Zeitungen, Verlagen, Studios, Gremien. Die Zensur ist eine Seuche, die immer dort erfolgreich war, wo sie in totaler Selbstzensur endete. Im Bayerischen Rundfunk wird künftig kaum noch Anlaß für Zensur bestehen, da fast niemand mehr da ist, der die von oben vorgegebene dead-line überschreiten wird. Der Gedanke an die Zensur bei »Bild« ist schon deshalb ein Witz, da das negative Ausleseprinzip der Institution »Bild« die Redakteure nur »Bild«-konform handeln läßt. Die institutionalisierte Selbstzensur hat das Phänomen Zensur abgeschafft.
Nachdem alle noch so verwegenen Attacken gegen meine Person (Volksverhetzer, Schmierfink, Linksradikaler, Politpornograph) die Wirkung meiner Arbeiten nicht beeinträchtigen konnten, schrieb ein Bundestagsabgeordneter aus Melsungen im Mai 1976 an die Hersfelder Zeitung: »Diese Agitation Staecks ist typisch faschistisch. Wenn sie »Kunst« ist, dann sind auch die Hetzkarikaturen der Nazis, mit denen sie im »Stürmer« unsere jüdischen Mitbürger verächtlich machten, nachträglich als »Kunstwerke« anzusehen.«
Dankbar hatte ein Politiker die absurde Vorgabe der »FAZ« (Goebbelspropaganda) aufgegriffen und noch ein wenig zugelegt. Eine neue Waffe sollte erprobt werden, nachdem alle bisherigen Diffamierungsversuche im wesentlichen fehlgeschlagen waren. Mit einer später vom Landgericht Fulda bestätigten einstweiligen Verfügung wurde der wirre Faschismusvorwurf vorerst untersagt.
Doch der Abgeordnete war sich seiner Sache sehr sicher. Am 7. Juni 1977 hob ein Kasseler Senat des OLG Frankfurt die Verfügung in letzter Instanz wieder auf. Auch dem Gericht war die inzwischen eingetretene politische Klimaveränderung nicht verborgen geblieben. Was ein Jahr zuvor noch als undenkbar erschien, wurde nun der Öffentlichkeit als Beispiel für Meinungsfreiheit angepriesen. Eine makabre Situation: die Rechtesten der Rechten beschimpfen den Antifasehisten mit juristischer Billigung als Faschisten.
Angesichts dieser Begriffsverwirrungen fällt es naiven Zeitgenossen zunehmend schwerer, sich in diesem Dschungel zurechtzufinden. Da für den einen oder anderen Rechten das Wort Faschist wiederum keine richtige Beschimpfung ist, wurde ich am 5. Oktober 1977 zu einer Veranstaltung in Schwäbisch Hall von einem Studiendirektor im »Haller Tagblatt« als Linksfaschist begrüßt.
Wer aber will schon faschistische Propaganda in seinem Rathaus, Gemeindesaal, Turnhalle, Bibliothek, Schule oder Universität? Nicht zu zählen die Schar jener, die aus Furcht, sich einem absurden Vorwurf auszusetzen, unter diesen Umständen von vornherein auf eine Ausstellung verzichten.
Zensur und Selbstzensur gedeihen nur in einem spezifischen Klima der Verunsicherung. So verbot der Oberbürgermeister von Weiden im Jugendzentrum eine Ausstellung meiner Plakate ohne jede Begründung. Einige Zeit zuvor hatte der OB von Donauwörth die Veranstalter vor die Alternative gestellt, entweder Schließung der Ausstellung oder des ganzen Jugendzentrums. Zu einer öffentlichen Diskussion über das Verbot konnte es in der Stadt selbst nicht mehr kommen. Alle Gasthäuser zogen unter Druck ihre feste Raumzusage wieder zurück.
Gelegentlich gebiert das neue Klima auch Wunderliches: Nachdem ein Stuttgarter Gericht einem Strafgefangenen mein Filbinger-Plakat wegen vermuteter Gotteslästerung beschlagnahmte, beschloß die CDU-Fraktion Berlin-Kreuzberg, das Rathaus während der Dauer meiner Ausstellung nicht mehr zu betreten. Mangels Mehrheit hatte man die Ausstellung nicht verbieten können. Dafür wollte mich ein Abgeordneter aus Berlin Tiergarten am liebsten gleich »eliminieren
Wo sich die Mehrheitsverhältnisse geändert haben, muß möglichst viel mit verändert werden. Als in Lahn/Gießen die CDU mehrheitsfähig geworden war, erinnerte sie sich sofort eines Wandbildes nach einem meiner Plakate. Der zuständige Stadtrat erschien mit einer Malerkolonne, um das Wandbild vor den Jugendlichen schwarz übermalen zu lassen.
Zensur ist Aggression -- Selbstzensur die Unterwerfung unter diese reale oder auch nur eingebildete Aggression. Selbstzensur ist die Folge der eingestandenen, akzeptierten Ohnmacht. Deshalb ist die Grenze zwischen berechtigter Angst und bloßer Feigheit so fließend.
Habe ich Angst oder bin ich ein Feigling, wenn ich das auf einem Heilbronner Schulhof gefundene anonyme Flugblatt ernstnehme, das meinen Namen und Adresse mit dem Zusatz nennt: »Rache für Hanns Martin Schleyer. Tod allen Roten!«? Vielleicht bin ich leichtsinnig, wenn ich es völlig ignoriere.
Das schwierigste Problem: Inwieweit trägt wiederum die Beschreibung der Zensur zur Verstärkung der Selbstzensur bei?
Dazu ein Beispiel: Heinrich Böll hatte in der »FAZ« eine mir gewidmete Erzählung veröffentlicht. Ihr liegt der authentische Sachverhalt zugrunde, daß ein Lehramtskandidat in Süddeutschland ernsthafte Schwierigkeiten bekam, nur weil er mich kannte. Ein anderer Lehramtskandidat erfährt beim Lesen dieser Erzählung von dem Sachverhalt und fühlt sich auch betroffen. Er schreibt gerade an einer Zulassungsarbeit über meine Plakate und ändert sofort den Titel seiner Arbeit, um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen. Ergebnis: Hätte ich Böll den Sachverhalt nicht mitgeteilt, hätte er diese Erzählung so nie geschrieben, und es hätte der zweite Kandidat nichts von dem Vorfall erfahren und somit auch nicht sein Thema ändern müssen.
Als Frage bleibt, ob die Schilderung einer Einschränkung nicht zu neuen Einschränkungen einlädt. Naiv gesagt. wer nicht weiß, daß man für etwas gerügt werden kann, ist vielleicht mutiger, weniger ängstlich. Wirkt die ständige Schilderung einzelner Fälle von Repression am Ende verstärkend auf die allgemeinen Repressionen? Es ist eine Situation vorstellbar, in der die immer neue Aufdeckung von Fällen der Zensur und Selbstzensur auf einen Normalbürger derart entmutigend wirkt, daß er zu dem bißchen selbstverständlicher Courage, derer jede Freiheit bedarf, nicht mehr fähig ist.
Klaus Staeck
als Graphiker durch seine politischen Plakate ebenso bekannt wie durch deren tatkräftige Verächter, weiß aus eigener Erfahrung, daß Zensur in der Bundesrepublik kein ideologisches Schatten gebilde ist. Eben wegen seiner jahrelangen Erfahrungen mit demokratischen Saubermännern war Staeck einer von rund zwei Dutzend Autoren, die in einem vom Frankfurter Fischer Taschenbuch Verlag geplanten Buch (Titel: »Mut zur Meinung") die Praxis von Zensur und Einschüchterung in Presse, Rundfunk, Theater und anderen Kultur-institutionen beschreiben sollten. Als jedoch die Beiträge vorlagen, bekam der Verlag, der das Projekt selbst initiiert hatte, Angst vor der eigenen Courage. Wegen »rechtlicher Bedenken« schwand ihm der Mut zur Meinung, das Buch gegen Zensur und Selbstzensur wird nun nicht erscheinen. Unter den sieben vom Verlag als juristisch »besonders kritisch« eingestuften Aufsätzen ist der Beitrag von Klaus Staeck, den der SPIEGEL leicht gekürzt veröffentlich.