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GESELLSCHAFT Einfaches Leben

Ein Verein mit einem Jahresetat von 6,5 Millionen Mark hat festgelegt, was die Armen in der Bundesrepublik zum Leben brauchen: ein grotesker Katalog.
aus DER SPIEGEL 18/1980

Wer in der Bundesrepublik in Not gerät, hat Anspruch darauf, auch weiterhin ein Leben zu führen, das »der Würde des Menschen entspricht«. So bestimmt es das Bonner Sozialhilfegesetz -- und was er zur Menschenwürde braucht, wurde mit deutscher Gründlichkeit geregelt.

Elf Pfund und 405 Gramm Brot pro Monat sind dazu nötig, streng geschieden in jeweils 2385 Gramm »Schwarzbrot (Roggenbrot)« und »helles Mischbrot« sowie 1135 Gramm »Weißbrot«. 640 Gramm »Weizenmehl (Type 405)« gehören dazu und 85 Gramm »Nudeln (Eierware)«, 55 Gramm Haferflocken und 155 Gramm Hülsenfrüchte.

Zwölf Pfund Kartoffeln und dazu noch eine 100-Gramm-Knolle sollen den menschenwürdigen »Aufbau und die Erhaltung des Körpers« garantieren, ferner 850 Gramm Kohl, ein halbes Pfund Mohrrüben, 100 Gramm S.258 Spinat, 360 Gramm Kopfsalat, 410 Gramm Zwiebeln und 20 Gramm »Erbsen (Schoten)«. Und einmal im Monat gibt es ein Viertel »Suppenhuhn (tiefgekühlt)«, im Gewicht von 545 Gramm.

Solche Kohl- und Nudelrechnereien, über Seiten und Seiten, fügen sich zu einer Art »Warenkorb«, nach dem die »Regelsätze« des Bundessozialhilfegesetzes festgelegt werden -- jene derzeit 309 Mark im Monat, die -- im Bundesdurchschnitt -- von der Sozialhilfe als Chance zum Überleben ausgeworfen werden.

Eine sozialwissenschaftliche Diplomarbeit an der Bremer Universität hat nun erstmals ans Licht gebracht, mit welch bizarrer und in manchem wohl eher weltfremder Akkuratesse das westdeutsche Armenbrot gebacken wird.

( Albert Hofmann: »Die Regelsätze nach ) ( dem Bundessozialhilfegesetz«. ) ( Universität Bremen, Fachbereich ) ( Sozialwissenschaften. )

Zu verantworten hat dieses Rechenwerk der 1880 gegründete »Deutsche Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit«, der seit 1919 als »Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge« firmiert. Sein hundertjähriges Engagement für das Soziale ist so angesehen, daß sogar der Bundespräsident ihm die Reverenz erwies, als der Verein am Mittwoch letzter Woche in der Frankfurter Paulskirche mit einem »Festakt« sein Jubiläum beging.

Der private Verein lebt auf Kosten der Steuerzahler, eine großzügige »Bundesförderung« und »Länderzuschüsse« erlauben es ihm. Der größte Teil seines Jahreshaushaltes von 6,5 Millionen Mark geht für »Personalkosten« drauf.

In seiner »Geschäftsstelle«, dem 1972 für 13,7 Millionen Mark erbauten Frankfurter »Hans-Muthesius-Haus«, wirken 100 fest angestellte Mitarbeiter, darunter ein »Geschäftsführer«, vier »Abteilungsleiter« und 24 »Fachreferenten«. Ihnen zur Seite stehen 35 »Vorstandsmitglieder«, elf »Fachausschüsse« und 15 »Arbeitskreise«.

Alles sind »sozial erfahrene Personen«, wie die langjährige Vorsitzende des »Deutschen Vereins«, die pensionierte Leiterin des Hamburger Landessozialamtes, Dr. Käthe Petersen, betont.

Und eine Handvoll dieser Sachverständigen, die in der Regel zugleich in den höheren Etagen der Sozialbehörden und der Wohlfahrtsverbände wirken, hat minutiös bestimmt, was ein Bundesbürger beanspruchen kann, wenn er, weil alt und ohne Rente oder arbeitslos und alleinstehend, vom Staat »Hilfe zum Lebensunterhalt« begehrt. S.259

Gesetzlich dazu legitimiert war der Verein noch nie; aber seit Bismarck hat sich der jeweilige Gesetzgeber von ihm beraten lassen. Und so schien es folgerichtig, daß der »Deutsche Verein« -genauer: sein »Arbeitskreis ''Aufbau der Regelsätze''« -- um die Zusammenstellung eines »Bedürfniskatalogs« zum Bundessozialhilfegesetz ersucht wurde.

Die Ausschußmitglieder unterzogen sich der Aufgabe zuletzt 1970, in sieben Sitzungen, und leisteten dabei »mühevolle und ausdauernde Arbeiten«, wie Frau Petersen sich erinnert.

»Umfassende Untersuchungen« auf »wissenschaftlicher Grundlage« widmeten sie nach eigenem Bekunden »vor allem der Zusammensetzung und dem Ausmaß einer vollwertigen Ernährung«. Beistand leistete ihnen dabei der Bonner Professor für angewandte Ernährungsphysiologie, Dr. agr. Willi Wirths, der als Experte bereits den »Ernährungsbedarf unehelicher Kinder« und die »Nährstoffzufuhr von Studierenden« ermittelt hatte.

Vom Grundbedarf einer »Tagesmenge von 2250 Kalorien« ausgehend, stellte sodann der Professor eine »Liste der gebotenen Nahrungsmittel für eine nährstoffreiche, vollwertige, abwechslungsreiche und bekömmliche Kost« zusammen, so der »Vereins«-Fachreferent Dr. Robert Imlau.

Der Arbeitskreis übernahm die professorale Lebensmittelliste nicht ungeprüft, sondern berücksichtigte zusätzlich die »Ernährungsgewohnheiten der unteren Verbrauchergruppen« (Petersen) sowie eine 1967 unternommene Erhebung des Statistischen Bundesamtes über den sogenannten »Haushaltstyp 1« -- Renten- und Sozialhilfeempfänger.

So gewannen die »Vereins«-Experten ein »umfassendes Bild« (Petersen) und die Erkenntnis, daß 15 »deutsche Eier, Güteklasse A, Gewichtsklasse 3« zur allmonatlichen Rettung der Menschenwürde gehören, ebenso wie 325 Gramm »Harzer Käse« und 6130 Gramm »frische Vollmilch in Flaschen«.

Edamer Käse (150 Gramm) soll es sein, aber offenbar kein Emmentaler. 205 Gramm »Heringe in Tomatensoße« sind angezeigt, aber keine einzige Ölsardine, 180 Gramm Herz oder Lunge gehören (unter dem Stichwort »Innereien") in den Armenkatalog, aber Leber ist wohl nichts für sozial Schwache.

Die ganze Esserei freilich soll den Sozialhilfeempfängern pro Monat nur 176,13 Mark (57 Prozent des Regelsatzes) kosten. Für »Kochfeuerung und Beleuchtung« sind weitere neun Prozent vorgesehen (27,81 Mark), diese wiederum aufgeschlüsselt in 15 Kubikmeter Gas zum Kochen und drei weitere für zwei Wannenbäder, ferner 16 Kilowattstunden Strom für die Nutzung einer 100-Watt-Glühbirne und den »Betrieb elektrischer Geräte« (durchschnittlicher S.260 Pro-Kopf-Verbrauch in der Bundesrepublik 1979: 100 Kilowattstunden im Monat).

Für die »Bedarfsgruppe Instandhaltung von Schuhen, Kleidung und Wäsche sowie kleinere Instandsetzungen von Hausrat«, einschließlich »Neubeschaffung von geringem Anschaffungswert« sind fünf Prozent des Regelsatzes angesetzt (15,45 Mark) und für »Körperpflege und Reinigung« neun Prozent (27,81 Mark).

Darunter versteht der »Deutsche Verein« den Aufwand für 60 Gramm »Feinseife«, eine halbe Stange Rasierseife, zwei Rasierklingen, 50 Gramm Zahncreme, 15 Gramm »Hautcreme«, einmal »Haarschneiden« oder »Waschen und Legen« sowie etliche Waschmittel; dreimal im Jahr darf ein Sozialhilfeempfänger eine Hose oder ein Kleid reinigen lassen und alle fünf Monate einen neuen Besen kaufen, aus »Roßhaar«.

61,80 Mark haben die Sozialbürokraten zudem für die »persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens« angesetzt. »Beziehungen zur Umwelt« soll jeder Hilfsbedürftige unterhalten können, mit Hilfe von monatlich vier »Briefmarken im Fernverkehr«, fünf Blatt Briefpapier und fünf Umschlägen, sechs »Straßenbahn- oder Omnibusfahrkarten«, einer Bundesbahnrückfahrkarte für 30 Kilometer für die »Teilnahme an geselligen Veranstaltungen« oder »auch Ausflügen«.

»Teilnahme am kulturellen Leben« wird alle zwei Monate durch eine Kino- oder Theaterkarte garantiert, auch die Entscheidung für »Sportveranstaltungen« ist zulässig. Ein »Taschenbuch« für 2,60 Mark ist ebenfalls vorgesehen.

Sogar an die »Bewirtung eines Gastes« haben die »sozial erfahrenen Personen« des »Deutschen Vereins« gedacht: 300 Gramm Kaffee setzten sie dafür im Monat an, außerdem 50 Gramm Tabak und drei Flaschen Bier.

2,1 Millionen Bundesbürger müssen sich nach dem 309-Mark-Regelsatz richten. Doch bei der Jubelfeier des »Deutschen Vereins« am Mittwoch letzter Woche war keiner von denen dabei, die nach dem am grünen Tisch ersonnenen Bedürfnis-Reglement leben müssen. Polizei hatte die Frankfurter Paulskirche abgeriegelt. Kein Sozialhilfeprotestler sollte die Würde des glanzvollen Festes stören dürfen.

An die soziale Wirklichkeit erinnert wurde ein paar Straßenzüge weiter, auf dem Frankfurter Liebfrauenberg. Dort hatten ein paar Dutzend Sozialhilfeempfänger und Studenten der Frankfurter Fachhochschule für Sozialarbeit und -pädagogik den Inhalt des sozialen Warenkorbs aufs Gramm genau zur Schau gestellt. Einer fragte Passanten: »Würde Ihnen das reichen?« Die Antwort war: »Damit käme ich nicht mal ''ne Woche aus.«

S.257Bei der 100-Jahr-Feier des »Deutschen Vereins für öffentliche undprivate Fürsorge«.*S.258Albert Hofmann: »Die Regelsätze nach dem Bundessozialhilfegesetz«.Universität Bremen, Fachbereich Sozialwissenschaften.*

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