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DEBATTE »Eingeweide des Zeitgeistes«

Der Philosoph Peter Sloterdijk über seine umstrittenen Thesen zum Steuerstaat und sein Manifest für Leistungsträger
Von Matthias Matussek
aus DER SPIEGEL 44/2009

SPIEGEL: Herr Sloterdijk, seit Wochen tobt eine Debattenschlacht um Ihre Positionen. Wie erklären Sie sich die Wut von Kollegen wie Axel Honneth, die Sie angegriffen haben?

Sloterdijk: Ich weiß nicht, ob es tatsächlich Wut ist. Ich glaube ja eher, dass diese Angriffe bestellte Artikel sind, aber egal. Ich lese in den Äußerungen der Frankfurter Professoren vor allem eine ganz große Enttäuschung über sich selbst. Wenn überhaupt Wut darin steckt, wird sie übertönt von einer Klage, die als Anklage daherkommt, der Klage darüber, dass es ihnen nicht gelungen ist, die publizistische Hegemonie auszuüben, die sie aufgrund ihrer intellektuellen Prätentionen hätten ausüben sollen und wollen.

SPIEGEL: Könnte es nicht auch andere Gründe geben? Inhaltliche zum Beispiel?

Sloterdijk: Die inhaltliche Debatte beginnt erst allmählich, und meine Angreifer haben zu ihr außer moralisierenden Klischees nichts beigetragen. Bisher dominiert bei den Frankfurter Kollegen ein eher kümmerlicher Protest gegen das nicht mehr zu leugnende Ende der Kritischen Theorie in Deutschland.

SPIEGEL: Jürgen Habermas, die Autorität der Kritischen Theorie, wird das anders sehen. Sollten Sie sich nicht einmal direkt mit ihm auseinandersetzen?

Sloterdijk: Ich habe ihm damals, als unser Streit manifest wurde, über den gemeinsamen Verlag und über Journalisten, die uns beide kennen, ein halbes Dutzend förmliche Duell-Einladungen übermittelt, aber er hat sich immer entzogen.

SPIEGEL: Es scheint ziemlich kompliziert zu sein, miteinander ins Gespräch zu kommen. Ständig antworten Echos auf Echos.

Sloterdijk: Ich beklage das wie Sie. Faktisch haben die Habermasianer es fertiggebracht, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments durch den sehr zwangvollen Zwang der schnelleren Denunziation zu ersetzen - und wo sich Denunzianten zu Wort melden, ist die Debatte vorbei, bevor sie begonnen hat. Es werden hierzulande keine Argumente, sondern Anschuldigungen ausgetauscht. Wie im Fall von Thilo Sarrazin - kaum war der erste Protest gegen seine gepfefferten Thesen erschienen, haben alle Späteren ihre Empörung vom Vorempörer abgeschrieben. Mich ärgert so etwas, es kommt mir vor wie organisierte Feigheit vor der Wahrheit.

SPIEGEL: Nun haben Sie für die Zeitschrift »Cicero« auch noch ein »bürgerliches Manifest« geschrieben, in dem Sie ...

Sloterdijk: ... hier muss ich gleich Einspruch erheben, weil ich den Begriff »bürgerlich« allzu mehrdeutig finde. Ich spreche vom Bürger ausschließlich in seiner Eigenschaft als Steuerbürger, der Ausdruck »bürgerliches Manifest« lässt an etwas denken, was außerhalb meiner Absichten liegt.

SPIEGEL: Also Staatsbürger. Aber gegen »Manifest« haben Sie nichts?

Sloterdijk: Der Ausdruck ist mir recht, weil meine Zuspitzungen ihn rechtfertigen.

SPIEGEL: Was treibt Sie, sich jetzt auch noch in die Tagespolitik einzumischen?

Sloterdijk: Meine Intervention ist nicht tagespolitisch, sondern betrifft die semantischen Verhältnisse einer ratlosen Gesellschaft. Als Zeitdiagnostiker ist es mein Beruf, in den Eingeweiden des Zeitgeistes zu lesen. Wie viele andere Zeitgenossen ziehe ich seit einem Jahr Konsequenzen aus der Finanzkrise - und mache mir Gedanken über die vielbeschworene Wiederkehr des Staates. Ich setze aber den Akzent an einer Stelle, die viele lieber nicht beleuchten. Ich gehe der Frage nach, woher überhaupt der plötzlich wieder stark scheinende Staat seine Stärke nimmt - und die Antwort heißt: Sie beruht auf der Zwangsbesteuerung.

SPIEGEL: Das ist nun mal unser System. Aber Sie fordern einen Aufbruch derjenigen, die den Staat finanzieren. Wohin sollen die aufbrechen?

Sloterdijk: Ich glaube, dass wir den Steuerstaat und mit ihm das ganze öffentliche Zusammensein nur dann reformieren können, wenn wir uns dem Staat gegenüber nicht als Schuldner, sondern als Geber begreifen. Ich möchte dem gebenden Bürger einen Rahmen für eine veränderte Selbstauffassung anbieten.

SPIEGEL: Sie sprechen von »Stolzkultur«. Ist das Ihr ideologischer Kampfbegriff für die Besserverdienenden?

Sloterdijk: Ich interessiere mich nicht für die Besserverdienenden, sondern für alle, die genug verdienen, damit sich bei ihnen der fiskalische Zugriff lohnt. Stolz ist zudem kein Kampfbegriff. Es ist ein Weckruf, der darauf hinweist, dass die Gesellschaftsmaschine bis auf weiteres nur von den Leistungen der Steueraktiven lebt, und die bilden eine relative Minderheit. Leider hat man bei uns die Tatsachen und die Zahlen in den Keller gesperrt. Rund 25 Millionen Menschen zahlen in Deutschland in nennenswertem Umfang Steuern, sofern man von den Konsumsteuern absieht. Rein fiskalisch gesehen sind diese 25 Millionen die Leistungsträger, die den Rest der 82-Millionen-Population in Deutschland mittragen. Nicht nur Junge und Alte, was völlig in Ordnung ist, sondern auch ein wachsendes Heer an Leistungsfernen, die, da sind sich die Experten einig, tendenziell nie wieder in der Leistungszone auftauchen werden, weil sie durch das Transfersystem in eine maligne Abhängigkeit gelockt werden.

SPIEGEL: Maligne bedeutet in der Medizin bösartig.

Sloterdijk: Bösartig ist, was sich weder von selbst noch durch die laufende Behandlung bessert. Wir haben auf Kosten der Steueraktiven ein einzigartiges Umverteilungssystem geschaffen, das zudem enorme latent illegale Subventionen in bestimmte Industrien kanalisiert. Man wartet seit längerem auf eine umfassende Darstellung der Verhältnisse, doch bei solchen Themen schläft unsere Kritische Theorie den kritischen Schlaf der Gerechten.

SPIEGEL: Jetzt sprechen Sie wie ein Neoliberaler.

Sloterdijk: Ich spreche als lebenslanger Sozialdemokrat, der über die Zustände erschrocken ist. Riefe ich zur Demontage des Sozialstaates auf, was ich in keiner Weise tue, wäre die Empörung mancher Kritiker wohl erklärbar. Doch mir ging es um etwas völlig anderes, nämlich den sozialpsychologischen Umbau der Gesellschaft oder besser um eine psychopolitische Umstimmung. Ich möchte darauf hinwirken, dass das Klima, in dem die Bürger a priori als Schuldner des Staates gesehen werden, abgelöst wird durch ein alternatives Klima, in dem sich alle darüber Rechenschaft ablegen, wer die gebenden Gruppen sind. Außerdem würden sich in einer Geberkultur die Aktiven besser um das kümmern, was aus ihren Spenden wird - sie würden ihre Gelder zum Teil selber an bestimmte Gemeinwohladressen fließen lassen. Jetzt aber herrscht nur dumpfe Hinnahme der Abgaben und ebenso dumpfer hintergründiger Widerstand.

SPIEGEL: Sie glauben, dass Menschen, die von der nehmenden auf die gebende Seite wechseln, mit sich und anderen bessere Erfahrungen machen. Das klingt genauso wie »Geben ist seliger denn Nehmen« aus der Bibel. Glauben Sie, dass Sie damit in der politischen Arena bestehen können?

Sloterdijk: Darum geht es doch nicht. Ich möchte eine Gesellschaft voranbringen, die auf einem Wettbewerb stolzer Geber beruht und nicht auf der dumpfen Konfiskation von geschuldeten Gütern. In den Stadtstaaten der Antike haben die Wohlhabenden den großen Rest des Gemeinwesens ganz selbstverständlich mitgetragen, aber nicht aufgrund von Schuldgefühlen, sondern weil das Wertsystem sie dazu motivierte. Deren Aktivitäten wurden als ein »euergetisches System« beschrieben, ein Netzwerk der »guten Werke«. Das klingt fürs Erste nach Neuem Testament, aber der zugrundeliegende Gedanke reicht weiter zurück. Im Übrigen ist dieser antike Gedanke in den USA, wo unter christlichem Gewand viel mehr römische Motive wiederaufgenommen wurden, als Europäer erkennen, zu neuem Leben erwacht, denn dort gibt es in spektakulären Formen, was hier nur ganz diskret passiert: ein neues euergetisches Netzwerk und einen lebhaften Großzügigkeitswettbewerb der Wohlhabenden, weit über die Steuerpflichten hinaus.

SPIEGEL: Die Finanzkrise wurde durch Leute ausgelöst, die von Gier getrieben waren und sich nicht im Geringsten ums Gemeinwohl scherten.

Sloterdijk: Das glaube ich nicht - oder nur zur Hälfte. Technisch gesehen ist die Krise vor allem durch die abstruse Niedrigzinspolitik der Zentralbanken ausgelöst worden, wodurch das Anlagekapital dazu verführt wurde, sich auf alles zu stürzen, was mehr als null bringt. Etwas anderes ist die Frage nach der psychopolitischen Steuerung der Kultur im Ganzen, und auf diesem Feld trifft die Feststellung zu, dass die Balance zwischen Gier und Stolz völlig verlorengegangen ist. Würden wir den Akzent auf die stolzen, die gebenden Tugenden zurückverlagern, würden wir mit der Zeit eine andere Zivilisation ansteuern. Die wäre nicht notwendigerweise postkapitalistisch, aber sie würde das jetzige gierbetonende System hinter sich lassen. Solange wir eine solche Umstimmung nicht erreichen, bleibt nur der unvornehme Steuerzwang, um die Menschen an ihre vornehmeren Aufgaben zu erinnern.

SPIEGEL: Was schlagen Sie vor?

Sloterdijk: Ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn die Summen, die jetzt durch die Zwangssteuer aufgebracht werden, durch spontane Abgaben der Bürger zusammenkämen.

SPIEGEL: Ein utopisches Gedankenspiel. In unserem System ist das unvorstellbar. Die Pointe müsste doch wohl in eine ganz andere Richtung zielen: Im Moment übertreffen die Transferleistungen an die Banken bei weitem diejenigen für die Hartz-IV-Empfänger. Da wurden über Nacht Hunderte von Milliarden lockergemacht - virtuell zumindest. Offenbar ist der Staat viel reicher, als wir dachten.

Sloterdijk: Diese Enthüllung verdanken wir der Krise, und es war höchste Zeit, dass wir uns an den Staat und sein Verfahren, reich zu werden, erinnerten. Vor der Lehman-Pleite lebten wir in einem Zustand der vollkommenen Staatsvergessenheit. Man bekam zeitweilig den Eindruck, wir bevölkerten einen ökonomischen Dschungel, aus dem sich die Staatsmacht zurückgezogen hatte. Der Staat ist aber als nehmende und umverteilende Hand letzter Instanz in unserem Weltentwurf unübertroffen. Bei einer Staatsquote von rund 50 Prozent kann es nicht ausbleiben, dass der Staat die größte Wirtschaftsmacht darstellt. In der Frühzeit der BRD lebten wir mit einem rein soziologistischen Weltbild, heute ist es ein ökonomistisches, aber in dem einen wie dem anderen ist die Staatsblindheit programmiert.

SPIEGEL: Welche Gefühle haben Sie noch für die SPD?

Sloterdijk: Ich würde sagen, Melancholie und Nachsicht. Ich habe nie etwas anderes als die SPD wählen können, aus familiären und persönlichen Gründen, nicht unbedingt aus philosophischen. Aber es gibt einen Trost: Die objektive Sozialdemokratisierung der Staatsstruktur sorgt dafür, dass man die Sozialdemokratie als Partei während ihres Aufenthalts im Oppositionssanatorium vorübergehend entbehren kann. INTERVIEW: MATTHIAS MATUSSEK

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