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THEATER Einladung zum Mitschießen

Die Moskauer begeistern sich für Brechts »Dreigroschenoper«. Von Wladimir Koljasin
aus DER SPIEGEL 12/1997

Koljasin, 41, ist Germanist in Moskau.

Ganz Moskau pfeift das Lied vom Mann, »den man Mackie Messer nennt": Der wilde Osten, wo Banditismus und Staatsmacht längst so eng verwachsen sind wie einst im frühkapitalistischen London des Mr. Peachum, erlebt einen bizarren Brecht-Boom.

Nicht dem »Kaukasischen Kreidekreis« oder der »Mutter Courage« gilt die Begeisterung, sondern dem anarchischen, kulinarischen Brecht der zwanziger Jahre. Marxistische Dialektik, selbst in Brechtscher Verfremdung, ist gegenwärtig wenig gefragt in Rußland. Um so mehr die »Dreigroschenoper«.

Gleich vier Versionen des Gangsters Macheath sind gegenwärtig auf Moskaus Bühnen zu betrachten. Der Mackie-Song ist nicht nur auf protzigen Empfängen von Neureichen der Hit der Saison, auch der Fernsehwerbung dient er als Erkennungsmelodie fürs Anpreisen von Luxusgütern. Eine Talkshow spürt der »Dreigroschenoper«-Mode nach - und viele Feuilletonisten zeigen sich verblüfft und entzückt, wie lebensecht Brechts Verbrecher aus dem heutigen Rußland entlehnt scheinen.

Die sozialen Verwerfungen von heute spiegeln zwei Moskauer Versionen des Ganoven-Singspiels: Die teure Mackie-Show im Satirikon-Theater - Ausländer zahlen bis zu 100 Dollar pro Billett - zeigt den Helden als Gauner von Format, der bereits die halbe Stadt kontrolliert und an die ganz große Macht will. Das vergleichsweise preiswerte Spektakel in Andrej Rossinskis Labortheater dagegen präsentiert einen blutjungen Mackie-the-Kid, der noch auf dem Wege ist vom ordinären Straßen-Schlagetot zum etablierten Mafia-Paten.

Die Satirikon-Inszenierung sei »das erste Projekt im Broadway-Format, von Regisseur Wladimir Maschkow nach allen Regeln des Show-Geschäfts vermarktet«, berichtete kommersant-daily, Hausblatt der Moskauer Jung-Pfeffersäcke. Das krisengeschüttelte Theater gewann dafür die Kommunikationsfirma »Bee Line« als Sponsor: Der Betreiber eines expandierenden Mobiltelefonnetzes stieg mit einer halben Million Dollar ein. Die für Moskauer Theaterverhältnisse ungeheure Summe wurde, so Regisseur Maschkow, lohnend in Ausstattung angelegt. Das Bühnenbild läßt mit 1000 Lämpchen die Stadt an der Themse aufleuchten, dazu gibt's Pyrotechnik nach Western-Art - wie eine Einladung zum Mitschießen.

Als der Vorhang sich zur Premiere hob, waren sie alle da - und sind es seither Abend für Abend: Banker und Kasinomanager, leitende Angestellte und Spekulanten, in teurem Tuch und mit Handys am rechten Fleck. Anfangs mochten sie auf den Gebrauch dieser Statussymbole auch während der Vorstellung nicht verzichten. Inzwischen bittet eine Lautsprecheransage die »glücklichen Besitzer« solcher Spielzeuge um Enthaltsamkeit.

Vor allem die neureichen Bosse amüsieren sich köstlich. Hauptdarsteller Konstantin Raikin, Sohn des großen Sowjet-Entertainers Arkadij Raikin, hält ihnen in der Rolle des Macheath den Spiegel vor. Er ist einer von ihnen, mit derselben Spielermentalität - wie gewonnen, so zerronnen.

Raikins Mackie hätte alle Chancen, sich draußen im brodelnden Moskau Respekt zu verschaffen, als »Bisnisman« und Bandenführer: ein Frechling, der besticht, lügt, phantasiert und mit charmantem Lächeln über ein Minenfeld tanzt. Seine Bootsfahrt mit betörend schicken Mädchen, in deren Kreis er hofhält wie ein Sultan mit seinen Kebsweibern, muß den Phantasien russischer Mafiosi geradezu Flügel machen.

Das »Dreigroschenoper«-Gegenstück zur Satirikon-Pracht wird in einem Westentaschen-Theater gegeben. Es wohnt zur Untermiete in einem riesigen, längst unrentabel gewordenen Kulturpalast, dem viele bunte Kioske inzwischen die Atmosphäre eines Flohmarktes übergestülpt haben. Das Publikum stellen jugendliche Außenseiter und alte Theaterfans; großes Geld fände niemals den Weg hierher.

Im Labortheater ist Macheath noch jung, empfindlich, ein Mann ohne Glanz und Erfahrung. Ins Gauner-Metier mag er frisch aus einem Studentenheim oder einem kleinen Forschungslabor geraten sein. »Mit Geld läßt es sich leben«, heißt das russische Pendant des Brechtschen »Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!« Das Schmarotzer-Virus ist im Visier dieser »Dreigroschenoper«-Parodie - und der Spaß daran, leicht zu Geld zu kommen.

Beide sonst so unterschiedlichen Aufführungen haben eines gemeinsam: die ungläubige Angst in Mackies Augen angesichts des Todes. Seit der wilde Markt in Rußland ausgebrochen ist, wird menschliche Existenz nur am Tode gemessen - Ausdruck einer Zeit, in der das Geld alles und das Leben nichts gilt.

Wladimir Koljasin

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