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ARCHÄOLOGIE Einsicht aus Abfall

Wissenschaftliche Leistungsschau in Köln: Deutsche Archäologen ergruben ein »neues Bild der Alten Welt«.
aus DER SPIEGEL 28/1975

Die Masse muß es bringen. In der Kunsthalle Köln stehen Besucher jetzt vor einer gewaltigen Vitrinenwand mit Töpfen über Töpfen: rund 850 keramische Behälter in Reih und Glied.

Und dieses Geschirr en gros. 2000 Jahre alt und älter, ist nur ein Drittel eines Bodenfundes, den schleswig-holsteinische Ausgräber zwischen 1956 und 1959 in Schwissel im Kreis Segeberg aus dem Erdreich geklaubt haben, um ihn vor dem Bau einer Bundesstraße in Sicherheit zu bringen. Sie legten so den größten Urnenfriedhof der vorrömischen Eisenzeit in Norddeutschland frei. Der Friedhof ließ auf dichte Besiedlung schließen und auf 400 Jahre ununterbrochene Begräbnistätigkeit.

Der Fall ist typisch. Schätze oder Einzelwerke von hohem Kunstwert sind es nur ausnahmsweise, nach denen deutsche Archäologen und Bodendenkmalspfleger zu graben pflegten. Viel häufiger stöbern sie im Schutt und kramen in Kloaken. sortieren Unmengen von schäbigen Scherben, Steinsplittern und Knochenresten, die oft nur noch statistisch auszuwerten sind: Buchstäblich aus Abfall setzt sich »Das neue Bild der Alten Welt« zusammen.

Unter so stolzem Titel erstattet die deutsche Archäologie in Köln einen »Leistungsbericht seit 1945« für jedermann. Während gleichzeitig im Mainzer Römisch-Germanischen Zentralmuseum einschlägige Aktivitäten. soweit sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert worden sind, mit exemplarischen Fundstücken und einer vierhändigen Fachpublikation belegt werden (bis 31. Juli), breitet rheinab eine Großausstellung das Material in Fälle aus (bis 30. September) und setzt entschieden auf den populären Effekt der Vergangenheit.

Die Volks-Neugier auf vorvorgestern ist in Köln ohnehin chronisch: Da drängen täglich fast 5000 Besucher ins Römisch-Germanische Museum, obwohl die Sammlung kaum überragende Preziosen zu bieten hat, sondern hauptsächlich Schutt und Schrott der Antike.

»Was den Bürger interessiert«. so folgert Direktor Hugo Borger, sei die historische »Alltäglichkeit«; nach diesem Rezept hat er nun auch »Das neue Bild der Alten Welt« entworfen.

Das Kolossalgemälde (zu dem Bund, Land und Stadt etwa 500 000 Mark, die Bodendenkmalpflege-Ämter zwischen Schleswig. Freiburg und Landshut Einsichten und Exponate beigesteuert haben) handelt demgemäß ausführlicher als von Fürsten- und Künstlerpersönlichkeiten von anonymen Werkzeugmachern, Töpfern und Totengräbern von der Urzeit bis ins Mittelalter -- ideale Harmonie des mutmaßlichen Publikumsinteresses mit neuen Forscher-Fragestellungen.

Den Ausgräbern allerdings blieb kaum eine Wahl. »In keinem einzigen Falle«, so Borger, »ist auch nur ein Gegenstand ans Tageslicht gekommen. weil Archäologen die Lust gehabt hätten, einem besonderen wissenschaftlichen Problem nachzugehen.« Die (Boden-)Umwälzungen der Nachkriegszeit -- Städte-Wiederaufbau und Braunkohlenabbau, U-Bahn- und Autobahn-Projekte -- erschlossen den Forschern große, sonst unzugängliche Grabungsfelder, trieben sie aber auch zu ständigen eiligen Rettungsaktionen an. Wie auf dem Urnenfeld von Schwissel hatte die Archäologie Bagger und Planierraupe permanent auf den Fersen.

Was in der Hast verlorenging. ist ebenso unabsehbar wie jenes Material, das noch im Boden steckt. Was aber zum Vorschein kam ("Die Spitze eines riesigen Eisbergs") waren, laut Borger, »Befunde und Fundmassen wie in der Geschichte der deutschen Archäologie nie zuvor«.

1968 stießen Bauarbeiter beim Ausschachten in Neuwied-Gönnersdorf auf Reste einer Siedlung der späten Eiszeit (um 10 500 vor Christus). Sie hatten ein ganzes Indizien-Reservoir des frühen Menschenlebens angestochen: Forellengräten und Mammutknochen als Speisereste, Bohrer aus Feuerstein und Geschoßspitzen aus Ren-Geweihen, Farbpulver und Holzperlen. Die Sensation des Fundes aber bildeten Schieferplatten mit eingravierten Tiergestalten und kurvigen Frauensilhouetten.

Seit 1965 wurde am rheinischen Braunkohle-Tagebau »Inden« der erste komplette Gehöft-Grundriß der »Rössener« Jungsteinzeit-Kultur (viertes Jahrtausend vor Christus) freigelegt. Ein Steinzeit-Dorf beim württembergischen Ehrenstein. 1952 von einem Bagger angekratzt. gab neben Hausgrundrissen und reicher Keramik verzierte Steinscheiben in diversen Fabrikationsstadien frei -- ein Lehrkurs der urtümlichen Steinbearbeitung. 1950 schon waren Bauarbeiter bei Straubing auf einen Kupferkessel gestoßen, in dem einst Teile von Paraderüstungen römischer Militärs vergraben waren.

Deutsche Archäologen hoben zwei bis drei Meter hohe hölzerne Germanengötter aus einem Moor nahe Eutin. zogen in Münster ein Pferde- und ein Hundeskelett ans Licht (Überbleibsel eines Tieropfers, das dort einen frühmittelalterlichen Wall beschützen sollte), holten über 70 karolingische »Schallgefäße« (zur Verbesserung der Akustik) unter dem Fußboden der Kirche in Meschede hervor und bargen im bayrischen Peiting die 800 Jahre alte Moorleiche einer Wöchnerin.

Nur wenig von der Ausgräber-Beute aus 30 Jahren spricht, gar mit ästhetischer Aura, in einer Ausstellung für sich -- so etwa der reich verzierte Fund aus Straubing. so auch ein grandioses Deckengemälde aus dem Trierer Römerpalast. Das meiste vermittelt nur in didaktischer Anordnung und mit ausführlicher Erläuterung einen Sinn.

Die Kölner Ausstellung überwindet dieses Handicap durch manches geschickte Arrangement, das Lebens- und Fundsituationen wiederherstellt: Faustkeile sind in Schichten, wie im Boden liegend, angeordnet; bearbeitete Steingeräte erheben sich über Halden von Abfall-Splittern: in Rekonstruktion erscheint der Querschnitt durch eine Lübecker Latrine. Zusätzlich demonstriert die Super-Schau Arbeitsweisen der Archäologen mit Schautafeln und realen Hilfsapparaten. Zu festgesetzten Zeiten führen Wissenschaftler vor, wie man verrostete Eisenfunde aufmöbelt oder Tierknochen sortiert.

Doch den Schritt von der Forschungsmethode zum Forschungsresultat zu veranschaulichen gelingt der Ausstellung kaum. Auch wird von den (überdies zu kleinen) Beschriftungen in den Vitrinen der hilfreiche »Ceram-Effekt« (Borger), der Reiz der Entdeckungsgeschichte. oft schmählich verschenkt. Die Vermittlung des »neuen Bildes« ist nur halb geglückt nicht zuletzt wohl, weil die Super-Schau um ein Vierteljahr vorverlegt und überhastet abgeschlossen werden mußte.

Daß freilich ohnehin Geschichte nur mit Einschränkungen visuell darzustellen ist, wissen auch die Kölner Volksbildner ganz gut. Ausgräber und Aussteller Borger ist deswegen »besonders vergnügt«, sein Thema noch schwarz auf weiß festgehalten zu haben. Eine sowohl für Ausstellungsbesucher als auch für spätere Leser in 100 000 Exemplaren edierte »Illustrierte« (320 Seiten; 8 Mark) läßt Anschauungs-Lücken durch Lektüre schließen.

Selbst für die Forschung ist das populäre Werk bedeutend, weil es mehr als eine noch unpublizierte Ausgrabung vor dem Vergessen schützt. Im Drange der Archäologen-Geschäfte, sagt Borger, kann es sonst leicht vorkommen. »daß manches Wissen den Ausgräber nicht überlebt.«

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