Theater Elf Goetheaner im Heu
Abgeschabte Fassaden, bröckelnde Mauern, ein großes Kraftwerk und dazwischen Brachland: Es ist eine unwirtliche Gegend weit hinter dem Berliner Ostkreuz, in der die Spaßguerrilleros und Theaterrabauken der Berliner Volksbühne im ersten Stock eines Verwaltungsbaus ihre Proberäume eingerichtet haben.
Drinnen ist von Tristesse nichts zu spüren, dort geht es eher zu wie im Komödienstadl. Die Bühne ist ganz mit Heu bedeckt, und mittendrin steht ein junger Mann, der ziemlich wohlgenährt ist - es fällt nicht schwer, das zu erkennen, denn er ist nackt bis auf einen ledernen Lendenschurz. Vier junge Damen, in viel weiße, rosa und hellblaue Spitze gehüllt, nähern sich ihm verlegen lächelnd, aber mit eindeutiger Absicht.
Am Resopaltisch gleich neben der Schäferspielszenerie sitzt der Regisseur Stefan Bachmann und tuschelt wie ein Schulbub mit seinem Nachbarn. Zugleich beobachtet er aufmerksam, wie die Mädchen den armen Mann auf der Bühne in die Enge treiben und ihn in eine Holzkiste hineinbugsieren, die als Badewanne dient. Sie klauen ihm den Schurz und spielen damit »Fang den Ball« - und Bachmann kichert über dieses pubertäre Spiel ebenso ausgelassen wie die jungen Frauen.
Ausgerechnet dieser große Knabe, der da mit seinen Mitspielern feixt wie der Klassensprecher bei der Vorbereitung der nächsten Kellerfete, wird als Regiehoffnung der Jahrtausendwende gehandelt. Stefan Bachmann ist der Mann, auf den Gerard Mortier bei seiner Frischzellenkur für die Salzburger Festspiele baut; gerade hat auch die Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Theater heute den Schweizer zum »Nachwuchsregisseur des Jahres« gemacht. Und der Theaterprofessor und ehemalige Intendant Ivan Nagel, der immer noch eine gewichtige Stimme hat im deutschen Bühnenbetrieb, unternahm in der FAZ den »Versuch einer deutschen Theatergeschichte der Zukunft« und erklärte Bachmann darin zu einem der Protagonisten.
Andere mögen vom Erfolg des eben 30jährigen überrascht sein; Bachmann selbst gibt sich so gelassen, als hätte er sich einmal zu oft gesagt, die Anerkennung von allen Seiten dürfe ihm um Gottes willen nicht zu Kopf steigen. »Man weiß doch, wie flüchtig dieses Lob ist«, sagt er brav, und: »Meine größte Qualität besteht darin, mit guten Leuten zusammenzuarbeiten.«
Das klingt nach koketter Bescheidenheit, aber bei Bachmann stimmt es wohl ausnahmsweise. Seinen Ruf als Regiehoffnung hat er sich nämlich vor allem mit dem Berliner »Theater Affekt« erworben, einer freien Truppe, die er 1992 selbst mitgegründet hat und der er - neben Arbeiten an diversen festen Häusern - weiterhin treu bleiben will.
Elf Freunde müßt ihr sein, lautet die Losung. Zwei Schauspielerinnen sowie den Bühnenbildner Hugo Gretler und den Dramaturgen Thomas Jonigk (auch ein Theater-Affekt-Gründungsmitglied) hat Bachmann für seine erste große Inszenierung an der Volksbühne mitbringen dürfen, die anderen sind Mitglieder von Frank Castorfs Ensemble.
Geprobt wird »Der Triumph der Empfindsamkeit«, eine kaum bekannte »dramatische Grille« von Goethe, 1777 so nebenbei geschrieben, als selbstironische Parodie auf die auch den Urheber mehr und mehr enervierende Werther-Gefühlsduselei. Am Mittwoch dieser Woche soll Premiere sein.
Im Zentrum des Stücks steht ein Prinz, der die reale, unvollkommene Welt nicht mehr erträgt und sich eine künstliche Natur hat erschaffen lassen. Auch von seiner Angebeteten mit dem seltsamen Namen Mandandane, der Frau des Königs, hat er sich ein Ebenbild schnitzen lassen, und das liebt er natürlich mehr als die Frau aus Fleisch und Blut. Mandandane aber glaubt an die echte Liebe des Prinzen, der König will seine Frau zurück, es gibt zwei rätselhafte Orakelsprüche und, zumal dank der vier quirligen Hofdamen, einen Haufen Verwicklungen - doch am Schluß wird alles gut.
Genaugenommen sei dieses Stück durchaus zu Recht vergessen, sagt Bachmann, er aber möge es, weil sich darin »so ein Oberspießer wie Goethe plötzlich als witzig und verspielt entpuppt«. Und er hat dazu eine ganze Menge verwegener Ideen: Der Prinz ist bei Bachmann eine Popstarkarikatur à la Michael Jackson, der sich zur Entspannung an die Sauerstoffflasche anschließt, und die Puppe wird zum Sinnbild aller Nadja Auermanns und Christy Turlingtons, zur Symbolfigur jenes Fitnesswahns, der den Frauen von heute das Leben schwermacht.
Es ist inzwischen so etwas wie Bachmanns Spezialität, gerade dem scheinbar zu Tode gespielten Dramatiker Goethe neue Seiten abzugewinnen. Im vergangenen Jahr inszenierte er mit dem Theater Affekt des Meisters ebenfalls üblicherweise schamhaft unter den Teppich gekehrtes Singspiel »Lila« (und bekam auch für diese Inszenierung einen Preis). Ordentlich Furore machte er, als er aus dem ehrwürdigen Roman »Die Wahlverwandtschaften« gemeinsam mit dem Dramaturgen Lars-Ole Walburg ein munteres Beziehungsdrama destillierte: Die Produktion des Zürcher Neumarkt-Theaters war ein Hit des diesjährigen Berliner Theatertreffens.
Sein Erfolgsrezept ist in jeder der drei Inszenierungen zu erkennen: Gut gelaunt und mit viel liebevoller Ironie konzentriert er sich auf die im Stück verborgenen, ewiggültigen Beziehungsprobleme und Seelenqualen der Menschen - ein Wechselspiel von psychologischer Tiefenschärfe und oberflächlicher Witzelei, die sich im Idealfall die Waage halten. Dialoge zwischen Mann und Frau sind bei Bachmann immer auch eine Persiflage auf die einschlägigen Ratgeberbücher und das Paartherapeutengeschreibsel in den Hochglanzmagazinen, und auch das Theater wird stets mit spöttischen Randbemerkungen bedacht.
Darüber hinaus aber ist Bachmann ein präziser Theaterhandwerker: Er versteht es, die Schauspieler zu einer eingeschworenen Truppe zu formieren, er hat ein staunenswertes Gespür fürs Timing und für die richtige Musik, ob Klassik oder Pop - oder er engagiert die richtigen Musiker: Den »Triumph der Empfindsamkeit« begleitet Jürg Kienberger am Klavier, ein schlaksiger Clown, der durch seine Zusammenarbeit mit dem Schweizer Regisseur Christoph Marthaler den Ruf einer genialen Barpianisten-Charge genießt.
Gleich drei Kopien von Kienbergers Flügel sind neben dessen Instrument im Heu aufgepflanzt - fertig ist das Bühnenbild: Sie stehen für die Flügel des königlichen Schlosses, sind mal Schlafgemach, mal die besagte Badewanne. So entsteht auch in der großen Volksbühne ein Off-Theater der einfachen Mittel. Die riesige Bühne wird vor allem genutzt, um die sterile Scheinwelt des Prinzen darzustellen: Sein Reich ist ein riesiger aufgepumpter Gummireifen im finsteren Nichts, ein überdimensionaler Doughnut, in dessen Mitte sich der Prinz verkriecht.
Bachmanns Inszenierungen konzentrieren sich auf die Figuren und die Geschichte, die sie erzählen - revolutionäre Theater-Erneuerung ist nicht ihr Anliegen. Es sind die Regie-Arbeiten eines 30jährigen, der seit seinem 16. Lebensjahr jede Menge gesehen und gelernt hat in den Theatern Europas: Bachmann benutzt die Kindlichkeit Peter Brooks, ohne dessen heiligen Ernst zu besitzen; er hat die Präzision und Poesie Luc Bondys kapiert, ohne so perfekt zu sein; und er versprüht manchmal den Sponti-Geist Frank Castorfs, aber nicht dessen Wut und intellektuelle Wirrnis.
Mit diesem Patchworkstil, den Bachmann zu einem ganz eigenen entwickelt hat, repräsentiert er eine Generation, die sich nicht nur die Haltungen, sondern eben auch die Ästhetik der letzten Jahrzehnte kritisch durchgesehen hat - und sich nur das herausklaubt, was ihr tauglich erscheint. Die Rolle des Aufrührers gehört nicht dazu; es sei denn als Pose.
Ein paar Monate Amerika nach dem Abitur in Zürich und die eine oder andere »Velo-Demo«, bei der man zwischen zwei Bieren mit den Freunden in der Kneipe mal kurz auf die Straße ging, einen Stein werfen - das war's zum Thema Rebellion in Bachmanns Biographie. Selbst die einzig typische Junger-Wilder-Mann-Marotte, die Bachmann lange pflegte, hat er sich gerade abgewöhnt - das Kettenrauchen. Statt dessen spielt er jetzt lieber mit Bierdeckeln, Gabeln oder Schokoladenpapier, wenn er nervös ist.
Die Stationen seines Aufstiegs absolvierte der Sohn eines renommierten Schweizer Kulturjournalisten ohne große Plackerei: An die damals für ihn noch anbetungswürdige Berliner Schaubühne gelangte der Regie-Lehrling über Beziehungen - er hospitierte bei Bondy und lernte eine Menge über die Borniertheit der Altvorderen: Die Stelle des Regieassistenten bekam er nicht.
Mehr resigniert als wütend begann er in Berlin ein Studium und spielte in einer Theatergruppe der Uni mit. Schon seine erste Regie dort - Brechts »Baal« - war ein solcher Erfolg, daß Bachmann beschloß, sich mit dem Theater Affekt selbständig zu machen. Und nach der ersten Inszenierung dort fragten die Stadttheater bei ihm an - erst Bonn, später auch die Volksbühne. Ausgerechnet hier, bei seinem Idol Frank Castorf, mußte er erstmals herbe Verrisse hinnehmen. »Die Anfängerübung als Angstmacher: Sind das schon die Theaterkiller von morgen?« fragte der Tagesspiegel erschrocken nach der Premiere von »Die falsche Zofe« in der Volksbühnen-Dachkammer.
Nach den jüngsten Triumphen in Zürich, Wien und in der Berliner freien Szene darf er nun bei Castorf auf der großen Bühne antreten - die Verabredung mit dem Intendanten erfolgte morgens gegen drei, auf einem der berüchtigten »Praterspektakel« der Volksbühne.
Der Jungregisseur war darüber ebenso erfreut wie verwundert: Dem Castorf, vermutet Bachmann, sei er eigentlich zu harmlos. Und wenn schon - immerhin war es Castorf, der über die Theaterkunst mal den schönen Satz gesagt hat: »Kunst ist Luxus. Man muß sie sich leisten können wollen.« Niemand serviert den Luxus derzeit so charmant wie Stefan Bachmann.
Anke Dürr