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MEDIZIN Empfindliche Stelle

Die oft bequeme und bislang gern genutzte Diagnose per Telephon birgt für die Ärzte künftig ein größeres Risiko. Ein Urteil des Bundesgerichtshofes drängt die Doktoren zu mehr Hausbesuchen.
aus DER SPIEGEL 14/1979

Der Patient, ein Student im höheren Semester, fühlte sich sterbenselend. Sein fiebriger Körper wurde von Schweißausbrüchen und Schüttelfrost gebeutelt. Durchfall und Erbrechen plagten ihn.

Mit letzter Kraft hätte sich der junge Mann in das gegenüberliegende Krankenhaus schleppen können. Statt dessen telephonierten erst seine Frau, später auch er selbst mit dem Hausarzt. Der tat, was viele Doktoren als Teil der ärztlichen Kunst betrachten: Per Telephon diagnostizierte er »Grippe« und verordnete ein Arzneimittel-Potpourri.

Am nächsten Tag fand man den Patienten tot auf, gestorben an einer ausgedehnten Lungen- und Rippenfellentzündung.

Damit hätte es mutmaßlich sein Bewenden gehabt, wäre die Ehefrau, eine Bankangestellte, »nicht in der Rechtsschutzversicherung gewesen«. So aber hielt die Berlinerin drei Jahre durch, prozessierte in drei Instanzen gegen den behandelnden Arzt und erstritt in der letzten Woche vor dem 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe ein bemerkenswertes Urteil (6 ZR 48/78).

* Kernsätze: »Es gehört zu den Aufgaben des Arztes, sich von dem Leiden des Patienten ein eigenes Bild zu machen.«

* »Ein Hausbesuch ist jedenfalls dann erforderlich, wenn es sich offensichtlich um eine schwerere Erkrankung handelt.«

* »Ferndiagnosen aufgrund mündlicher Berichte von Angehörigen können in den seltensten Fällen ausreichen, und viel anders ist es auch nicht, wenn der Arzt den Patienten selbst sprechen kann.«

Durch den Karlsruher Spruch wird die hei vielen Ärzten beliebte Telephondiagnose zu einem, wenn auch nur finanziellen Risiko: Der Doktor haftet künftig für die Folgen, wenn er es bei der unzureichenden fernmündlichen Beratung beläßt und sich seiner »Besuchspflicht« (BGH) entzieht.

Ob ein Arzt »verpflichtet ist zu kommen, wenn man ihn ruft«, galt bisher als strittig. Der ehemalige Bundesanwalt Dr. Max Kohlhaas, ein Arztsohn, sah »zwei widerstreitende Interessen« am Werk: des Arztes »Pflicht zur Hilfe« und sein »Recht auf Freizeit«. Für den Arzt und Sachbuchautor Dr. med. Wolf Ulrich war es hingegen keine Frage, daß der Hausbesuch bei bettlägerigen Patienten für den praktischen Arzt zu den »unvermeidlichen und erforderlichen Maßnahmen einer Krankenbehandlung« gehört, mithin ärztliche Pflicht sei's.

In die gleiche Kerbe schlägt jetzt der Spruch des 6. Karlsruher Zivilsenats. Formuliert wurde er unter der Regie des Bundesrichters Walter Dunz, 63, der den Ärzten seit elf Jahren die Leviten liest: »Eindeutig unmoralisch«, so Dunz 1973 vor Professoren der Tübinger Juristischen Fakultät, verhalte sich »die Mehrzahl der Ärzte« im Kunstfehlerprozeß' weil die Mediziner auch als unabhängige, vom Gericht bestellte Gutachter sich der »hergebrachten Standesmoral verpflichtet glauben«. Im Jahr darauf schrieb der 6. Senat seine Erkenntnis, daß die »überholten Standesregeln« der »Rechtsordnung widersprechen«, in einen Urteilstext.

Nicht minder deutlich wurden Dunz und Kollegen 1976. Damals dekretierten sie, daß Ärzte zu »naturwissenschaftlicher Denkweise« verpflichtet seien und jede, an »Überlieferungen aus vorwissenschaftlicher Zeit« orientierte Lehrmeinung »kritisch an neueren Erkenntnissen« zu messen hätten.

Was Dunz jetzt zur Frage der »ärztlichen Besuchspflicht« im Namen des Volkes verkündet hat, trifft die Doktoren wiederum an ihrer empfindlichsten Stelle: Mit 4,50 Mark lassen sie sich die »fernmündliche Beratung« bei Tage, mit fast sieben Marl< außerhalb der Sprechzeit honorieren, und in der Nacht nimmt der Doktor den Hörer für elf Mark ab.

* Dr. med. Wolf Ulrich: »Patient Dein Recht«. Mosaik Verlag, München: 160 Seiten; 14.80 Mark.

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