
Was ist denn jetzt schon wieder? Grundgesetz zerstört!!1!


Aktivisten der »Letzten Generation« plakatieren am Samstag am Denkmal »Grundgesetz 49«
Foto: Sven Kaeuler / dpaDieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
++ Berlin: Monument der Grundrechte in „Erdöl” getränkt ++
— Letzte Generation (@AufstandLastGen) March 4, 2023
Das Kunstwerk nahe des Bundestagsgebäudes zeigt die Artikel des Grundgesetzes. Wir haben heute gezeigt, wie die Regierung mit diesen umgeht.
Erdöl verfeuern oder Grundrechte schützen? 2023 geht nur eines von beidem. pic.twitter.com/Ss3wnNvI8S
Daraufhin ist die programmierte Empörung losgegangen, die sich vor allem darauf stürzte, die Aktivisten hätten das Grundgesetz angegriffen und beschmutzt und seien somit Feinde der Demokratie. Hier die drei vermutlich drastischsten Twitter-Reaktionen aus der Politik:
»Was für eine billige, würdelose Aktion. Ihr scheißt auf die Grundrechte, zerstört Kunst ähnlich wie die Taliban und fühlt Euch noch als Heldinnen und Helden! Glaubt Ihr allen Ernstes, Ihr bringt damit den Klimaschutz voran?!« Michael Roth, SPD, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages
»Aufmerksamkeit ist kein Selbstzweck. Wer für Klimaschutz demonstriert, kann das durchaus auf eine Weise tun, die weder brav noch angepasst ist. Kunstwerke zerstören, unsere freiheitliche Verfassung+Demokratie lächerlich machen, bewirkt für die Sache sicher nichts – im Gegenteil!« Ralf Stegner, SPD, Mitglied des Bundestages
»Mit der öffentlichen Zerstörung des Grundgesetzes hat die Letzte Generation ihre hässliche Fratze endgültig fallen lassen und gezeigt wo sie steht: Gegen den Staat und gegen die freiheitlich, demokratische Grundordnung. Diese Hasser der Freiheit sind der letzte Abschaum.« Frank Müller-Rosentritt, FDP, Mitglied des Bundestages
Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser kritisierte die Aktion: »Es gibt keinerlei Rechtfertigung dafür, ausgerechnet die Grundrechte zu beschmieren – und das auch noch am Bundestag, dem Herz unserer Demokratie. Das zeigt, dass diese Leute nur Chaos im Sinn haben. Diese völlig unwürdige Aktion muss nun konsequent strafrechtlich verfolgt werden«, sagte die SPD-Politikerin der »Bild am Sonntag«.
Worum geht’s eigentlich?
Die Klimaaktivisten wollten laut eigenen Angaben darauf aufmerksam machen, dass Grundrechte bereits in Gefahr seien, durch die Politik der Bundesregierung, die zu zögerlich auf den Klimawandel reagiere. In ihrer Pressemitteilung zu der Aktion heißt es: »Das Verbrennen von Erdöl führt uns in die Klimahölle. In der Klimahölle gibt es keine Menschenwürde, keine Freiheit und kein Recht auf Leben. Die Bundesregierung schützt unsere Grundrechte nicht.«
Sie verweisen auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2021, das besagte, das deutsche Klimaschutzgesetz sei teilweise verfassungswidrig. Meine Kollegin Susanne Götze hatte damals analysiert , dass die Richter:innen erklärten,
»dass die Gefahr besteht, dass durch künftig sehr hohe Emissionseinsparungen die Freiheit des Einzelnen ›potenziell betroffen‹ ist und damit von drastischen Einschränkungen bedroht.
Der Gesetzgeber müsse deshalb ›zur Wahrung grundrechtlich gesicherter Freiheit‹ entsprechende Vorkehrungen treffen und die Einsparungen besser verteilen.
Für die Klimaneutralität reichen die Regelungen im Klimagesetz nicht aus, deshalb muss die Regierung für die Zeit ab 2031 einen Fahrplan vorlegen.«
Die Bundesregierung hat nun das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 ausgerufen. Das ist der »Letzten Generation« zu spät.
Worum geht’s nicht?
Die Abschaffung des Grundgesetzes oder der Demokratie, jedenfalls lässt sich das aus dieser Aktion nicht ableiten. Man könnte darin auch eine Aufforderung zum Handeln sehen – an die Bundesregierung, um das Grundgesetz vor der Klimakatastrophe in der Zukunft zu schützen.
Wer hat angefangen?
Darüber lässt sich auch schon wieder streiten (angefangen womit?), aber sagen wir einfach, es war der 1997 verstorbene Klimaforscher Hermann Flohn, der 1977 im SPIEGEL zitiert wurde. Er meinte der Klimawandel »könnte nur verhindert werden, wenn es gelingt, das Energieproblem auf internationaler Ebene zu lösen und wenn die hypnotisierende Idee vom unbegrenzten Wachstum – die zwangsläufig in die Katastrophe führt – durch einen akzeptablen Kompromiss überwunden werden kann«. Wie gesagt, das war 1977.
Wer kapiert’s nicht?
Bernd Ulrich von der »Zeit« zum Beispiel: »Diese Aktion und die mit dem abgesägten Baum: ich komme da nicht mehr mit, @AufstandLastGen . Das ist so verdreht, verkopft und unvermittelbar. Vielleicht solltet ihr doch mal eine Denkpause einlegen«.
Diese Aktion und die mit dem abgesägten Baum: ich komme da nicht mehr mit, @AufstandLastGen. Das ist so verdreht, verkopft und unvermittelbar. Vielleicht solltet ihr doch mal eine Denkpause einlegen @AimeevanBaalen #Klimakrise https://t.co/MlixQ6a3dJ
— Bernd Ulrich (@berndulrich) March 4, 2023
Anscheinend ist der Slogan »Erdöl oder Grundrechte?« dann doch zu komplex. Dass es, wenn wir weitermachen mit dem Erdöl und dem CO2-Ausstoß, durch die Klimakrise zu einer Einschränkung der freiheitlichen Grundrechte kommen wird, hatte das Bundesverfassungsgericht vor zwei Jahren festgestellt (s.o.). Ob das mit dem aktualisierten Klimaschutzgesetz verhindert werden kann, darf debattiert werden. Ob die Aktionen der Klimaaktivisten hilfreich in dieser Debatte sind, auch.
Warum jetzt?
Was Aufregenderes war am Wochenende offensichtlich nicht los (dabei gab’s ein 7:0 im Spitzenspiel der Premier League).
Hatten wir das nicht schon mal?
Ja. Suppe auf Gemälden, Klebeaktionen auf Autobahnen, Baum fällen vor dem Kanzleramt – die Aktionen der »Letzten Generation« sind aufmerksamkeitstechnisch recht effektiv, muss man festhalten. Kaum jemand, der auf Twitter einigermaßen aktiv ist, der oder die sich am Wochenende nicht geäußert hätte, scheint es.
Was wird übersehen?
Was steht noch mal im Grundgesetz?
Was folgt daraus?
Nicht viel vermutlich, dem Denkmal geht es gut.

Am Montag danach: Das Denkmal ist wieder sauber, das Flatterband kann wieder weg
Foto: Emil HeiseMuss ich noch was lesen?
Vielleicht diese Kolumne von Christian Stöcker über unseren Umgang mit Feuer:
Abschied vom Feuer: Seit Hunderttausenden von Jahren verbrennen Menschen Dinge, um Energie zu gewinnen. Wir lieben das Feuer – dabei könnten und sollten wir längst weitgehend darauf verzichten.Oder diese Analyse meiner Kollegin Susanne Götze zum Urteil des Verfassungsgerichtes 2021:
Festtag for Future: Erstmals mahnt das Bundesverfassungsgericht die deutsche Klimapolitik ab. Der Grund: Ohne ausreichenden Klimaschutz ist die Freiheit in Gefahr. Was das Urteil bedeutet und welche Folgen es hat .Dieses FAQ meines Kollegen Dietmar Hipp dazu, was Aktivismus darf und was nicht:
Was darf Protest? Wie weit dürfen Klimaaktivisten gehen? Wann greift das Strafrecht, und welche rechtlichen Unterschiede gibt es zu früheren Protestformen? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.Oder die wichtigsten Artikel des Grundgesetzes, ausgesucht von demselben Kollegen anlässlich des 70. Geburtstags der deutschen Verfassung 2019:
Diese fünf Artikel müssen Sie kennen: 70 Jahre Grundgesetz, Zeit für eine Huldigung: Karlsruhe-Korrespondent Dietmar Hipp hat fünf Artikel ausgewählt und erklärt, warum sie entscheidend sind: von Menschenwürde bis Pressefreiheit.