BIOGRAPHIEN Entrückte Besessenheit
Es gab einen Teufel in mir und auch einen Engel. Ich konnte beides sein. Und so war es mein Leben lang«, gestand Pianist Vladimir Horowitz einem Interviewer.
Horowitz, 78, gehört - wie sein 1957 verstorbener Schwiegervater Arturo Toscanini - zu den größten Musikern dieses Jahrhunderts.
Sogar der strenge, Stars verabscheuende Dirigent Toscanini verglich ihn, dessen Klavierspiel durch virtuosen Glanz, perfekte Nuancierung des Tons, Farbreichtum, überwältigende Kraft und zuweilen entrückte Besessenheit nicht seinesgleichen hatte, als Pianisten mit dem allergrößten: mit Franz Liszt.
Deutschlands Dirigiergenie Wilhelm Furtwängler hingegen klagte 1926, Horowitz sei ganz und gar nicht sein Typ. Und 1928 beschied er den jungen Mann, der schon in New York als »Tornado der Steppe« reüssiert hatte, bei der Probe zum zweiten und letzten gemeinsamen Auftreten (mit dem B-Dur-Konzert von Brahms): »Wir spielen das hier nicht so wie die Virtuosen in Amerika.«
Wutentbrannt beschloß Horowitz, mit dem »Ignoranten« nie mehr zu arbeiten, denn Furtwängler hatte hinterlistig vor das 50-Minuten-Konzert von Brahms Bruckners Achte Symphonie (80 Minuten) gestellt - und das hielten sogar in den heiligen Hallen der Berliner Philharmonie nur wenige Zuhörer bis zum Schluß durch.
Komponist Sergej Rachmaninow allerdings, selbst ein weltberühmter Pianist und später Horowitz-Freund und -Mentor, lobte 1931: »Bis ich Horowitz hörte, verstand ich nichts von den Möglichkeiten des Klaviers.«
In diesem Jahr ist nun in den USA die erste Horowitz-Biographie erschienen, die der studierte Pianist und New Yorker Musikschriftsteller Glenn Plaskin, 30, ohne den Segen des Meisters verfaßt hat. Penibel hatte er sich zuvor durch einen wahren Urwald von Recherchen - so allein durch angeblich fast 650 Gespräche mit Bekannten, Freunden und Ex-Freunden des Künstlers - gehangelt. _("Horowitz. A Biography of Vladimir ) _(Horowitz«. By Glenn Plaskin. William ) _(Morrow and Company, New York; 608 ) _(Seiten; 19,95 Dollar. )
Plaskins Recherchen-Urwald, in dem es zuweilen an Durch- und Überblick mangelt, weil der Autor Wichtiges mit Unwichtigem vermengt, ist dann doch wieder verdienstvoll durch die schiere Sorgfalt, mit der bislang Unbekanntes aufgespürt wird.
Das beginnt schon beim Geburtsjahr, denn wie beim vor kurzem verstorbenen Erzrivalen Arthur Rubinstein scheint es nicht genau bekannt zu sein.
Offensichtlich hat der Vater - fand Plaskin heraus -, ein jüdischer Elektroingenieur in Kiew, seinen Sohn vor den Behörden um ein Jahr jünger gemacht, um ihm den Militärdienst zu ersparen und eine Ausreisegenehmigung zu verschaffen: Demnach wäre Horowitz 1903 und nicht 1904 geboren.
Der schon in der Sowjet-Union legendäre Pianist durfte dann auch im Herbst 1925 nach Deutschland reisen, um in Berlin bei dem berühmten Artur Schnabel, der ihn seit einem Leningrader Konzert kannte und hochschätzte, seine Klavierstudien zu vollenden.
Doch das war nur ein Vorwand: Horowitz wollte nie mehr nach Rußland zurückkehren. Er haßte die Revolution, die seine Familie um Haus und Vermögen gebracht und seinen Vater für längere Zeit arbeitslos gemacht hatte.
Später, 1934, als der Vater endlich den berühmten Sohn besuchen durfte und ihn auf einer Tournee durch Westeuropa begleitete, kam er nach der Heimkehr wegen angeblicher Spionage ins Lager und ging elend zugrunde.
Auch der Geburtsort Kiew trifft laut Plaskin nicht zu. Nach dem eidesstattlichen Zeugnis eines Rabbiners ist Horowitz
in der kleineren, durch Pogrome verrufenen Stadt Berditschew geboren. Die Familie Gorowitz - auch den Namen änderte er später in Westeuropa - zog erst kurz nach seiner Geburt in das Zentrum der Ukraine um.
Wolodja, das gehätschelte Familienjüngste und musikalische Hausgenie, wurde entsetzlich verzogen: Sogar die Eltern trugen Filzlatschen, wenn der kleine Künstler ruhte. Seine Launen und Aggressionen wurden ebenso geduldet wie seine Neigung, sich abzukapseln und melancholisch vor sich hin zu brüten.
Auf dem Konservatorium in Kiew erregte er Bewunderung, aber auch Anstoß: durch Hochmut, durch Wutanfälle vor Prüfungen, durch seine Abneigung, ihn langweilende Musik korrekt vorzubereiten. Er klimperte sie dann entweder katastrophal falsch oder mit hochnäsiger Oberflächlichkeit herunter.
Mehrmals wurde er deswegen aus der Klasse gewiesen und blieb, ganz beleidigte Majestät, so lange zu Hause, bis der entrüstete Lehrer, nach vielen Vermittlungsversuchen, einlenkte.
In solchen »Jünglingsepisoden« entdeckte Plaskin »Launenhaftigkeit und Überempfindlichkeit angesichts von Kritik, hohe Selbsteinschätzung, Selbstgerechtigkeit«. »Er war sehr eitel«, sagte noch der 93jährige Rubinstein 1980 zu Plaskin, »und nur daran interessiert, großen Eindruck zu machen. Er tat so, als hätten Mozart, Beethoven, Schumann und Schubert nur gelebt, um ihm ''Show''-Musik für seine Zugaben zu liefern.«
Aber Rivale Rubinstein gestand auch: »Da gab es viel mehr als schiere Brillanz und Technik; da war eine mühelose Eleganz, das magische Etwas, das jeder Beschreibung spottet.«
Auch der große französische Pianist Alfred Cortot, den Horowitz bewunderte, war von ihm wenig angetan. Vor allem ergrimmte er, als ihm Horowitz nach dem Studium der 32 Beethoven-Sonaten stolz erklärte, nun könne er alles spielen - mit Ausnahme eines Trillers in der Hammerklaviersonate.
Damit stand für Cortot vorschnell fest: Horowitz war nur Techniker, er war kein Meister des Klaviers, der Geist und Gehalt der von ihm gespielten Werke angemessen erfaßte und wiedergab. Also feuerte Cortot auf den Pianisten: »In rund einer halben Minute war ich über die genaue Reichweite von Horowitz'' Intelligenz im Bilde. Ich war nicht interessiert ... an jemandem, der sich einen Sport daraus machte, seine physischen Talente clever zu nutzen.«
Doch die Klavierkunst von Horowitz war eben nicht nur Zirkusakrobatik, wie auch Rubinstein wußte. Ein so integrer Musiker wie der Pianist Rudolf Serkin erzählte Plaskin, wie er Horowitz 1926 in Basel zum erstenmal privat gehört hatte: »Dann setzte sich der junge, schlanke, zerbrechlich wirkende Mann ans Klavier und spielte Chopins g-Moll-Ballade. Ich fiel fast vom Stuhl vor Erstaunen. Die ''Weißglut'' seines Spiels, Feuer und Leidenschaft waren unglaublich, und mir standen die Haare zu Berge. Ich hatte niemals ... so eine Aufführung gehört, und ich werde sie niemals vergessen.«
Feuer und Leidenschaft entdeckte auch Toscanini bei Horowitz. »Ich mag mit diesem Jungen spielen!« rief er nach den ersten Proben aus. Später nannte er das Spiel seines Schwiegersohnes, dessen New Yorker Konzerte er fast alle besuchte, sogar »übermenschlich«.
Doch Spannungen mit dem despotischen Maestro blieben nicht aus. Trotz aller Bewunderung fühlte sich Horowitz unterdrückt und überfordert - und sein erster Rückzug aus dem Konzertsaal 1936 war auch darauf zurückzuführen.
Da half ihm die selbstlose Freundschaft Rachmaninows, der ihn während dieser Krise beständig ermutigte, wieder auf das Konzertpodium zurückzukehren.
Im August 1942 spielte Horowitz in der Hollywood Bowl mit dem Dirigenten William Steinberg unter freiem Himmel vor 23 000 Zuhörern sein Lieblingskonzert, das Dritte von Rachmaninow - das er auch dreimal für die Schallplatte aufnahm: 1930, 1951 und 1978.
Nach dem Konzert erhob sich der pathologisch scheue Komponist aus der letzten Reihe, ging aufs Podium, ergriff die Hände von Horowitz und sagte zum aufgestandenen Publikum: »Ich habe immer davon geträumt, mein Konzert so gespielt zu hören, aber ich habe nicht
erwartet, es jemals auf Erden auch so hören zu können.«
Diese Szene nannte Horowitz Jahrzehnte später den »größten Augenblick meines Lebens«.
Schon sein sowjetischer Manager hatte über den jungen Künstler geurteilt: »Er liebte die Musik über alles und war seinem Piano so treu wie ein mittelalterlicher Ritter seiner Dame.« Trotzdem ließ er seine Dame, das Piano, dreimal im Stich und trat nicht auf: 1936 bis 1938, 1953 bis 1965 und noch einmal 1969 bis 1974. Was war der Grund?
Einer seiner engsten Freunde von Jugend an, der große Geiger Nathan Milstein, der drei Jahre wie ein Sohn im Elternhaus von Horowitz gelebt hatte, sagte 1980 zu Plaskin: »Sogar bei Horowitz muß man verstehen, daß seine Kunst der eigenen neurotisch-hysterischen Natur entsprungen ist.«
Horowitz blieb Jahrzehnte seines Lebens auch wegen eines Psychoanalytikers, der ihn umpolen wollte, emotional frustriert und egozentrisch, ein Mensch voller Selbstqual und Ressentiments, dem in Wahrheit nur die Kunst Entlastung schuf - wenn er sie ausüben konnte: »Ich fühle ohne falsche Bescheidenheit, daß ich, sobald ich auf dem Konzertpodium stehe, der König bin.«
Schon in der jungen Sowjet-Union probierte er jedoch alle die Freiheiten aus, auf die er ein Recht zu haben glaubte - wobei er laut Plaskin seine Karriere auch weiterhin mit »absoluter Nüchternheit« unter Kontrolle hielt.
Fortan stilisierte sich der junge Horowitz mit superlangem Haar zum wiedergekehrten Chopin, lief durch Moskau mit riesigem Pelzmantel und Make-up, aber auch durch verrufene Seemannskneipen in Odessa und erfreute sich angeblich an Schwarzmarkt-Dollars, Drogen und einem Leningrader Schauspieler gesetzteren Alters.
Als dann im Westen das große Geld kam, legte sich Horowitz Luxusautos, Chauffeure und Kammerdiener-Sekretäre als Tournee-Begleiter zu. Ein junger Deutscher tat das fast sechs Jahre.
Die Herren heirateten 1933, und Plaskin schreibt: »Bei ihren Reisen stellten die beiden zukünftigen Ehemänner die Bilder ihrer Bräute auf die Nachttische und schüttelten selbstironisch-ungläubig die Köpfe, bevor sie zu Bett gingen.«
Doch Horowitz bewunderte seinen Schwiegervater als musikalische »Ikone«, zu der Wanda als ein »Teil« gehörte, und Toscanini-Tochter Wanda, die Energie und Temperament ihres Vaters geerbt hatte, heiratete Horowitz, weil sie ihn liebte. Freimütig gestand der 73jährige: »Wanda machte einen Mann aus mir und ihr Vater einen Musiker.«
Trotz aller Schwierigkeiten, trotz Entfremdung, Krankheit, Flucht aus dem Konzertsaal und zeitweiliger Trennung (1949 bis 1953) hielt diese Ehe, deren Partner am 21. Dezember goldene Hochzeit feiern werden.
»Horowitz. A Biography of Vladimir Horowitz«. By Glenn Plaskin.William Morrow and Company, New York; 608 Seiten; 19,95 Dollar.