Niemand weiß genau, wo Ossip Mandelstam begraben liegt. Es muß ein Massengrab im äußersten Sibirien sein. Man pflegte die Gruben mit Leichen zu füllen, denen als persönliches Kennzeichen ein Brettchen mit der Häftlingsnummer um den Knöchel gebunden wurde.
Wegen »konterrevolutionärer Tätigkeit« zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, war der Dichter im Oktober 1938 mit einem Sammeltransport im Durchgangslager »Wtoraja Retschka« bei Wladiwostok angekommen: in viel zu dünner Kleidung, zerlumpt und ausgezehrt - allem Anschein nach ein hinfälliger alter Mann, obwohl er gerade 47 Jahre alt war.
Die kurze Frist, die ihm noch blieb, ist von einem schwer entwirrbaren Geflecht von Gerüchten und Legenden umrankt. Einige wollten wissen, Mandelstam sei im Lager erst geisteskrank geworden und dann von Kriminellen umgebracht worden. Andere behaupteten, noch kurz vor seinem Tod habe er am Feuer Petrarca-Sonette rezitiert oder eigene, im Lager entstandene, Gedichte vorgetragen.
Davongekommene Lagerinsassen stimmen darin überein, daß Ossip Mandelstam unter der panischen Angst litt, er solle im Auftrag der Kommandantur vergiftet werden - als hätte es dieses besonderen Anschlages auf sein Leben noch bedurft. Er weigerte sich, seine Brotration und die dünnen Rübensuppen aus der Häftlingsküche zu essen, und setzte alles daran, auf andere Weise an Nahrung zu kommen. Den zerschlissenen Ledermantel, sein letztes halbwegs warmes Kleidungsstück, tauschte er gegen etwas Zucker ein. Einer seiner Leidensgefährten hat die gespenstische Szene geschildert, wie Ossip Mandelstam in einem Berg von Abfällen nach Eßbarem suchte.
Gewißheit über das Datum seines Todes brachte Mandelstams Strafakte, die 1989 aus den Archiven der sowjetischen Geheimpolizei ans Licht kam. Sie enthält neben dem Urteil des Moskauer Sondertribunals und den beiden letzten Fotografien des »Staatsfeindes« - sie zeigen den Häftling einmal im Profil und einmal von vorn, wie in Verbrecherkarteien üblich - auch die Sterbeurkunde. Diesem Dokument zufolge, das ein Lagerarzt namens Kressanow unterzeichnet hat, starb Ossip Mandelstam am 27. Dezember 1938 um 12.30 Uhr infolge von »Herzversagen und Arteriosklerose«.
Der größte russische Dichter des Jahrhunderts war zu Lebzeiten auch der vielleicht einsamste. Die Einzigartigkeit Ossip Mandelstams erklärt sich zum einen, wie der russische Nobelpreisträger Joseph Brodsky in einem großen Essay über sein Vorbild betont hat, mit seiner »ungeheuren lyrischen Intensität, die ihn von seinen Zeitgenossen absonderte und ihn zu einer Waise seiner Epoche machte«. Zum anderen aber zeichnete sich der Lyriker Mandelstam durch ein seismographisch genaues, fast übersinnlich feines Organ für die geschichtliche Katastrophe aus, deren Zeuge und deren Opfer er wurde. Er hat den Schrecken seines Zeitalters einen reinen Ausdruck verliehen.
Er hatte seine Gedichte, die er in ruhelosem Gehen verfaßte, fertig im Ohr, bevor er sie niederschrieb. In der mündlichen Überlieferung, in der geflüsterten Weitergabe seiner Verse triumphierte der Dichter Mandelstam auch in den finstersten Zeiten einer Diktatur, die ihn aus dem Gedächtnis der Menschen löschen wollte. »Ossip hat gesiegt. Auf die Kunst Gutenbergs ist er nicht angewiesen«, sagte Mandelstams poetische Weggefährtin Anna Achmatowa über den toten Freund - zu einem Zeitpunkt, wo seine Werke in Rußland noch immer verboten waren und außerhalb seiner Heimat kaum jemand Mandelstams Namen kannte.
Seine Lyrik schien, wie die Musik Mozarts in einer ganz anderen Sphäre, von einer inneren Stimme diktiert. Sie verlieh ihm eine höhere Unabhängigkeit vom geschriebenen und gedruckten Wort. In einer furiosen Polemik trotzte Mandelstam einmal, eingekreist von willfährigen Skribenten des Regimes, der Isolation: »Ganz allein in Rußland arbeite ich nach der Stimme, doch ringsum schreibt das dickfellige Pack.«
Eben diese Hellhörigkeit führte ihn in das äußerste Alleinsein. Sie läßt sein Schicksal unausweichlich erscheinen im Sinn jenes »gänzlich christlichen Gesichtspunktes«, unter dem der junge Mandelstam den Tod des Komponisten Alexander Skrjabin interpretierte: »Mir scheint, man dürfe den Tod eines Künstlers nicht von der Kette seiner schöpferischen Leistungen ausschließen, sondern müsse ihn vielmehr als das letzte, das Schlußglied der Kette betrachten.«
Allzulang stand Mandelstam im Schatten von Boris Pasternak, der jedoch den um ein Jahr Jüngeren früh als den Überlegenen empfand. Als Pasternak die erste Gedichtsammlung Mandelstams gelesen hatte, schrieb er ihm, ein wenig resigniert, er selber werde »im Leben« nichts Vergleichbares schaffen. Aber anders als Pasternak, den das Sowjetregime 1958 zur Ablehnung des Nobelpreises zwang (und ihn dadurch erst recht berühmt machte), ist Ossip Mandelstam vom großen Publikum bisher allenfalls schemenhaft wahrgenommen worden. Auch die epochalen Memoiren ("Das Jahrhundert der Wölfe") der Mandelstam-Witwe Nadeschda - einer von den Mördern vergessenen Zeugin, die ihr Leben daran wendete, das Werk ihres Mannes für die Nachwelt zu retten - konnten die fehlende Ausgabe von Mandelstams Werken nicht ersetzen.
In der Sowjetunion durften nach der halbherzigen »Entstalinisierung« von 1956 nur wenige zensierte Auswahleditionen veröffentlicht werden. Der Leserkreis der bis heute maßgeblichen russischen Ausgabe, die Emigranten in New York, Washington und Paris herausgaben, beschränkte sich, schon aus sprachlichen Gründen, auf einen winzigen Kreis von Emigranten und Slawisten.
In Deutschland hat Paul Celan, selber ein Poet von Rang und ein polyglotter Wahlverwandter des Russen, mit einem schmalen Bändchen von Nachdichtungen den Lyriker Mandelstam als erster vor dem völligen Vergessen bewahrt. Seither, in den vergangenen 30 Jahren, wurden zwar einige verstreute Einzelübersetzungen zugänglich, aber der größte Teil von Ossip Mandelstams weitgespanntem Werk - neben der Lyrik stehen Kinderbücher, neben den autobiographischen Schriften hellsichtige Essays - blieb im deutschen Sprachraum unbekannt.
Seit ein kleiner Zürcher Verlag das kommerzielle Wagnis eingegangen ist, eine vorzüglich ausgestattete und sachkundig erläuterte deutsche Mandelstam-Gesamtausgabe in Angriff zu nehmen, beginnt sich dies endlich zu ändern. Mit Ralph Dutli, einem in Paris lebenden Slawisten, hat der Verleger Egon Ammann einen gleichgesinnten Literatur-Enthusiasten als Übersetzer und Herausgeber gewonnen; für einen Mandelstam-Essay wurde Dutli 1988 in Klagenfurt ** Ralph Dutli: »Ein Fest mit Mandelstam. _(Über Kaviar, Brot und Poesie«. ) _(Ammann-Verlag, Zürich; 136 Seiten; 29,80 ) _(Mark. * Ossip Mandelstam: »Über den ) _(Gesprächspartner. Gesammelte Essays 1, ) _(1913-1924«. - »Gespräch über Dante. ) _(Gesammelte Essays 2, 1925-1935«. Aus dem ) _(Russischen übertragen und herausgegeben ) _(von Ralph Dutli. Ammann-Verlag, Zürich; ) _(jeweils 320 Seiten; insgesamt 100 Mark. ) mit dem »Internationalen Publizistik-Preis« ausgezeichnet.
Nach den beiden Lyrikbänden und der Prosasammlung, die im Rahmen der Ammann-Edition bereits vorliegen, folgt nun, zum 100. Geburtstag des Dichters in diesem Monat, eine zweibändige Ausgabe seiner Essays*. Der Herausgeber steuert zum gleichen Anlaß eine ebenso kenntnisreiche wie erfrischend unakademische Einladung zur Mandelstam-Lektüre bei**.
In nichts gleicht das Bild Ossip Mandelstams, das für den deutschen Leser seiner Werke allmählich Konturen annimmt, dem Klischee vom realitätsblinden Dichter. Früher und klarer als die meisten sah er das Unheil kommen, aber mit herausforderndem Stolz lehnte er es ab, sich von seiner Epoche und vom Schicksal seiner Nation trennen zu lassen. Nirgends war dieser gejagte, oft buchstäblich obdachlose Poet, der nicht nur Dante und Puschkin, sondern auch den lebenslustigen Galgenvogel Francois Villon zu seinen literarischen Ahnen zählte, weniger zu Hause als in einem Turm aus Elfenbein.
Geboren 1891 in Warschau, kam Mandelstam als Kind mit den Eltern nach Petersburg. Dort wuchs er auf, in der pulsierenden Hauptstadt an der Newa - aus den Sümpfen gestampft auf Befehl Peters des Großen, entworfen und mit Prachtbauten übersät von den besten Baumeistern Europas, durchzogen von einem Netz spiegelnder Kanäle, beherrscht vom legendären Newski-Prospekt. Petersburgs Glanz hatte sich mit der modernen Zivilisation verbunden. Petersburg, das war Rußlands weithin leuchtendes Fenster nach Europa.
Aber es war auch eine Stadt wie eine Fata Morgana, berühmt für das unwirklich scheinende, in Sommernächten kaum je verblassende Licht des Nordens. »Die abstrakteste und erfundenste Stadt« nannte sie Dostojewski, dessen kleine Leute ebenso von Petersburg geprägt sind wie die Helden Puschkins und Gogols. Petersburg war der Kopf Rußlands und das Herz seiner Literatur. Das klassische Maß und die geheimnisvolle Schönheit dieser Stadt, ihre selbstbewußte Tradition und ihr sinnenfrohes Weltbürgertum, ihr rebellischer Geist und ihre Melancholie sind der Poesie Ossip Mandelstams tief eingeschrieben.
Mandelstams Vater war von Beruf Lederkaufmann. Autodidaktisch gebildet, las er die deutschen Klassiker im Original. Im Hause der Großeltern in Riga nahm Mandelstam zuerst die Sinneseindrücke eines unverwechselbar jüdischen Lebens wahr. »Wie ein einziger Krümel Moschus ein ganzes Haus mit seinem Duft erfüllt, so überflutet der kleinste Einfluß des Judaismus ein ganzes Leben«, lesen wir in seiner Autobiographie. Sie trägt den charakteristischen Titel »Das Rauschen der Zeit«, enthält einige der schönsten Seiten russischer Prosa und verrät dabei in jedem Satz den Lyriker im Autor.
Das jüdische Erbe nahm Mandelstam, ohne sich im orthodoxen Sinn als Jude zu fühlen, ebenso selbstverständlich in sich auf wie die christliche Kultur, die ihn umgab. Als sich der Lyriker längst durchgesetzt hatte, erwiderte er einmal auf die Frage nach seinem poetischen Credo lakonisch: »Sehnsucht nach Weltkultur.«
Erst als Mandelstam erleben mußte, daß sich in die Hetze gegen ihn auch noch antisemitische Obertöne mischten ("Wie mit der stählernen Lochzange des Schaffners bin ich gänzlich durchlöchert und abgestempelt von meinem eigenen Familiennamen"), bekannte er sich 1928 ausdrücklich zum »ehrenvollen Titel eines Juden, auf den ich stolz bin«.
Er besuchte das berühmte Petersburger Tenischew-Gymnasium, das einige Jahre nach Mandelstam auch den Großbürgersohn und künftigen Meistererzähler Vladimir Nabokov aufnahm. Aber anders als der im Geist eines komfortablen Liberalismus erzogene Nabokov, der von einem livrierten Chauffeur zur Schule gefahren wurde, wuchs der junge Mandelstam in einem umstürzlerisch gesinnten Milieu heran. Er begeisterte sich vorübergehend für den Marxismus, schloß sich dann aber den auf die landlosen Bauern orientierten »Sozialrevolutionären« an, deren linker Flügel in den ersten Monaten nach der Oktoberrevolution eine Koalition mit den Bolschewiki bilden sollte.
Mandelstams Sozialismus war ethisch begründet. An der in der russischen Geschichte des 19. Jahrhunderts verwurzelten Überzeugung, daß der Platz der besitzlosen Intellektuellen ("Rasnotschinzy") an der Seite des leidenden Volkes sei, zweifelte er nie: Bis an sein Lebensende klammerte er sich an den »Eid, den ich dem Vierten Stand geschworen«, wie eine Gedichtzeile lautet.
Im Schicksal Mandelstams spiegelt sich die nachrevolutionäre Tragödie der russischen Intelligenzija wie in einem Brennglas: Als »Volksfeinde« gebrandmarkt, wurden ungezählte »Intelligenzler« hingerichtet - im Namen der eigenen Ideale.
Bevor Mandelstam in den Wirbelsturm der Oktoberrevolution gerissen wird, veröffentlicht er einen ersten Band mit Lyrik, ganz unfeierlich »Der Stein« betitelt, der Kritiker und Leser in Staunen setzt. Die Klarheit der Bilder, die vollkommene Form, die Musikalität dieser Verse sind ohne Beispiel in der zeitgenössischen Poesie. Nur der Vergleich mit Puschkin drängt sich auf.
Obwohl die deutsche Übersetzung den Klangreichtum der (mitabgedruckten) Originale, ihre Assonanzen und Reime nur unzureichend wiedergibt (ein unvermeidlicher Geburtsfehler aller Lyrikübersetzungen), vermittelt die Übertragung Dutlis eine annähernde Idee vom Original, wie die »Petersburger Strophen« (1913): _____« Über dem Gelb der staatlichen Gebäude - Ein dunkler » _____« Schneesturm, kreisend, voller Wut; Ein Advokat, in seinen » _____« Schlitten steigend, Schlägt kräftig seinen Mantel zu. » _____« Die Dampfer überwintern. Kleine Feuer Wirft nun die Sonne » _____« ins Kajütenglas. Ein Panzerschiff im Dock - gleich » _____« ungeheuer Schläft Rußland seinen schweren Schlaf. » _____« Die Jollen schöpfen Wasser, Meeresmöwen Besuchen fröhlich » _____« einen Stapel Hanf, Wo einzig Opernbauern gehn und hökern » _____« Mit Semmeln oder Honigtee, der dampft. »
Nichts ist dem jungen Mandelstam fremder als gestelztes Pathos. Souverän wechselt er Sujets und Tonarten. Verse über scheinbar triviale Themen halten gute Nachbarschaft mit anderen über Beethoven oder die Hagia Sophia. Mit wacher Neugier und spöttischem Witz nehmen sich die Gedichte das Stummfilmkino oder ein Tennisduell, das »Göttliche (Speise-) Eis« oder den »dickhäutigen Gott« Fußball vor.
Die bolschewistische Revolution begrüßt der 26jährige ("Nun, wir versuchen es: Herum das Steuer!") als »Dämmerung der Freiheit« mit zwiespältigen Gefühlen. Hinter dem _(* Gefängnisniederschrift. ) »Dämmerjahr« 1917 ahnt er »das Joch der Macht und die Verfinsterungen, die Last, die uns zu Boden schlägt« (Übersetzung Paul Celan).
Der Bürgerkrieg mit seiner endlosen Spirale von Grausamkeiten machte Mandelstam zum Nomaden. In den Kriegswirren lernte der Dichter die junge Nadeschda Chasina kennen. Diese schöne, selbstbewußte Frau wurde zum Glücksfall seines an privatem Glück nicht reichen Lebens. In 19 gemeinsamen Jahren war Nadeschda der Schutzengel Ossip Mandelstams. Entbehrungen und Verfolgungen teilte sie ebenso mit ihm wie die winzigen Zimmer und die schäbigen Kollektivbehausungen, die dem Ehepaar zugewiesen wurden.
Auch wenn Mandelstam bis Ende der zwanziger Jahre noch nicht frontal als Revolutionsfeind angegriffen wurde, behandelten ihn die Funktionäre zunehmend wie das lästige Relikt einer toten Epoche. Seine Witwe hat in ihren Memoiren bezeugt, daß Mandelstam »in derselben Art, in der Kleinkinder ,fremdeln''«, vor jeder Berührung mit der Staatsgewalt zurückscheute.
Schon vor der Revolution war Mandelstam auf der Hut vor der Macht gewesen. Freunden erschien er nicht nur als überempfindlich und sprunghaft, sondern auch von einer geradezu kauzigen Furchtsamkeit: Führte ihn sein Weg an einem Polizeigebäude vorbei, so schlug er einen Haken. Paradoxerweise aber verwandelte sich derselbe Mensch in einen Rebellen, der die Macht tollkühn herausforderte, wenn Empörung über die Untaten des Regimes ihn übermannte. Seine eigentümliche Doppelnatur trug ihm den Spitznamen »Kaninchen-Leopard« ein.
Ohne Rücksicht auf seine persönliche Sicherheit setzte sich Mandelstam immer wieder für verhaftete und von Hinrichtungen bedrohte Landsleute ein. Bei einer solchen Protestaktion lernte er 1922 einen hochgestellten Parteiführer kennen, dem er es vor allem zu verdanken hatte, daß er noch einige Jahre lang publizieren konnte. Sein Schirmherr hieß Nikolai Iwanowitsch Bucharin.
Ein gutartiger, impulsiver, zum Apparatschik untauglicher Revolutionär, war Bucharin der Jüngste aus der bolschewistischen Führungsgarde. Er galt als brillanter Kopf, dem die Zukunft gehörte. Auch Bucharin, »der Liebling der ganzen Partei« (Lenin), endete später vor dem Erschießungspeloton.
Als Herausgeber der Iswestija beschwor Bucharin den Poeten, ihm Gedichte zum Abdruck zu geben: »Es ist wichtig, daß man sieht: Sie sind auf unserer Seite!« Tatsächlich erlebte ein Mandelstam-Gedicht seine Erstveröffentlichung 1922 im Faksimile seiner Handschrift in der bolschewistischen Regierungszeitung.
Zu den verblüffendsten Seiten in Mandelstams Werk gehört die Aufzeichnung seiner Begegnung mit dem jungen vietnamesischen Revolutionär Nguyen Ai Quoc, der unter dem Namen Ho Tschi-minh seine Spuren in der Geschichte des Jahrhunderts hinterlassen hat. Ein Interview des Gelegenheitsjournalisten Mandelstam, das von großer Achtung vor seinem Gesprächspartner zeugt ("Angeborenen Takt und Sensibilität atmete die ganze Erscheinung Nguyen Ai Quocs"), findet sich im ersten Essay-Band der Ammann-Ausgabe.
Als die Diktatur noch in den Kinderstiefeln steckte, sah Mandelstam die Ära von Zwangskollektivierung und Massenterror kommen, eine Epoche, in der die Menschen nur noch das Rohmaterial für gnadenlose Baumeister abgäben und das Individuum nicht mehr wert sein würde als ein Sandkorn. »Jedermann fühlt die Monumentalität der herannahenden gesellschaftlichen Architektur«, schrieb er 1923 im Essay »Humanismus und Gegenwart«. »Der Berg ist noch nicht sichtbar, doch wirft er bereits seinen Schatten auf uns, und wir wissen nicht, ob es der Flügel der anbrechenden Nacht oder der Schatten der Heimatstadt ist, in die wir eintreten müssen.« Noch hoffte er darauf, daß »die Goldwährung« des europäischen humanistischen Erbes sich gegen das wertlose Papiergeld der »provisorischen Ideen« durchsetzen werde.
Auf eine Zeitungsfrage zum Thema »Sowjetschriftsteller« antwortete er 1928 verschlüsselt: »Ich fühle mich als Schuldner der Revolution, bringe ihr jedoch Gaben dar, die sie vorläufig noch nicht benötigt.«
Immer beschwörender klingt aus Mandelstams Lyrik der innere Kampf von Todesahnung und Lebenswillen, wie im Gedicht »Leningrad« (1930): _____« Meine Stadt find'' ich wieder, Mir zum Weinen vertraut » _____« Wie ein kindliches Fieber, wie ein Äderchen, Haut . . . » _____« Petersburg! Nein ich will noch nicht sterben, noch nicht! » _____« . . . Ganze Nächte lang wart'' ich auf Gäste bei mir, Zerr » _____« die eisernen Ketten da weg von der Tür. »
Bei einer Lesung im ungeliebten, asiatisch fremden, »buddhistischen« Moskau fasziniert und erschreckt Mandelstam die Zuhörer mit der Kühnheit seiner Verse, die den ideologischen Vorschriften der gleichgeschalteten Sowjetliteratur hohnsprechen. Einem befreundeten Kritiker erscheint der 41jährige Poet wie ein »graubärtiger Patriarch«, der sein Publikum als »Schamane« in den Bann schlägt und bei der anschließenden Diskussion die provokativen Fragen der Barden des Regimes »mit dem Stolz eines gefangenen Kaisers« beantwortet. Der ebenfalls anwesende Pasternak bekennt Mandelstam gegenüber: »Ich beneide Sie um Ihre Freiheit.«
Dem Räderwerk des Terrors wäre er ohnehin nicht entkommen, zu offensichtlich stand der Dichter einem Staat im Wege, der Literatur und Poesie so ernst nahm, daß er ihre Schöpfer tötete. Aber Mandelstam dachte nicht daran, sich einfach als schweigendes Opfer beiseite räumen zu lassen: Er war entschlossen, selber ein Zeichen zu setzen. Im November 1933 verfaßte Ossip Mandelstam im Bewußtsein, daß er damit zugleich sein Testament schrieb, ein Epigramm gegen Stalin, den »Verderber der Seelen und Bauernabschlächter": _____« Seine Finger wie Maden so fett und so grau, Seine » _____« Worte wie Zentnergewichte genau, Lacht sein Schnauzbart » _____« dann - wie Küchenschaben, Und sein Stiefelschaft glänzt » _____« hocherhaben. Um ihn her - seine Führer, die schmalhalsige » _____« Brut, Mit den Diensten von Halbmenschen spielt er, mit » _____« Blut. Einer pfeift, der miaut, jener jammert, Doch nur er » _____« gibt den Ton - mit dem Hammer. . . . Jede Hinrichtung » _____« schmeckt ihm - wie Beeren. »
Den nächsten Familienangehörigen und einigen befreundeten Schriftstellern trägt er diese Verse vor, er ist »zum Sterben bereit«. Entsetzt reagiert Boris Pasternak, als Mandelstam ihm das Epigramm bei einer zufälligen Begegnung auf dem Twerskoi-Boulevard mitten in Moskau rezitiert: »Ich habe nichts gehört, und Sie haben nichts rezitiert!«
In einer Mai-Nacht des Jahres 1934 beschlagnahmt die Geheimpolizei alle verdächtig erscheinenden Gedichte und führt Mandelstam ab; nur eine kleine italienische Dante-Ausgabe nimmt er mit ins Gefängnis. Bei den Verhören bekennt sich Mandelstam zum Stalin-Gedicht, man zwingt ihn, es handschriftlich niederzuschreiben. Das Gefühl der Furcht, erklärt der zynische Untersuchungsrichter, könne für einen Poeten sehr inspirierend sein; Mandelstam werde »das volle Maß dieses Stimulans erfahren«. Mit vorsorglich in die Schuhsohlen eingearbeiteten Rasierklingen versucht sich der Häftling umzubringen. Man steckt ihn in eine Zwangsjacke.
Das Urteil lautet auf drei Jahre Verbannung in Tscherdyn im Ural-Vorgebirge; ein vergleichsweise mildes Urteil, dessen Hintersinn Stalin wenig später offenbart. Auf dem Transport leidet Mandelstam unter akustischen Halluzinationen. In Tscherdyn stürzt er sich aus dem Fenster des Hospitals, bricht sich aber nur das Schlüsselbein.
Da geschieht ein Wunder. Nachdem wieder einmal Bucharin sich bei Stalin für Mandelstam verwendet hat - unter anderem mit dem Hinweis, auch Pasternak sei sehr betroffen über das Urteil -, ruft der Diktator selber in Pasternaks Moskauer Wohnung an, um eine weitere Milderung von Mandelstams Urteil anzukündigen. Er wirft Pasternak vor, sich nicht genügend für seinen »Freund« Mandelstam eingesetzt zu haben: »Wenn ich ein Dichter wäre und meinen Dichter-Freund ein solches Unglück träfe, so würde ich alles tun, um ihm zu helfen . . . Er ist doch ein Meister, nicht wahr, ein Meister?« Darum gehe es nicht, antwortet Pasternak und bittet um ein Gespräch »über Leben und Tod«. Abrupt legt Stalin auf.
Der ungebildete Emporkömmling Stalin hegte, im Gegensatz zum nüchternen Intellektuellen Lenin, einen abergläubischen Respekt vor der Macht der Literatur. Dieser Respekt verband sich aber bei ihm mit einer plumpen technokratischen Vorstellung von literarischem Spezialistentum, die auch in seiner denkwürdigen Formel vom Schriftsteller als dem »Ingenieur der menschlichen Seele« zum Ausdruck kommt. Pasternak sollte ihm nun bestätigen, daß Mandelstam ein unersetzlicher Spezialist war: ein »Meister« des Wortes, der mit seiner außerordentlichen Qualifikation dem ewigen Ruhm Stalins dienen konnte. Man durfte ihn nicht gedankenlos und routinemäßig liquidieren: Man mußte ihm die Gelegenheit geben, Oden auf Stalin anstelle von Schmähgedichten zu ersinnen.
»Isolieren, aber erhalten!« lautete darum Stalins Befehl. Dem revidierten Urteil zufolge konnte sich Mandelstam seinen Verbannungsort aus einem beschränkten Kreis von Städten selber aussuchen, seine Frau durfte ihn begleiten. Das Ehepaar wählte Woronesch am Don. Vier Jahre dauerte, was Mandelstam sein »zweites Leben« nannte. Unter unerträglichen materiellen Bedingungen, von Atemnot und Angstattacken gepeinigt, füllte Mandelstam in dieser Zeit die »Woronescher Hefte« mit seinem letzten Gedichtzyklus. Um die Gedichte vor der Vernichtung zu bewahren, lernte Nadeschda sie auswendig. Eine Auswahl von Gedichten und Notizen aus Mandelstams letztem Lebensabschnitt erscheint im nächsten Monat in einer neuen Übersetzung*.
Im Rundfunk hörten die Mandelstams von den ersten Moskauer Schauprozessen, der Massenterror hatte begonnen. An einen Freund schreibt Mandelstam: »Man hat mir alles genommen: das Recht auf Leben, auf Arbeit, auf ärztliche Behandlung. Ich bin in die Lage eines Hundes, eines Köters versetzt . . . Ich bin ein Schatten. Mich gibt es nicht. Meine Frau und mich will man in den Selbstmord treiben.« Er quält sich, ein verzweifeltes Aufflackern des Lebenswillens, doch noch eine Ode auf Stalin ab. Vergebens. Im Mai 1938 wird Mandelstam zum zweiten Mal verhaftet. Die Todesnachricht für die Witwe, auf einem als unzustellbar aus Sibirien zurückgeschickten Päckchen, besteht aus zwei Worten: »Adressat verstorben«. _(* Ossip Mandelstam: »Das zweite Leben«. ) _(Aus dem Russischen von Felix Philipp ) _(Ingold. Hanser-Verlag, München; 144 ) _(Seiten; 26 Mark. )
Mandelstam (1896, 1914): »Ganz allein in Rußland arbeite ich nach der Stimme«
Sowjetische Gulag-Szene (1931): »Das Gefühl der Furcht kann für einen Poeten inspirierend sein«
Mandelstam (1927, 1933): »Auf die Kunst Gutenbergs ist Ossip nicht angewiesen«
Autor Pasternak (1933) Als Spezialist von Stalin angerufen
Sowjetpolitiker Bucharin Schirmherr des Dichters
Mandelstams Stalin-Gedicht*: »Ich bin zum Sterben bereit«
Diktator Stalin »Isolieren, aber erhalten!«
** Ralph Dutli: »Ein Fest mit Mandelstam. Über Kaviar, Brot undPoesie«. Ammann-Verlag, Zürich; 136 Seiten; 29,80 Mark. * OssipMandelstam: »Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays 1,1913-1924«. - »Gespräch über Dante. Gesammelte Essays 2, 1925-1935«.Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von Ralph Dutli.Ammann-Verlag, Zürich; jeweils 320 Seiten; insgesamt 100 Mark.* Gefängnisniederschrift.* Ossip Mandelstam: »Das zweite Leben«. Aus dem Russischen von FelixPhilipp Ingold. Hanser-Verlag, München; 144 Seiten; 26 Mark.