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FORSCHUNG Erbärmliches Leben

Die meisten Dicken können nichts dafür. Versuche mit Ratten haben jetzt bestätigt: Einmal erworbene Fettzellen wird der Körper nicht wieder los.
aus DER SPIEGEL 21/1971

Der Patient, Redakteur bei einer amerikanischen Tageszeitung, berichtete von einer »heißen Nacht": »Wir mußten einen neuen Aufmacher für die Frontseite schreiben und hatten nur 14 Minuten Zeit.«

Dann sei geschehen, was er sich hernach nicht habe erklären können. »Als die Story fertig war, lehnte ich mich in meinem Sessel zurück und entdeckte, daß ich -- ohne es zu bemerken -- in diesen 14 Minuten nahezu 100 Kekse aufgegessen hatte.«

Die Schilderung des vollschlanken Journalisten scheint typisch: Ohne eigentlich Hunger zu haben, müssen Dicke weiter und weiter essen, unfähig, die Menge ihrer Nahrung mit dem Willen zu dosieren.

Doch auch wenn sich die Übergewichtigen wochenlangen Fastenkuren unterziehen, ist der Erfolg meist nicht von Dauer: Viele Fettleibige nehmen nach Beendigung der Hungerkur rasch wieder zu obwohl sie maßvoll essen.

In beiden Fällen ist den Dicken der verächtliche Vorwurf ihrer Umwelt sicher, sie seien willensschwach -- zu Unrecht.

Das haben Tierexperimente und Reihenuntersuchungen in amerikanischen Universitätskliniken und Labors jetzt bestätigt: Gewaltsame Null-Diät und der Appell an die Willensstärke, so das Resümee der Fettsucht-Forscher, sind für Millionen Dicke nutzlose Verordnungen für jene nämlich, die schon seit der Kindheit übergewichtig sind.

Daß zu volle Milchfläschchen und überschwappende Breiteller zu chronischer Freßsucht und Fettleibigkeit auch im späteren Leben führen können, hatten die Mediziner schon seil einiger Zeit vermutet. Viele, die schon in der Sandkiste und während der Schulzeit überfüttert waren, starben später auch als beleibte Menschen.

Doch erst Tierversuche eines New Yorker Forscherteams gaben jetzt Aufschluß darüber, warum es den von Hause aus Dicken entweder gar nicht oder nur unter Qualen gelingt, ihr Gewicht durch Magerkost zu mindern oder zu halten.

Schon während der ersten Lebenswochen -- so die Versuchsanordnung der US-Wissenschaftler Jerome Knittle vom Mount Sinai Hospital und Jules Hirsch von der Rockefeller University -- gaben die Forscher neugeborenen Ratten unterschiedliche Mengen von Nahrung. So hatten beispielsweise einige Ratten-Mütter lediglich vier Junge aufzuziehen, während in einer Vergleichsgruppe insgesamt 22 Jungratten um mütterliche Nahrung kämpfen mußten.

Bereits nach wenigen Tagen zeigte sich: Der Vierer-Wurf wuchs schneller als die knapp gehaltenen Artgenossen. Nach drei Wochen hatten die Forscher je eine Gruppe dürrer und eine Gruppe dicker Ratten aufgezogen. Danach bekamen alle Versuchstiere die gleiche Nahrungsmenge -- mit dem Erfolg, daß die dicken Ratten noch dicker wurden, die dünnen aber mager blieben.

Die Ursache dafür entdeckten die Forscher, als sie das Gewebe der Tiere untersuchten. Diejenigen Nager, die anfangs mit viel Nahrung aufgepäppelt worden waren, hatten bedeutend mehr Fettzellen entwickelt als die dünnen Ratten, bei denen sich die Anzahl der Fettzellen auch später bei Normal-Ernährung nicht erhöhte.

Eine bestimmte Menge dieser Zellen, die zwischen Muskelgewebe und Haut, hauptsächlich an Bauch und Hüften, aber auch um innere Organe wie etwa Herz und Nieren angelagert sind, benötigt auch der dünnste Mensch. Fettzellen sind gleichsam die Vorratslager, in denen der Körper wichtige Bestandteile der Nahrung sammelt, um sie bei Bedarf wieder abzugeben.

Die entscheidende Erkenntnis aber gewannen Hirsch und Knittle, als sie einige der dicken, fetten Ratten bis auf die Knochen abmagern ließen. Zwar schrumpften die einzelnen Fettzellen ähnlich einem Ballon, aus dem die Luft entweicht. Die übergroße Zahl der während der ersten Lebenswochen mit reichlicher Nahrung aufgebauten Vorratskammern jedoch blieb konstant. Fazit: Einmal erworbene Fettzellen wird der Körper nicht wieder los.

An insgesamt 200 dicken Kindern fand Fettsucht-Experte Knittle die Ergebnisse der Tierexperimente bestätigt. Der US-Forscher hatte den Kindern mit einem Spezialgerät Fettgewebe entnommen und die Fettzellen gezählt. Schon dicke Zweijährige hatten doppelt so viele Fettzellen wie normalgewichtige Kinder dieser Altersgruppe. Und einige Fünfjährige trugen mehr Vorratslager mit sich herum als ein (nach den Gewichtstabellen der Mediziner) normalgewichtiger Jugendlicher.

Was die New Yorker Forscher an Ratten und Kindern demonstrierten, fanden wiederum die US-Mediziner Ted Duncan und seine Mitarbeiter am Pennsylvania Hospital in Philadelphia bei einer Reihenuntersuchung an Erwachsenen bestätigt.

Jeweils zwei Wochen lang nahmen die 1600 übergewichtigen Versuchspersonen am Pennsylvania Hospital keinerlei Nahrung. sondern ausschließlich kalorienlose Getränke zu sich. Nach der Zwei-Wochen-Kur hatten die Übergewichtigen im Durchschnitt jeder sieben Kilogramm abgenommen.

Doch nur jeder dritte Patient konnte dieses Gewicht längere Zeit halten. 70 Prozent hatten wenig später -- trotz maßvoller Kost -- das Ausgangsgewicht wieder erreicht. Und hier fand Duncan Übereinstimmung mit den New Yorker Experimenten: Es waren Dicke, die sich ihre überzähligen Fettzellen schon als Kind angegessen hatten.

Nur kurzzeitiger Erfolg scheint aus demselben Grund einer weiteren Entfettungsmethode beschieden, die neben Hungerkuren und sportlichem Treiben gelegentlich angewendet wird: US-Forscher entfernten den Beleibten -- für den Versuchszweck waren es Ratten -- auf operativem Wege überschüssige Fettschichten.

Doch der kosmetische Eingriff erwies sich als nutzlos. Wenig später hatten die Tiere die abgeschnittenen Fettzellen durch neue ersetzt; der ursprüngliche Bestand an Speicherzellen wurde wiederhergestellt.

Daß ein ständiges Auf und Ab von Anfressen und Weghungern überschüssiger Pfunde sogar zusätzliches Gesundheitsrisiko in sich berge, glaubt schließlich eine Gruppe von Forschern ermittelt zu haben, die an der University of Pennsylvania arbeitet, angeführt von dem Fettsucht-Experten Albert Stunkard. Nach ihrer Meinung erhöht dauernder Wechsel zwischen dick und dünn das Infarktrisiko.

Jedesmal wenn ein Fettsüchtiger zunimmt, so die Stunkard-Hypothese, wird in den Arterien eine neue Fettschicht abgelagert. Bei der nächsten Hungerkur schrumpfen dann lediglich die Fettzellen, das Fett an den Arterienwänden hingegen wird nicht abgebaut, vielmehr bei der nächsten Eßwelle -- erhöhte Infarktgefahr -- noch weiter verstärkt.

Auf einer niedrigeren Kalorien-Ebene sich einzupegeln, scheint mithin die einzige Chance, Gesundheitsgefährdung zu vermeiden und sich zugleich dem modischen Zwang zum Mannequin- oder Dressman-Look anzupassen.

Jeder dritte Übergewichtige, so der statistische Befund der Mediziner, kann die Schuld am vergeblichen Ringen um schmalere Bundweite rückwirkend der eigenen Mutter zuschieben: Weil fälschlich die flotte Gewichtszunahme als sicheres Zeichen für das Gedeihen eines Babys gewertet wurde, ist ihm die Eßlust schon in den Windeln beigebracht worden.

In ihrem späteren Leben, konstatieren die amerikanischen Eßforscher, bleibe solchen Geplagten, wenn sie dünn werden und bleiben wollen, nur eines übrig: »ein erbärmliches Leben, stets am Rande des Verhungerns«.

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