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BLUTGRUPPEN Erbe des Dschingis Khan

aus DER SPIEGEL 29/1960

Ein Konvoi motorisierter amerikanischer Medizin-Laboratorien soll demnächst in der größten Stadt Israels, Tel Aviv, zu einer Forschungsfahrt quer durch das Land aufbrechen. Wo immer die Kolonne auf der vorgeschriebenen Route Station macht, wollen die Arzte den Einheimischen einige Tropfen Blut abzapfen.

Die Prozedur ist Bestandteil einer wissenschaftlich ebenso reizvollen wie bedeutsamen Suchaktion: Die Forscher mühen sich, das biologische Erbe des Dschingis Khan aufzuspüren. Im Blut der Israelis vermuten sie genetische Überreste jener umfassenden Völkervermischung, die im 13. Jahrhundert einsetzte, als der Mongolen-Obmann seine Reiter aus Innerasien gen Europa führte.

Die Hoffnungen der Mediziner gründen sich auf eine Entdeckung, die der Arzt Miguel Layrisse 1953 im venezolanischen Carácas machte. Layrisse behandelte damals das Kind einer Venezolanerin namens Diego, das mit einem schweren Blutdefekt zur Welt gekommen war. Die roten Blutkörperchen des Neugeborenen waren weitgehend zerfallen - ein Phänomen, das die Mediziner als »Erythroblastose« bezeichnen. Ansonsten glich das Krankheitsbild dem einer schweren Gelbsucht.

Solche Symptome deuteten darauf hin, daß der Diego-Säugling unter einer sogenannten Rhesus - Unverträglichkeit litt. Seit zwei Jahrzehnten wissen die Mediziner, daß neben den Blutgruppen A, B, AB und Null einem weiteren Blutmerkmal, dem Rhesus-Faktor*, besondere. Bedeutung zukommt. Rund 85 Prozent aller Menschen weisen dieses Blutmerkmal auf (rhesus-positiv), bei den übrigen ist es nicht festzustellen (rhesus-negativ).

Ob jemand zur Gruppe der rhesuspositiven oder rhesus-negativen Menschen gehört, ist zumeist unerheblich. Komplikationen sind aber dann zu befürchten, wenn einer Ehe zwischen einem rhesus-positiven Mann und einer rhesus-negativen Frau mehrere Kinder entspringen. Erbt nämlich das erste Kind den Rhesus-Faktor des Vaters, so bilden sich - während der Schwangerschaft - im Blut der Mutter Abwehrstoffe gegen das fremde Blutmerkmal.

Die Antikörperchen formieren sich jedoch recht langsam, so daß ihre gefährliche Wirkung erst bei der zweiten oder dritten Schwangerschaft offenkundig wird. Die Abwehrstoffe schädigen dann das Blut des Kindes derart, daß es unter Umständen zu einer Totgeburt kommt. In anderen Fällen können Neugeborene nur durch einen völligen Blutaustausch gerettet werden.

Auch das Diego-Kind blieb am Leben, nachdem Dr. Layrisse eine Austausch-Transfusion hatte vornehmen lassen. Zur Verblüffung des Arztes stellte sich nun jedoch heraus, daß das Kind überhaupt nicht unter einer Rhesus-Unverträglichkeit gelitten hatte. Mehrere Male unterzog Layrisse die Diego-Eltern, Venezolaner indianischer Abstammung, einer sorgfältigen Untersuchung: Er fand keinerlei Anhaltspunkte für die Rhesus-Diagnose.

Andererseits war eindeutig, daß im Blut des Diego-Kindes Unverträglichkeits-Reaktionen stattgefunden hatten. Die abträgliche Wirkung mußte also, folgerte der Arzt, von einem anderen, bis dahin noch unbekannten Blutfaktor ausgegangen sein.

Da der venezolanische Mediziner nicht über die erforderlichen Labor-Einrichtungen verfügte, um seine These experimentell erhärten zu können, sandte er etliche Diego-Blutproben an den amerikanischen Fachmann Dr. Philip Levine, Direktor eines serologischen Forschungsinstituts Im US-Staat New Yersey. Levine hält den Weltrekord in der Entdeckung von Blutfaktoren; drei spürte er innerhalb eines Jahres auf.

Auch die aus Caracas übersandten Blutproben wußte der US-Mediziner mit Erfolg auszuwerten: Schon nach kurzer Zeit bestätigte er Layrisse, er habe tatsächlich einen neuen Blutfaktor feststellen können. Als Diego-Faktor ging dieses Blutmerkmal in die Medizingeschichte ein.

Im Gegensatz zu Levine war der Dr. Layrisse in Carácas jedoch nicht davon überzeugt, daß der Diego-Faktor eine Familien-Eigenart sei. Das Problem faszinierte ihn derart, daß er unter den Einwohnern von Carácas eine private Suchaktion nach dem Diego-Faktor startete. Resultat: Das Blutmerkmal war bei zahlreichen Einwohnern, vornehmlich bei Indianer-Mischlingen und bei eingewanderten Chinesen und Japanern, zu finden. Bei Negern und Weißen forschte Layrisse dagegen vergebens nach dem Diego-Faktor.

Stichproben ähnlicher Art, die in Japan Und China vorgenommen wurden, erlaubten es den Wissenschaftlern alsbald, ein überraschendes Fazit zu ziehen: Der Diego-Faktor kommt nicht unter Weißen vor, ist hingegen bei Asiaten - sowie bei den rassisch verwandten Indianern Nord- und Südamerikas - weitverbreitet. Er ist offenbar ein Rassemerkmal der Asiaten.

Solche Überlegungen konfrontierten nun die Völkerkundler der Frage, ob bedeutsame anthropologische Lehren, die längst kein Forscher mehr bezweifeln mochte, noch aufrechtzuerhalten wären:

- Untersuchungen in Ostkanada ergaben, daß die dort lebenden Eskimos das Diego-Merkmal nicht aufweisen. Mithin erschien fraglich, daß die Eskimos, wie man früher angenommen hatte, von den Mongolen abstammen.

- Das Blut von 92 reinrassigen Ureinwohnern Neuseelands und 80 Polynesiern erwies sich im Test ebenfalls als Diego-frei. Dieses Resultat sprach gegen die Theorie des »Kon-Tiki«-Norwegers Thor Heyerdahl, daß die Polynesier der südlichen Pazifik-Inseln aus Südamerika eingewandert seien.

Allerdings: Zumindest eine Beobachtung ließ sich nicht ohne weiteres in das Schema einfügen, das die Forscher für die Verteilung des Blutmerkmals unter der Weltbevölkerung erarbeitet hatten. In Buffalo (US-Staat New York) wurde nämlich ein Kind polnischer Einwanderer geboren, das nachweislich an einer Diego-Unverträglichkeit litt. Mithin schien die ganze Theorie wieder gefährdet, zumal der Direktor der Abteilung für Blutgruppenforschung an def Universität Buffalo, Dr. James F. Mohn, bald darauf feststellte, daß der Diego-Faktor unter den Einwohnern polnischer Abstammung überhaupt starkverbreitet ist.

Da die Buffalo-Polen aber die einzigen Angehörigen einer weißen Rasse blieben, die das Diego-Merkmal aufweisen, drängte sich den Forschern die Vermutung auf, daß in Polen noch heute das Erbgut asiatischer Eroberer, nämlich der Mongolen des Dschingis Khan, lebendig sei. Im europäischen Teil der Sowjet-Union - Dschingis Khans Enkel Batu Khan stieß bis Liegnitz in Niederschlesien vor - müßte der Diego-Faktor nach Auffassung der Wissenschaftler ebenfalls häufig zu finden sein. Auf entsprechende Anfragen bei sowjetischen Serologen erhielten die Amerikaner jedoch keine Antwort.

Mediziner Mohn ist jedoch zuversichtlich, daß die von ihm initiierte Blutproben-Expedition nach Israel zutage fördert, was in Osteuropa nicht recherchiert werden kann. Er rechnet damit, daß der Diego-Faktor unter jenen Juden besonders stark verbreitet ist, die aus osteuropäischen Ländern nach Israel eingewandert sind.

* Der Rhesus-Faktor Wurde 1940 von dem österreichischen Nobelpreisträger Karl Landsteiner bei Experimenten mit Rhesus-Affen entdeckt.

Mediziner Mohn

Auf Dschingis Khans Wegen ...

Mongole Dschingis Khan

... ein unbekannter Blutfaktor?

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