Erinnern, was man vergessen muß
Der Schriftsteller ("Der alltägliche Tod meines Vaters") und Redakteur (Fernseh-»Bücherjournal") Paul Kersten, 46, lebt in Hamburg. Er schreibt an einem Roman mit dem Arbeitstitel »Die Augenblicke der Kindheit«.
Die Szene schießt in die Erinnerung wie ein traumatischer Schock: »Die Mutter beugt sich über einen schmalen Tisch. Hinter der Mutter steht Herr Sengebusch. Er schlingt die Arme um sie und knetet ihre nackten Brüste. Edith stöhnt. Ihr braunes Kleid mit den weißen Punkten ist hinten hochgeschlagen, und Herr Sengebusch stößt auf sie ein, als wolle er sie durchbohren. Der Mutter gegenüber steht Oswin Kutarsky und schiebt ihr seinen Schniepel in den Mund. Ich zittere vor Angst um Edith, aber sie hört und sieht mich nicht. Ich will schreien. Meine Kehle ist verstopft. Ich will weglaufen. Meine Beine sind gelähmt. Die Mutter gibt Herrn Kutarsky einen Stoß vor die Brust und rennt aus dem Zimmer. Als ich Edith folgen will, sagt Herr Kutarsky, daß ich hierbleiben muß. Herr Sengebusch verschließt die Tür. Ich weiß, daß mich die beiden Männer umbringen wollen . . . Ich will schreien. Aber der Blick von Herrn Kutarsky macht mich stumm. Sein Totenkopf kommt mir so nahe, daß ich die faltigen Tränensäcke und die braunen Tabaklippen erkenne. ,Aber wehe dir, wenn du nicht den Mund hältst und es irgendeinem Menschen erzählst - dann mußt du sterben.'«
Kann das Herz eines Kindes zerbrechen und dennoch ein Leben lang weiterschlagen in einer verborgenen Kammer der Seele, bis der über 50jährige Erwachsene das Kind, das er einmal war, bei der Hand nimmt und gemeinsam mit ihm die verbotene Tür zum Gefängnis der Schmerzen aufstößt?
In das Entsetzen, das den Fünfjährigen beim Anblick der mit zwei Liebhabern kopulierenden Mutter packte, mischte sich damals die Angst, die beiden Männer könnten, wenn er gegen das Gebot »Du sollst schweigen und vergessen« verstieße, ihre Morddrohung wahr machen. Ein Jahr später wird er Zeuge, wie es die Mutter in einem Hotelzimmer im Riesengebirge, wo sie den kranken Vater in einem Lungensanatorium besuchen, mit einem flotten schwarzgelockten Soldaten treibt. Während sich der Junge im Bett nebenan schlafend stellt und unter der Decke onaniert, stürzen ihm die Tränen aus den Augen, und eine Stimme steigt aus dem Bauch in ihm hoch: »Entweder vergißt du, was geschehen ist, oder du stirbst.« - Wieder die Todesdrohung, diesmal als Selbstbestrafung phantasiert.
Doch wie sollen die verstörte Seele und der kleine verletzliche Körper die Gewalt ertragen, die ihnen angetan wird, als die Mutter den Jungen ein paar Tage später zu sich ins Bett lockt und ihm für das Liedchen, das sie ihm trällert ("Du hast mein Herz gefangen mit deiner weißen Hand . . .") zunächst einen Kuß abverlangt und ihn dann zwischen ihren Beinen in die Zange nimmt: »,Sag, daß ich die Schönste bin!' keucht die Mutter und trommelt mit den Fersen auf meinen Hintern.«
Da packt, als die Mutter nach der Verführung schnarchend neben ihm liegt, Panik das Kind, und es fühlt eine grenzenlose Verlassenheit: »Ich weine, ohne zu schluchzen. Ich will zu Louise. Ich will sie fragen, warum mir Edith das angetan hat. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich die Antwort höre. Ach, mein Junge, sagt die Großmutter, darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen, es gibt viele Dinge im Leben, die man vergessen muß.«
Manfred Bieler, scheint es, hat nicht einen einzigen Augenblick vergessen. So mitleidlos, so tabuzerstörend, mit solch kalter verzweifelter Wut und selbstzerstörerischer Erinnerungsobsession hat sich bisher kein anderer Autor der deutschen Gegenwartsliteratur die verdrängten Schrecken der eigenen Kindheit aus der Seele gerissen und in einem langen, schmerzhaften Prozeß der Selbstanalyse literarisch artikuliert. Fünf Jahrzehnte nach dem frühen Leid nimmt das Kind gnadenlos Rache für Liebesentzug und seelische und körperliche Grausamkeiten, rechnet ab mit den Erwachsenen, die ihm Wunden geschlagen haben, die noch heute bluten.
Bieler schreibt ohne Verklärung, ohne Gefühligkeit und falsches Pathos, nutzt den unnachsichtigen Blick des Kindes für detailscharfe Augenblicksbilder aus den ersten sieben Jahren seines Lebens, groteske Momentaufnahmen aus der familienneurotisch aufgeheizten miefigen Spießerhölle eines Kleinbürgerhaushalts zur Vorkriegszeit in der sächsischen Provinz. Zeit der Gewöhnung an den alltäglichen Faschismus. Der Junge darf bei Umzügen ein Hakenkreuzfähnchen schwenken. Wenn die Großmutter gut gelaunt ist, stimmt sie für den Enkel ihr Lieblingslied an: »Im grünen Wald, da wo die Drossel singt«. Im Wunschkonzert ist Mutters Lieblingsstück »Still wie die Nacht . . .«, gesungen vom lyrischen Bariton Karl Schmitt-Walter, ungeschlagener Favorit. Der Junge, der mit den Nachbarkindern nicht spielen darf und oft kränkelt, sitzt, wenn er nicht mit den Märchenbauklötzen spielt oder zu seinem einäugigen Teddy spricht, am Fenster und wartet auf die Sirene der Zerbster Zuckerfabrik, in der die Mutter als Schreibkraft arbeitet.
Die lebenshungrige, zügellose Mutter setzt ihn, seit er zu ihrer Enttäuschung bei der Geburt nicht als Mädchen aus ihrem Bauch herausgeschnitten wurde, einem sadistischen Wechselbad von Verbot, Strafe und Belohnung aus. Als sich der Einjährige einmal schreiend sein Bruchband vom Leib reißt, fesselt sie ihn mit ledernen Manschetten an den Kindertisch. Als der Junge an seinem dritten Geburtstag über den schlechtsitzenden neuen Anzug quengelt, schlägt ihn die Mutter, reißt ihm die Sachen herunter und stürzt aus dem Haus. »Laß mich nicht allein«, schreit er verzweifelt hinter ihr her. Erst spät am Abend kommt sie zurück, küßt ihn und fragt halb zärtlich und halb drohend: »Hast du mich noch lieb?« Da muß er lügen und »Ja« sagen, während die Tränen fließen.
Stets ist der Junge Zeuge der sexuellen Eskapaden der Mutter, lernt ihre wechselnden Liebhaber hassen und fürchten, und stets verdonnert ihn die Mutter zum Schweigen, verspricht ihm Geschenke, wenn er nur den Mund hält. Doch das heißersehnte Fahrrad, das die Mutter ihm im ersten Kriegswinter zu Weihnachten schenken will, steht dann doch nicht unterm Tannenbaum. Sein Herz blutet. In lustvollen Angstträumen stößt er der Mutter Messer in den Leib und schwört, das »Luder«, das »Biest«, das lügnerische »Miststück« auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.
Eines Tages spielt er im Bett an seinem Schniepel herum. Die Mutter erwischt ihn. »Du Ferkel, du Dreckschwein, du ekelhafter Kerl, du Rabenaas! schreit sie und drischt dabei auf mich ein. Ich fühle einen Schmerz, der kein Ende nimmt. Es sind nicht die Schläge, die mir so weh tun. Es sind Ediths böse grausame Worte, die wie riesige Steine auf meiner Brust liegen. Keine Knochen, keine Rippen brechen. Ich bleibe heil bis auf mein Herz.« - Hoch und heilig muß er versprechen, mit seinen »Schweinereien« aufzuhören, denn sonst, droht die Mutter, werde er wahnsinnig, weiße Männer würden kommen, ihn in eine Zwangsjacke stecken und ins Irrenhaus bringen.
Für die verhängnisvolle symbiotische Mutter-Kind-Beziehung, die Bieler in seiner Kindheit durchlitt, hat die Schizophrenie-Forschung den Terminus »double-bind«-Situation geprägt: Hilflos ist das Kind der strafenden, mit Liebesentzug drohenden, mit Liebe lockenden und Liebe fordernden Mutter ausgesetzt. Eine ausweglose Zwangslage, in der Furcht und Wut gedeihen.
Vor dem grausamen »Gnade-dir-Gott-Blick« der Mutter flüchtet das Kind immer wieder in die Arme der Großmutter. Doch auch sie, die »Herrin im Haus«, die sich ihren kleinen Enkel als »Geliebten« erkoren hat, steckt trotz Schutz und Wärme, die sie zuweilen ausstrahlt, voller Herrschsüchtigkeit und eifersüchtiger Verachtung.
Hin und wieder unterbricht Bieler den Erzählstrom seiner Erinnerungen. Es ist, als müsse er einen Moment Atem schöpfen, weil der Ansturm ihn zu überwältigen droht. Selbstzweifel an der Niederschrift werden laut, die Angst vor dem Wagnis kommt auf, noch einmal hinabzutauchen in die Höllentiefe der Zeit, aus der ihm das Kind, das er einmal war, entgegenkommt. Und Zwischenbilanz wird gezogen, das Urteil über die Eltern auf den Punkt gebracht: »Sie laden alles auf mich ab, ihre Verbitterung, ihre Wut, ihre Geilheit, ihre ungestillten Sehnsüchte . . . ihre Angst vor dem Alleinsein, ihren Hunger nach Liebe und ihr Scheitern an sich selbst. Doch was das Schlimmste ist: Ich, der 50jährige, bin der Erbe ihrer Gefühle.«
Das Erbteil der Mutter sind Angst und Haß. Was hat der Vater dem Kind hinterlassen?
Auch er hat das Kind im Stich gelassen, ein haltloser, von der Mutter verachteter Feigling, ein Trinker, dem beim Essen der Kopf in den Suppenteller sackt, ein hinterhältiger Fiesling, der das Kind schlägt, weil es sich eine seiner Krawatten umgelegt hat, ein Duckmäuser, der besoffen und heulend, mit heruntergelassenen vollgepinkelten Hosen im Flur steht und sich von der keifenden Mutter ins Gesicht schlagen läßt, ein eigensüchtiger Knauser, der mit hämischer Schadenfreude das Kind nicht ein einziges Mal beim Mühle-Spiel gewinnen läßt, ein Vater, der immer wieder davonläuft, der für den Jungen nicht die geringste Spur von Leitfigur abgibt, ein Nichts von Vater, dessen Schutz und Zuneigung sich das Kind herbeiträumen muß: »Ich hasse ihn, aber er tut mir auch leid.«
Die Szenen, in denen der Junge in sehnsüchtiger Verzweiflung auf ein wenig Zuwendung vom Vater hofft und dabei immer wieder grausam enttäuscht wird, gehören zu den anrührendsten des Buches. In einem Cafe beobachtet er, wie am Tisch nebenan ein fremder Vater seinem Sohn liebevoll die Wange tätschelt. »Warum«, fragt sich das Kind, »hat mich mein Vater noch nie so gestreichelt? Ist es meine Schuld? Vermißt er etwas an mir, was ihn hindert, mich zu lieben? Findet er mich häßlich wegen meiner Eselsohren und meiner bleichen Haut? Will er mich wie die Hitlerjungen bei der Sonnenwendfeier, zäh wie Leder, flink wie Windhunde, hart wie Kruppstahl? Wie soll ich das schaffen ohne seine Hilfe?«
In der kindlichen Verzweiflung wird die Klage laut um einen Vater, den es nie gegeben hat, ein Verlust, der sich ein ganzes Leben lang nicht mehr beheben läßt, auch dann nicht, wenn der Erwachsene es, wie Manfred Bieler, lernen mußte, sein eigener Vater zu sein. Die trauervolle Suche nach seinem Vater ist, das zeigt das Buch, noch nicht abgeschlossen. Das Kind, das einst von den Erwachsenen zum Schweigen und Vergessen verdammt worden ist, hat in seinen »Memoiren« endlich eine Stimme gefunden. Es hat der Mutter, »der Frau, die mich geboren und mein Leben verdorben hat«, einen gnadenlosen Todesstoß versetzt. Aber es weint noch immer um den verlorenen Vater.
Kein anderes Wort von Franz Kafka ist so oft zitiert und strapaziert worden wie das vom Buch, das die Axt sein soll für das gefrorene Meer in uns. Es gibt in der neueren Literatur kein Kindheitsbuch, das diese Forderung mit solch seelenerschütternder Kraft einlöst wie die »Memoiren eines Kindes« von Manfred Bieler. Diese Höllenfahrt in die Abgründe der eigenen Kindheit kann niemanden, der das Kind in sich noch nicht ganz abgetötet hat, unberührt lassen. Wer sich auf dieses Buch einläßt, begibt sich in Gefahr, in einem Strudel aus Scham und Entsetzen zu ertrinken. Doch ganz gleich, ob er die Lektüre bis zum Ende durchsteht, er wird spüren: Hier hat jemand um sein Leben geschrieben und dem Schrei nach Liebe, den das Kind, das wir alle einmal waren, in sich ersticken mußte, auf grandiose Weise literarischen Ausdruck verliehen. f
*BUCHKOLUMNE *
*VERLAGSHINWEIS:
Manfred Bieler: »Still wie die Nacht. Memoiren eines Kindes« Hoffmann und Campe; 384 Seiten; 39,80 Mark