Erkundungen unter der Gürtellinie
Andre Breton: »Was hält Unik vom Geschlechtsverkehr in einer Kirche?« Pierre Unik: »Das interessiert mich überhaupt nicht.« Jacques Prevert: »Mich interessiert es nicht wegen der Glocken.« Raymond Queneau: »Ich setze nie einen Fuß in eine Kirche und werde es auch nicht aus einem solchen Grund tun.« Yves Tanguy: »Absolut widerwärtig.« Benjamin Peret: »Ich denke an nichts anderes und hätte größte Lust darauf.« Andre Breton: »Ich teile Perets Meinung voll und ganz, und ich wünschte, daß es mit allen möglichen Raffinements passierte.«
Vor allem die grandiose Antwort von Jacques Prevert, die die Provokation der Frage unterläuft, signalisiert, daß es sich bei den Gesprächsteilnehmern nicht nur um die mehr oder weniger bekannte Spezies »Männer« handelt, sondern um eine ganz besondere Sorte.
Spätestens seitdem Männer auch nur halbwegs der eindeutigen Gebärden und Sprache mächtig waren, pflegten sie sich als Jäger und Sammler erotischen Wildgutes nach getanem Beutezug in ihren Höhlen um die Glut ihrer sexuellen Begierden herum zusammenzusetzen und über ihre Erfolge, Mißerfolge und Sehnsüchte zu bramarbasieren. Sie praktizieren damit nur den uralten geschlechtsspezifischen Solidarpakt, um im stolzen und lüsternen Austausch von Erfahrungen und Phantasien gegenseitig die stets gefährdete Männlichkeit für die nächste Erfahrung aufzurichten. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.
Auch die Surrealisten aus dem inneren Zirkel um Andre Breton saßen eines Tages beisammen, um sich über sexuelle Erfahrungen auszutauschen. Doch was sie im Sinne hatten, war alles andere als eine feuchtwarme Potenz-Verbrüderung. Sie veranstalteten ein »jeu de la verite«, einen Frage- und Antwortreigen von so ungeschützter und provozierender Offenheit, wie sie selbst für das an rüdem sexuellen Palaver überfüllte ** Jose Pierre (Hrsg.): »Recherches sur la se- _(xualite. Janvier 1928 - aout 1932«. ) _(Editions Gallimard, Paris; 216 Seiten; ) _(85 Francs. Die deutsche Ausgabe ) _(erscheint im Verlag C. H. Beck, München; ) _(etwa 250 Seiten; voraussichtlich 39,80 ) _(Mark. * Oben l.: »Der Garten ) _(Frankreichs« (1962); rechte Seite: die ) _(Malerin Meret Oppenheim und ihr Kollege ) _(Louis Marcoussis (1933). ) 20. Jahrhundert beispiellos ist. Und weil das Enthüllungsspiel nicht dem schlüpfrigen Ergötzen, sondern einer kruden Wahrheitsfindung diente, ließen sie ihre Aussagen zur Veröffentlichung protokollieren. Allerdings hat es rund 60 Jahre gedauert, bis die vollständige Dokumentation tatsächlich herauskam, in Deutschland sollen die Protokolle in diesem Sommer erscheinen**.
Zwischen Januar 1928 und August 1932 traf sich die Gruppe in Paris in wechselnder Kombination insgesamt zwölfmal. Abgesehen von Breton, der als einziger bei allen Treffen anwesend war, nahm eine Reihe von illustren Künstlern teil wie Louis Aragon, Paul Eluard, Man Ray, Max Ernst, Yves Tanguy und Jacques Prevert. Nur bei drei Versammlungen und erst nachdem Louis Aragon heftig die Einseitigkeit kritisiert hatte, gesellten sich auch Frauen dazu, freilich fast nur Ehefrauen und Freundinnen anwesender männlicher Protagonisten wie Nusch Eluard, Jeannette Tanguy oder Katia Thirion. Die Dominanz der maskulinen Perspektive vermochte keine zu unterminieren.
Schon der lakonische Tonfall, der sich durchsetzte, schloß jede Rücksicht auf die Zwischentöne der Sinnlichkeit aus. Ähnlich wie einer ihrer extremen Antipoden, Hemingway, zelebrierten sie einen stilisierten männlichen Sprachgestus, der einsilbig, derb und trocken den harten Kern herausgriff und das Weiche, das Fruchtfleisch, aussparte. Mit anderen Worten, keine Moral, keine Geziertheiten, keine Arabesken und keine Aphorismen, und schon gar keine Erotik, geschweige denn Anleihen bei ihrem genuinen Element, den Träumen und der Phantasie. _____« Louis Aragon: »Ein Mann schläft mit einer Frau. Wie » _____« wahrscheinlich ist es, daß sie gemeinsam zum Orgasmus » _____« gelangen? Variiert dieser Prozentsatz je nachdem, wie gut » _____« er die Frau kennt? Was denkt Man Ray darüber?« Man Ray: » _____« »Nicht häufig. Immer möglich. Nicht wünschenswert.« »
Die Gruppe, die es - wahrscheinlich zum letztenmal in diesem Jahrhundert - als Avantgarde geschafft hat, die herrschende Ästhetik bis tief in das bürgerliche Lebensgefühl hinein aufzuschrecken und die noch zornig, nein, ekstatisch an den Fundamenten des Ganzen gerüttelt hat, übte sich ausgerechnet bei dem Blick auf den Status quo ihres Trieblebens in ungerührter Neutralität.
Die Vorstellung, so etwas wie pure Sexualität, den Rohstoff des sexuellen Begehrens enthüllen zu können, war, würden wir heute sagen, eine gewaltige Illusion. Doch Ende der zwanziger Jahre schien dies, zumindest aus der Perspektive des Milieus der Boheme, noch möglich. Nicht nur, weil die Lehre Freuds (auf hinreichend simple Merksätze verkürzt) den ersten Höhepunkt ihrer Popularität in diesem Milieu erreicht hatte. Sondern vor allem, weil es für die Gegenkultur in den Metropolen als ausgemacht galt, daß es allein die Spießigkeit, der Puritanismus und die Verpflichtung auf lächerliche Ehrbegriffe waren, die den Blick auf die unverfälschte Sexualität verstellten. _____« Louis Aragon: »Was hältst du von Scham bei Frauen, » _____« Breton?« Andre Breton: »Ich habe eine denkbar schlechte » _____« Meinung davon: Wenn die Frau sehr schön ist, gibt es » _____« dafür keinerlei Entschuldigung.« »
Noch war von der Skepsis und der postkoitalen Tristesse, die nach der sexuellen Revolution Platz gegriffen hat, nichts zu spüren. Der Enthusiasmus und die Naivität, mit der die Roaring Twenties daran gingen, den verhaßten »guten Geschmack« und die Schranken der Konventionen niederzureißen, war noch weit entfernt von der Ernüchterung, mit der wir heute feststellen, daß die Sexualität in dem Maße von ihren Fesseln befreit worden ist, in dem sie öffentlich ausgeschlachtet und privat durch ein Management der Sinne ersetzt wurde. Noch hatte sich Sexualität nicht in Sex und Liebe nicht in Lebenshilfe gewandelt, und noch quälte man sich gegenseitig wie Lulu und ihre »Opfer« mit der Zange der doppelten Moral. Insofern hatte die kalte Selbstentblößung noch einen schockierenden Sinn: _____« Paul Eluard: »Haben Sie jemals bis zum Höhepunkt vor » _____« einer Person des anderen Geschlechts masturbiert?« Madame » _____« Lena: »Sehr oft.« Pierre Blum: »Noch nie. Unerträgliche » _____« Vorstellung.« Andre Breton: »Mehrere Male. Vor einer » _____« Frau, die ich nicht liebe.« »
Aber was hat die Surrealisten dazu getrieben, ihre Prämisse zu verraten und bei der Erkundung der Sexualität so unerbittlich auf einen realistischen Zugang zu setzen? Es waren doch sie, die zum Sturm auf die Bastionen des »beleidigenden« Realismus geblasen hatten. »Die realistische Haltung«, zürnte Breton im Ersten Manifest des Surrealismus (1924), »ist mir ein Greuel, denn sie ist aus Mittelmäßigkeit gemacht, aus Haß und platter Selbstgefälligkeit.«
Genau diese radikale Oberflächlichkeit, die sie bei ihren bürgerlichen Feindbildern mit Hohn zu geißeln pflegten, fragten er und seine Mitstreiter jetzt ab. Und dies, obwohl es sich um jene Oberfläche handelte, über die der männliche Blick schon immer so platt, ungestört und hautnah wie möglich wandern wollte: _____« Andre Breton: »Ich möchte Peret darum bitten, eine » _____« imaginäre Frau zu beschreiben, die ihn besonders in » _____« Versuchung führen würde. Augen, Haare, Brüste, Größe, » _____« Hintern, Beine.« Benjamin Peret: »Augen apfelgrün und » _____« sehr groß, schwarze Haare mit blauem Schimmer. Kleine » _____« Brüste, auseinanderstehend und hoch. 1,65 m bis 1,70 m. » _____« Draller Hintern. Schlanke Beine, die Wade in der Mitte » _____« des Beins.« »
Perfekt. Eine korrekte Bildbeschreibung. Es fehlt nicht ein Detail damaliger Pin-up-Girls oder jener notorischen, stets blutjungen Zigeunerinnen, die auf »gewagten« Ölbildern überall die Hinterstuben kleinbürgerlicher Plüschsalons schmückten; nur die apfelgrünen Augen sind frei erfunden. »Die Seite, die das Ding dem Traume zukehrt, ist der Kitsch« (Walter Benjamin 1927).
Jedenfalls legte die Freimütigkeit ihrer Auskünfte offen, daß den Surrealisten keineswegs eine surrealistische Sexualität eigen war. »Surrealismus«, so hatte ihn Aragon definiert, ist »der Sohn der Raserei und des Schattens«. Doch nichts Dämonisches, Perverses oder Sonderbares wurde offenbart, das nicht dem Üblichen entspräche. Marquis de Sade, ihr Idol in den Büchern, hatte in ihrem Privatleben nichts verloren. Sie waren, wie Thomas Mann die durchschnittlichen Heterosexuellen einmal verächtlich apostrophierte, durchaus »banale Weiber und gesunde Männer«.
Der unausgesprochene Sinn des Unterfangens lag deshalb wohl nicht in der Sammlung origineller sexueller Erfahrungen, sondern in dem Akt der gegenseitigen Enthüllungen selbst. Dieser war, wenn man so will, in der Tat surreal: Es war ein Initiationsritual, eine simultane Selbstentblößung der ganzen Gruppe, die damit ihrem Zusammenhalt und ihrem eigenen Mythos eine sehr intime aufgeklärt-magische Dimension hinzufügte.
Obwohl einer wie der andere sich als Narziß von höchster Farbenpracht gebärdete, hatten sie bis dahin ihre Lehre, weit über ein künstlerisches Programm hinaus, als verbindliche Grundlage einer kollektiven Lebenspraxis verstanden. Als eingeschworene Gruppe hatten sie die »schändlichen humanitären und patriotischen Ideale und die anderen miserablen Fallen der Realität« abgelehnt, und als eingeschworene Gruppe waren sie aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgetreten.
Doch 1928, bevor die Sitzungen über die Sexualität starteten, zeigten sich die ersten unvermeidlichen Effekte der Normalisierung. Da der Kulturbetrieb den Surrealisten zunehmende Prominenz verschaffte, trug er gegen ihren Willen in der für das Medienzeitalter typischen Manier zu ihrer Wiedereinbürgerung bei. Der ursprüngliche Furor des absoluten und haßerfüllten Surrealismus (nach dem berühmten Motto, wonach »die einfachste surrealistische Handlung darin besteht, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings in die Menge zu schießen"), begann nachzulassen.
Auch die Wendung führender Mitglieder von der »Revolution der Ansichten« zur »Revolution der Fakten« (also hin zum Kommunismus) war nur symptomatisch für die Wiederannäherung an die Außenwelt. Nach und nach hatte sich die soziale und politische Wirklichkeit wie ein listiger Hund wieder an sie herangeschlichen und setzte nun dazu an, die Herrchen in ihrem Sinne an die Leine zu nehmen.
In dieser Situation, in der sich die Grenzen zu verwischen drohten, konnte das öffentliche Überschreiten der Schamschwelle in den tabuisierten Bereich der sexuellen Intimitäten eine Bindung herstellen, die die Teilnehmer noch einmal buchstäblich einander nahe- und von der bürgerlichen Welt abrücken ließ. Nichts schweißt besser zusammen als ein gemeinsamer Tabubruch. Über Sexualität sprachen schon damals alle. Aber wer wagte es, öffentlich bekanntzugeben, ob er schon päderastischen Trieben nachgegeben hat, welche Stellung er bevorzugt, wie oft er hintereinander, ohne den Raum zu verlassen, »kann« oder in welche Beklemmung er gerät, wenn er nicht »kann«? Wer würde, wie Aragon, vor aller Welt zugeben, daß er »immer nur unvollständige Erektionen« habe?
Das war keine Literatur und auch kein neurotischer Bekenntniszwang, es war die gemeinsame Demonstration, über das mächtige Anstandsgefühl erhaben zu sein. Aber gerade durch den skandalösen Realismus ihrer Beschreibungen hatten sie nun unbeabsichtigt selbst den Beweis geliefert, daß ihr Triebleben der Welt entsprach, aus der sie herkamen. Mit dem Intellekt und mit der Moral waren sie aus ihr ausgestiegen, ihre Sinne jedoch spielten mit ihnen das alte, hinterwäldlerische Spiel. _____« Andre Breton: »Welche Bedeutung hat die physische » _____« Schönheit einer Frau für die Attraktion, die sie auf Sie » _____« ausübt?« Raymond Queneau: »Ich nehme Frauen, wie sie » _____« sind.« Marcel Noll: »Die Frau, die man liebt, ist immer » _____« schön.« Andre Breton: »Die körperliche Schönheit ist das » _____« wichtigste überhaupt. Sie könnte Genie haben und alle » _____« entscheidenden moralischen Fähigkeiten - ein einziges » _____« physisches Detail an ihr, das mir mißfiele, würde » _____« genügen, daß jegliches Interesse in sich zusammenfällt.« »
Bei Bretons Auskunft über Sex-Appeal mögen sich Frauen an den Körperteil greifen, auf den es ihm nicht ankommt, an den Kopf. Man muß ihm jedoch zugute halten, daß die Ausschaltung des Verstandes nicht nur den surrealistischen Grundimpuls, sondern den Kern seiner Auffassung von Liebe ausmachte. In der Liebe wollte er nichts als restlos den Kopf verlieren. »Liebe ist der verzweifelste und der am meisten zur Verzweiflung treibende Zustand, den ich kenne und in dem endlich die eigene Persönlichkeit verschwindet.«
An einem Punkt, als es um die unvermeidlich zukunftsorientierte Begleiterscheinung von Sexualität ging, der Zeugung von Kindern, kam der zugrundeliegende Fatalismus der ganzen Gruppe unvermittelt zum Ausdruck. _____« Andre Breton: »Prevert? Lieben Sie Kinder? Was halten » _____« Sie davon, ein Kind zu haben?« Jacques Prevert: »Es müßte » _____« sofort umgebracht werden.« Andre Breton: »Tanguy?« Yves » _____« Tanguy: »Ich fände es abscheulich, ich könnte nicht » _____« sagen, warum.« Andre Breton: »Duhamel?« Marcel Duhamel: » _____« »Weil ich nicht für das Leben eines Lebewesens » _____« verantwortlich sein wollte.« Pierre Naville: »Und » _____« Breton?« Andre Breton: »Die traurige Farce, die mit » _____« meiner Geburt begann, muß mit meinem Tod ein Ende » _____« finden.« Pierre Unik: »Ich möchte nicht, daß jemand als » _____« Folge einer Tat von mir lebt. Das ist das » _____« Verabscheuungswürdigste, das ich tun könnte. Und ich » _____« erkenne niemanden das Recht zu, den Ausdruck ,Kinder » _____« haben'' zu gebrauchen. Es gibt keine Väter.« »
Bei aller Koketterie mit dem negativen Pathos, das die Surrealisten so schätzen, dringen hier offenbar düstere zeitgeschichtliche Erfahrungen der Beteiligten an die Oberfläche. Bei den Surrealisten haben sich überwiegend Angehörige der Jahrgänge eingefunden, die als junge Soldaten selbst an dem unendlichen Abschlachten und Verreckenlassen des Ersten Weltkrieges teilgenommen hatten. Und bereits Ende der zwanziger Jahre waren sie sich »über die unweigerliche Wiederkunft der Weltkatastrophe klar": eine verlorene Generation »avant la lettre«. Selbst die Revolutionsschwärmerei war schließlich nur eine Form der gezielten Realitätsflucht.
Das Faible der Surrealisten für ekstatische Ausdrucksformen könnte darin begründet sein. Aber hier waren auch die krassesten unter ihren Ansichten zur Sexualität wörtlich zu nehmen. Ein amtlicher Vertreter der »political correctness« wird bei der Lektüre der Protokolle aus dem Kreuzeschlagen gar nicht mehr herauskommen. _____« Raymond Queneau: »Was denken Sie über » _____« Vergewaltigung?« Benjamin Peret: »Ganz und gar dagegen.« » _____« Yves Tanguy: »Sehr, sehr gut.« Andre Breton: »Ganz und » _____« gar dagegen.« Raymond Queneau: »Das ist das einzige, was » _____« mich interessiert.« Jacques Prevert: »Ich finde das » _____« legitim.« »
Da keine Scheinheiligkeit korrigierend eingreift, fügen sie dem, was wir schon immer zu wissen wagten, nichts Erbauliches hinzu. Aber nicht nur die zur Schau gestellte Amoral, deren Skandalträchtigkeit die Surrealisten ja immer einkalkulieren, ist aufschlußreich, sondern auch ihre für heutige Verhältnisse unerhörte Fähigkeit, die »crudites« ihres sexuellen Haushaltes voreinander auszubreiten, ohne gegenseitig die Diskretion aufzugeben.
Keine Ehebrüche, keine Affären und keine Namen von Geliebten wurden zugänglich gemacht. Sie haben es verstanden, ihr Intimleben und ihre geheimsten sexuellen Wünsche aufzudecken, ohne den Schleier über ihrem Privatleben zu lüften. Dem öffentlichen Blick ist jede Blöße freigegeben, dem Voyeurismus nichts. Das ist aus heutiger Sicht, die sich der Tyrannei der publik gemachten Privatsphäre unterworfen hat, ein schwerer Fall von Obstruktion. Sie verweigern die Erfüllung des heimlichen Mitgenusses, das Grundrecht der frustrierten »Erlebnisgesellschaft«. Doch das ist unser, nicht ihr Problem. Sie wollten über die nackten Tatsachen der »allereinfachsten Liebe« ohne Scham, aber nicht schamlos reden. Falls wir zwei Generationen später in sexuellen Dingen besser beraten sind als sie, dann jedenfalls nicht unter diesem Aspekt. Eines sollte man daher von ihnen unter allen Umständen wiedererlernen: daß der Rest Schweigen ist.
*VITA-KASTEN-2 *ÜBERSCHRIFT:
Träume und Halluzinationen *
waren Quellen, aus denen sich die künstlerische Avantgarde-Bewegung des Surrealismus speiste. Entscheidende Anregungen verdankten die Surrealisten dem kreativen Nonsens ihrer Vorläufer, der Dadaisten, und der Erforschung des Unbewußten durch den Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud. Zu dem war der Schriftsteller Andre Breton (1896 bis 1966) 1921 nach Wien gepilgert, bevor er den Surrealismus 1924 als Schule begründete. Um Breton und dessen frühen Weggefährten und Schriftstellerkollegen Louis Aragon (1897 bis 1982) scharten sich zahlreiche Künstler. Unter ihnen der Autor Pierre Unik, der Lyriker Jacques Prevert, der Schriftsteller Raymond Queneau, die Maler Yves Tanguy und Max Ernst, der Publizist Pierre Naville, der Poet Paul Eluard und der Maler und Fotograf Man Ray. Zeitweilig engagierten sich etliche von ihnen, wie die Leitfiguren Breton und Aragon, auf rivalisierenden Flügeln des Kommunismus. Die surrealistische Bewegung zerfiel in zahlreichen politischen und persönlichen Fehden. Ihre anarchisch überbordende, ausschweifende Phantasie aber hat deutliche Spuren in der Kultur dieses Jahrhunderts hinterlassen.
** Jose Pierre (Hrsg.): »Recherches sur la sexualite. Janvier 1928 -aout 1932«. Editions Gallimard, Paris; 216 Seiten; 85 Francs. Diedeutsche Ausgabe erscheint im Verlag C. H. Beck, München; etwa 250Seiten; voraussichtlich 39,80 Mark. * Oben l.: »Der GartenFrankreichs« (1962); rechte Seite: die Malerin Meret Oppenheim undihr Kollege Louis Marcoussis (1933).