SCHRIFTSTELLER Erlaubnis zum Atmen
Gut 1500 Moskauer haben sich am 5. März 1989 im Gorki-Park versammelt, um in kritischer Absicht des 36. Todestages ihres fürchterlichen Landsmanns Josef Stalin zu gedenken. Einer der Redner prangert an, daß trotz Perestroika viele der besten russischen Bücher noch immer nur in den »Samisdat«-Publikationen des Untergrunds zu finden sind, und fordert die Zuhörer auf, verstärkt zur Selbsthilfe zu greifen, statt sich mit Appellen an die Mächtigen zu erniedrigen: »Das ist so, als wenn man um Erlaubnis zum Atmen bittet.« »Der Archipel Gulag«, Alexander Solschenizyns Bericht über das mörderische Lagersystem, der 1974 zu seiner Ausbürgerung aus der Sowjet-Union führte, soll als das »wichtigste der nach 1917 geschriebenen Bücher« im Selbstdruck hergestellt werden.
Womöglich wird die Privatinitiative der Leser demnächst durch eine staatliche Publikation übertrumpft. Das Moskauer Verlagshaus »Sowjetskaja rossija« nämlich hat für Anfang nächsten Jahres die Veröffentlichung von drei früheren Solschenizyn-Werken in Aussicht gestellt. Es handelt sich um die berühmte, autobiographisch geprägte Gulag-Novelle »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch«, deren Erstdruck Michail Gorbatschows antistalinistischer Amtsvorgänger Nikita Chruschtschow 1962 angeordnet hatte, sowie um die Erzählung »Matrjonas Hof« (die letzte »offizielle« Solschenizyn-Veröffentlichung vor seiner Ausweisung) und um den Roman »Krebsstation«.
Freilich ist es nicht das erste Mal, daß das bevorstehende Erscheinen von Werken des ehemaligen Staatsfeindes Nummer eins annonciert wird. Im Juni 1988 hatte Sergej Salygin, der Chefredakteur der traditionsreichen liberalen Monatsschrift »Nowy mir«, bekanntgegeben, er werde Solschenizyn um die Druckgenehmigung für »Krebsstation« bitten; auch einer Veröffentlichung des »Archipel Gulag« stehe nichts im Wege. Eine literarische Wochenzeitung druckte wenig später Hunderte von zustimmenden Leserbriefen auf den Appell, Solschenizyn die Bürgerrechte zurückzugeben.
Höheren Ortes war man anderen Sinnes; das Oktoberheft von »Nowy mir«, in dem der Solschenizyn-Abdruck angekündigt wurde, verschwand umgehend in der Versenkung. Im November dann sprach der kurz zuvor neuernannte Chefideologe der Partei, Politbüromitglied Wadim Medwedew, ein Machtwort: Solschenizyns Positionen stünden »in grundlegendem Widerspruch« zum System. Eine Veröffentlichung seiner Werke, insbesondere des »Archipel Gulag«, komme nicht in Frage.
Völlig unbeeindruckt von der Erneuerung des offiziellen Bannfluchs über den langbärtigen Propheten Rußlands, richtete der reformfreudige sowjetische Filmverband, der schon zuvor die Wiedereinbürgerung Solschenizyns verlangt hatte, zum 70. Geburtstag des Verstoßenen im Dezember letzten Jahres eine große Feier im überfüllten Moskauer »Haus des Films« aus, bei der das politische Veto lächerlich gemacht wurde: Als ob es darauf ankomme, mokierte sich ein Festredner, ob einer der größten Schriftsteller Rußlands ein Anhänger des Sozialismus sei.
Das Machtwort der Partei, so scheint es, ist in Wahrheit ein Ohnmachtswort; der Ungehorsam gegen die Obrigkeit zieht immer weitere Kreise. Die Monatszeitschrift des offiziellen sowjetischen Friedenskomitees, »Das 20. Jahrhundert und der Frieden«, druckte in ihrer Februar-Ausgabe einen Solschenizyn-Essay aus dem Jahr 1974, der unmittelbar vor dessen Expatriierung im Untergrund zirkulierte. »Lebt nicht mit Lügen!« heißt die Mahnschrift.
Die Friedenspostille hatte bis dahin im wohlverdienten Ruf eines schläfrigen Propaganda-Organs gestanden; noch zwei Jahre zuvor war sie mit der Befreiung von der staatlichen Zensur für die in langen Jahren gepflegte Harmlosigkeit belohnt worden.
Die plötzliche Unbotmäßigkeit ist symptomatisch: Der Glasnost-Virus zersetzt, notfalls unter Umgehung der ideologischen Zentralen, auch die kleinen Bastionen des Stumpfsinns. Ob in Regionalpublikationen der baltischen Republiken oder in einer ukrainischen Bergarbeiter-Zeitschrift: Immer wieder kam es in den vergangenen Monaten zu Solschenizyn-Nachdrucken, als sei die Zensur längst abgeschafft.
Die Rückkehr des Nobelpreisträgers selbst und nicht nur seiner Bücher fordern die nationalkonservativen, christlichen Gruppierungen ebenso wie die mit ihnen im Streit liegenden westlich-liberalen Intellektuellen.
Die »Westler« freilich machen sich keine Illusionen darüber, daß ihren patriarchalisch gesonnenen Rivalen, kehrte Solschenizyn wirklich wieder, eine Identifikationsfigur von größtem politischen Gewicht zuwüchse: Mit Vorliebe hält der »Gulag«-Meister von seinem Hochsicherheits-Refugium im amerikanischen Vermont aus zornige Tiraden gegen den Liberalismus und Pluralismus westlicher Denkungsart.