Underground Erleuchtung durch den Lama
»Das Gefängnis«, so verkündete einst Timothy Leary, 51, selbsternannter »Hoherpriester« der weltweiten Drogen-Subkultur, »ist in meinem Beruf die Gefahr Nummer eins« -- wie man aus dem Schicksal anderer Hoherpriester ersehen könne: Gandhi, Jesus, Sokrates, Laotse.
Eben jetzt steht dem amerikanischen »Vater aller Blumenkinder« wieder einmal die »Gefahr Nummer eins« ins Haus. Diesmal in der Schweiz. Das Justizdepartement des Kantons Wallis hat den vom FRI Gesuchten zum »unerwünschten Ausländer« erklärt: »Allein die Anwesenheit dieses Drogenprofessors ist eine Provokation für das gesunde Wallis.«
Allerdings dürfte die Empörung der gesunden Walliser dem seit Weihnachten im Chalet »Edelweiß« in trans-Montana hausenden Leary keineswegs bloß Ärger einbringen, eher vielmehr Lustgewinn: Mark und Fränkli. Sie kommt nämlich gerade zur rechten Zeit, um den etwas abgestandenen Leary-Skandal neu zu beleben -- jedenfalls im deutschsprachigen Raum.
Deutsche Verlage »sind denn auch gerüstet oder rüsten sich, ihr Leary-Glück zu machen:
* Der Hamburger Christian Wegner Verlag legte Learys »Politik der Ekstase, vor (Text-Probe: »In einer sorgfältig vorbereiteten, liebevollen LSD-Sitzung kann eine Frau mehrere 100 Orgasmen haben")*. > Der sonst auf Fernöstlich-Buddhistisches spezialisierte Otto Wilhelm Barth Verlag, Weilheim, veröffentlichte Learys »Psychedelische Erfahrungen« (Publikations-Motiv: »Die Sehnsucht der LSD-Freunde« mystische Erlebnisse zu erfahren")**. > Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch will -- noch in diesem Herbst -- Learys Hauptwerk »High Priest« auf deutsch herausbringen. Insonderheit »High Priest« ist geeignet, Learys eigenartige Philosophie unter die deutschen Leute zu bringen -- eine Philosophie, die ihrem Erfinder 1962 in dem mexikanischen Dorf Tepoztlan aufging, als er dort eine Handvoll Giftpilze zu sieh nahm und anschließend die Welt durch das »Auge GOttes« sah.
Religion sei, meint Leary, nichts anderes als Bewußtseins-Erweiterung. die sich nach Pilz- oder LSD-Genuß in drei Schritten vollziehe:
* Auflösung der Realität ("Anschalteil"),
* Timothy Leary: »Politik der Ekstase«. Christian Wegner Verlag, Hamburg; 224 Seiten; 18 Mark. ** Timothy Leary/Ralph Metzner/Richard Alpert: »Psychedelische Erfabrungen«. Otto Wilhelm Barth Verlag, weilheim; 136 Seiten; 9,80 Mark.
* Eintauchen in Farb-, Licht- und
Energie-Felder ("Einstimmen").
* völlige Ablösung von Realität ("Abspringen").
In seinem vorläufig noch jüngsten auf deutsch erhältlichen Buch »Psychedelische Erfahrungen« hat Leary seine Pilz-Philosophie mit fernöstlicher Mystik verquickt -- und damit der allenthalben grassierenden Indien-Sehnsucht apolitischer Jugendlicher einen Wegweiser gegeben.
Learys »Psychedelische Erfahrungen« basieren auf dem berühmten tibetanischen Totenbuch, dessen Titel »Bardo Thödol« -wörtlich übersetzt heißt: »Befreiung durch Hören im Nach-Tod-Zustand«. Es beschreibt, wie die Seele des Toten in 49 Tagen drei Bardo-Stufen durchreist, ehe sie sich wiederverkörpert.
Der zum Hinduismus konvertierte Leary vergleicht nun die »Reise« der Totenseele mit den »transzendentalen Erfahrungen« der Reisen im LSD-Rausch -- und verspricht den Realitätsferne-Suchenden: »Wir besitzen zum ersten Male Möglichkeiten, um jeden vorbereiteten Schüler freiwillig zur Erleuchtung zu führen.«
Während indessen beim frommen Tibeter der Lama am Kopfende des Sterbenden sitzt und die Wegweisung des »Bardo Thödol« ins Ohr raunt, übernimmt beim LSD-Reisenden der »psychedelische Führer« die Leitung. Leary mit moderner Parabel: »Der Führer ist die Bodenkontrolle im Flughafenturm ... immer bereit, den Kurs zu navigieren.
Kommt es etwa im »Zweiten Bardo« zu »seltsamen Klängen, unheimlichen Anblicken«. so soll der noch unbedarfte LSD-Novize zum Führer gehen: »Lege deinen Kopf in seinen Schoß oder auf seine Brust. Dies ist die älteste Form lebendiger Kommunikation, die Bruderschaft des Atems.«
Learys Bücher haben -- obwohl abstrus und laut Arthur Koestler »Kochtopfmystik« -- beträchtliche zeitkritische Bedeutung. Sie und noch mehr ihre Beliebtheit bei Jugendlichen indizieren Realitätsprotest« Eskapismus, Außenseitertum -- allerdings in völlig unpolitischer Weise. Leary und seine Anhänger sind Realitäts-Protestler, aber mystische, nicht »systemüberwindende«. An Leary scheiden sich die Geister der Jungen.
Das wurde am Ende auch in Learys Biographie deutlich. In der Nacht des 12. September 1970 hangelte sich der wegen Besitzes von elf Gramm Marihuana zu zehn Jahren Gefängnis verurteilte ehemalige Harvard-Dozent Leary aus dem Kerker in die Freiheit. Mit Hilfe eines Telephonkabels gelangte er über den 3,65 Meter hohen Stacheldrahtzaun der kalifornischen Haftanstalt bei San Luis Obispo. Die Untergrundorganisation »The Weathermen« half ihm auf den Weg nach Algerien. Er wollte sich den dort im Asyl lebenden Black Panthers anschließen. Aber eben hier sollte sich zeigen, daß Politik und Gewalt nicht Learys Sache sind. Panther-Literat Eldridge Cleaver ("Seele auf Eis") ließ ihn in »Schutzhaft« nehmen.
Cleavers klarsichtige Begründung: »Er ist ein apolitischer Mensch, ein Opportunist. Drogen sind konterrevolutionär.«
Learys Kommentar: »Wir können nicht einfach sagen, nimm es von den Reichen und verwende es für die Armen. Dann hätten wir auch wieder Generale, Gewalt und Bürokratie.«
Seit Mai vorigen Jahres lebt Leary in der Schweiz -- mit dem FBI und dem schweizerischen Asylrecht Katze und Maus spielend. Immerhin, das schelmische Spektakulum ist gut für Publicity. In der Bundesrepublik meldeten sich Ernst Bloch, Heinrich Böll und Wolfgang Neuss zum Fall Leary zu Wort.
Das· amerikanische PEN Center, mit Thomas Fleming und Arthur Miller an der Spitze, ließ von Allen Ginsberg eine Unabhängigkeitserklärung für Dr. Leary verfassen. Die PEN-Autoren sparten auch sonst nicht mit Aplomb: Der Fall Leary sei ein Fall von »Verfolgung seiner Philosophie.