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Artikel 52 / 79

ERLÖSUNG IN DER REVOLTE

aus DER SPIEGEL 46/1966

Der kulturkritische und philosophische Schriftsteller Jean Améry ("Geburt der Gegenwart), 54, in Österreich aufgewachsener Jude, war von 1943 bis 1945 Häftling in mehreren Konzentrationslagern. Améry, heute in Brüssel lebend, veröffentlichte in diesem Jahr ein Buch über das Jüdisch-deutsche Verhältnis, »Jenseits von Schuld und Sühne« (SPIEGEL 32/1966). - »Treblinka«, das Buch des französischen Schriftsteller-Journalisten Jean-Francois Steiner, 28, dem Simone da Beauvoir das Vorwort schrieb, hatte in Frankreich in diesem Jahr einen Bestseller -Erfolg.

Kurt Franz, Lagerkommandant von Treblinka, hatte seinen Hund Barry aufs beste dressiert. Wurde der Untersturmführer eines Häftlings ansichtig, der nicht eifrig genug am Werk war, pfiff er dem Hunde und rief ihn an: »Sieh mal, Mensch, dieser Hund arbeitet nicht!« Worauf sich das Tier in Hoden und Penis des Häftlings verbiß.

In Treblinka, der Todesfabrik in Polen, wo zwischen Juli 1942 und August 1943 rund 700 000 Menschen den Tod fanden, wurde der Jude zum Hund: Er biß und schlug sich mit den Kameraden um die Suppe; er zog den Kopf ein und jaulte, wenn die Peitsche des SS-Mannes oder des ukrainischen Aufsehers auf seinen Rücken klatschte; er kroch auf allen vieren über den Boden, wenn der Herr es so befahl.

Aber was heißt da: Hund? Die Juden von Treblinka wurden zwar im eigentlichen Wortsinne entmenscht, doch ging dieser Prozeß nicht so weit, daß sie nicht ihrerseits bewußt zu Mördern geworden wären. Der jüdische Kapo Kurland tätschelte freundschaftlich die Hände erschöpfter Ankömmlinge, die zu schwach waren, um noch in die Gaskammern laufen zu können; eine stärkende Injektion werde sie wieder zu Kräften bringen, sagte er. Dann spritzte er sie gewissenhaft hinüber. Ein Vater traf seinen kleinen Sohn wieder, den er in Warschau beim Abtransport verloren hatte. Du mußt jetzt mit den anderen zur Brause gehen, sagte er, geh, geh, ich komme dir gleich nach. Der Knabe ging unter die Gas-Dusche, der Vater kam Ihm erst später nach: Er wollte noch ein paar Hundewochen leben.

Doch wurde die Entmenschung zurückgenommen. Am 2. August 1943 erhoben sich die tausend Häftlinge von Treblinka zur Revolte. Sechshundert von ihnen erreichten die Wälder. Als später die Rote Armee das Gebiet befreite, hatten noch vierzig von den sechshundert Flüchtigen überlebt.

Der die Geschichte von Treblinka erzählt, ist nicht selbst dabeigewesen. Der Autor ist ein 1938 geborener Sohn eines deportierten jüdischen Vaters und einer christlichen französischen Mutter. Er war Fallschirmjäger in Algerien, ehe er als Journalist bei der Tageszeitung »Combat«, als Mitarbeiter von Sartres »les Temps modernes«, der Wochenblätter »L'Express« und »Le nouveau Candide« seine literarische Laufbahn begann.

Warum Steiner das Buch »Treblinka« nach Durcharbeit der recht geringfügigen vorliegenden Dokumentarliteratur und nach persönlicher Befragung von neun der Überlebenden niedergeschrieben hat, sagt uns Simone de Beauvoir in ihrem Vorwort. Er habe sich gefragt, wie es geschehen konnte, daß in Treblinka ein tausendköpfiges jüdisches Sonderkommando unter der Befehlsgewalt der Deutschen bei der Extermination von Hunderttausenden Juden kollaboriert hat. Er selbst hat in einem oft, allzu oft zitierten Interview gesagt: »Ich litt unter der Schande, Sohn eines Volkes zu sein, von dem sechs Millionen sich zur Schlachtbank führen ließen wie die Schafe.« Und er sah in der Revolte von Treblinka das herzerhebende Exempel dafür, wie dieses Volk von Schafen und Hunden sein Menschentum zurückeroberte.

Die erste Frage, die sich hier aufdrängt, geht nach der Legitimität von Jean-Francois Steiners literarischem Unternehmen. Darf, während noch Augenzeugen am Leben sind, ein Autor Geschichte in Story verwandeln? Darf einen »historischen Roman« jüngster Vergangenheit schreiben, wer nicht selbst durch das Ereignis gegangen ist? Der Verfasser dieser Besprechung war selbst »dabei«, wenn auch nicht in Treblinka, so doch Immerhin in Auschwitz. Er antwortet zunächst ohne Zögern mit Ja. Steiner durfte die Geschichte Treblinkas erzählen - nur stand er unter der (ganz außer-literarischen) Verpflichtung, sein Werk zu einem guten Ende zu führen. Seine Legitimation ist nicht vom Projekt her zu untersuchen, sondern im Lichte des Ergebnisses.

Zum rechten Gelingen gehört im Falle des Buches »Treblinka«, nicht anders als bei einem beliebigen historischen Roman, ein gewisses Maß von historiographischer Sorgfalt und Treue. Ich sage sehr ausdrücklich: ein gewisses Maß. Die sachlichen Irrtümer, die man dem Autor vorgeworfen hat und die vielfach jenseits meiner Kontrollmöglichkeit liegen, erscheinen mir nicht als erheblich.

Es stimmt, was der Franzose David Rousset, seinerseits Autor eines berühmten KZ-Buches ("Les jours de notre mort"), bei Erscheinen der Originalausgabe von »Treblinka« polemisch festgestellt hat: daß nämlich entsprechend den Protokollen des polnischen Treblinka-Prozesses während eines Jahres 700 000 Juden dort vergast wurden und daß demnach die von Steiner angegebene Durchschnittsziffer von fünfzehntausend täglich Ermordeten falsch sein muß. Doch kommt es da, so ungeheuerlich dies sich anhören möge, auf ein paar Tausende oder sogar Zehntausende ebensowenig an wie darauf, daß Steiner in zwei mißverständlichen Sätzen den Leser glauben machen kann, es käme »wenn's Judenblut vom Messer spritzt« im Horst-Wessel-Lied vor.

Gefährlicher wird es, wenn der Verfasser die Personen reden läßt, als hätten sie eben Sartre gelesen: Den SS -Mann hätte ich sehen mögen, der fähig gewesen wäre zu formulieren: »Wir, die Herrenmenschen, haben nicht die Aufgabe, etwas zu tun, uns steht es zu, zu sein ...«

Noch umstreitbarer ist wohl Steiners philosophische beziehungsweise theologische Grundthese. Der Autor meint, es hätten die Juden aus Gründen metaphysisch-religiöser Verpflichtung zum Überleben die Schmach auf sich genommen, bei der Ermordung ihrer Brüder die Henkersknechte zu spielen, den Kadavern die Goldzähne herauszubrechen, das abgeschnittene Frauenhaar in Säcke zu stopfen, diese dann fein säuberlich zu verschnüren und der deutschen Wirtschaft zuzuführen. Der Verfasser glaubt, es seien erst aus der Tiefe solch totaler Entselbstung um des Lebens willen Tod und Verklärung der Juden in der Revolte möglich geworden.

Wer darf sich anheischig machen, eine Theologie dieser Art zu bestreiten oder zu bekräftigen? Ich kann nur aus eigener Erfahrung bestätigen, daß für die jüdischen Lagerhäftlinge, die wehrlos ihr Schicksal erlitten, jede Nachricht über einen gewaltsamen Widerstand von Juden - über den Aufruhr des Warschauer Gettos, über die Erhebung in den Lagern Treblinka und Sobibor unter anderem - durchaus und deutlich redemptorischen Charakter hatte. »Das Recht des Menschen, kein Hund zu sein« (Ernst Bloch) - wir waren uns seiner bewußt. Die Möglichkeit, der Hunde-Kondition zu entrinnen, nicht, durch eine noch hypothetisch erscheinende spätere Befreiung von außen, sondern durch den freien Akt unserer Erhebung - sie erschien uns durch die Aufstände in anderen Lagern plötzlich zum Greifen nahe.

Kein Zweifel, daß Steiners Auffassung der Revolte als eines Aktes der Selbsterlösung seinem Buch jenes nationalistische oder meinetwegen jüdisch rassistische Air gibt, das bei Erscheinen des französischen Originals so leidenschaftlich diskutiert wurde.

Nationalismus? Rassismus? Vorsicht empfiehlt sich bei solcher Einschätzung. Der Nationalismus der im Kampf um Selbstbefreiung stehenden Algerier hatte einen anderen geschichtlichen Sinn als der ihrer französischen Unterdrücker; der Rassismus einer nach »black power« rufenden amerikanischen Negerbevölkerung stützt sich auf eine andere Geschichtsmoral als der einer weißen Lynch-Meute. Der jüdisch-rassistische Nationalismus, den Steiner der Revolte von Treblinka unterlegt und der ihm bei der Niederschrift zur eigenen Heilsunternehmung wurde, hat nichts zu schaffen mit dem rassistischen Nationalismus der Nazis. »... die Geschichte Treblinkas ... hat ihm sein Selbstvertrauen zurückgegeben«, schreibt Simone de Beauvoir im Vorwort. Das gilt nicht nur für Steiner allein. Was er erzählt hat, daß er es erzählt hat, trägt zur Befreiung aller überlebenden KZ-Juden vom nachlastenden Druck erfahrener Schmach bei.

Denn es war diese Schmach - und in der Entschleierung dieses Sachverhalts liegt, glaube ich, Steiners besondere geschichtsdeutende Leistung - nicht vergleichbar irgendeiner von anderen im Zweiten Weltkrieg unterdrückten Völkern erlittenen Schande. »Wenn man vom Krieg 1939 bis 1945 spricht«, heißt es in »Treblinka«, »dann vermischt man

zwei Dinge, die nichts miteinander gemein haben: den Weltkrieg, den die Deutschen gegen die Welt führten, und den universalen Krieg, den sie gegen die Juden führten, das Prinzip des Todes gegen das Prinzip des Lebens. In diesem Krieg standen die Juden allein ...«

Das Alleinsein der Juden in diesem Krieg, ihre absolute Einsamkeit ist - man mag die metaphysische These des Kampfes zweier Prinzipien akzeptieren oder verwerfen - die große Wahrheit, die Steiner meines Wissens als erster in voller Deutlichkeit ausgesprochen hat. Es mochten französische Juden als Vollfranzosen im Maquis gefochten haben; es mochten da und dort sogar polnische Juden als Teilnehmer am polnisch nationalen Widerstand in den deutschen Weltkrieg integriert gewesen sein: Es ändert dies nichts an der fundamentalen Tatsache, daß die Masse der Juden, ausgespart gleichsam aus dem an vielen Fronten, von vielerlei Völkern ausgetragenen Konflikt, den universellen Vernichtungskrieg der Nazis allein zu bestehen hatte. Daß Jean-Francois

Steiner diese geschichtliche Wahrheit recht erkannt und suggestiv weitergegeben hat, wiegt bei weitem schwerer als alle die möglichen sachlichen Irrtümer, die man ihm vorhielt und über die man an kompetenten Stellen noch lange und gründlich streiten mag.

Es bleibt mir die schlechtweg unlösbare Aufgabe einer literarischen Bewertung von Steiners Buch, nachdem ich mich ohnehin schon einer anderen entzogen habe, nämlich: abzuwägen, ob Steiners rudimentäre Phänomenologie der Deutschen, in denen er immer wieder nur die »Techniker« der Endlösung sieht, der Wirklichkeit gerecht wird.

Wie soll man literarisch rechten und richten, wo ein Thema bearbeitet wurde, das jeden Autor, auch den größten, erdrücken muß? Die Akkumulation des Horrors allein reißt das Werk weit hinaus über die von ästhetischen Kategorien abgesteckten Grenzen. Wie Menschen mit dem Spaten zu Hackfleisch geschlagen, wie Kinder lebendig in Flammen geworfen werden, wie man einer schwangeren Frau den Bauch aufschlitzt und dabei der Fötus aus der Wunde fällt, wie inmitten dieses infernalischen Niflheims eine schmuck uniformierte Musikkapelle den SS-Männern und den eigenen, schon der Gaskammer versprochenen Kameraden aufspielt - es ist das alles natürlich sagbar, doch entzieht es sich einem Verfahren, das man geläufig die »künstlerische Transformation« nennt.

Steiner hat innerhalb der von ihm gewählten Form, die man als historische Reportage oder meinetwegen im Illustrierten-Argot sogar als Tatsachenroman charakterisieren kann, eine maximale Wirkung erzielt. Man liest die auf weiten Strecken mit kalt brennender Sachlichkeit erzählte, freilich auch da und dort mit suspekter Schmissigkeit vorgetragene Geschichte von der Selbstverleugnung des Menschen mit größerer Anteilnahme, als man sie nun einmal leider aufzubringen gewillt ist für die bare Statistik, die ja eigentlich genügen sollte. Steiner hat den Schrecken nicht gemeistert, das kann niemand. Aber mit dem Geschick des journalistischen Erzählers von Klasse hat er ihn konzentriert und destilliert: Man trinkt und ist qualvoll berauscht.

Der Katzenjammer stellt sich ein, unweigerlich, zwei, drei Tage nach der Lektüre. War es denn statthaft, daß man sich da mitreißen ließ wie von einem Reißer? War es denn - und hier sei der Bogen zurückgespannt zur eingangs gestellten Frage nach Steiners nur aus dem Gelingen ableitbaren Legitimation -, war es denn erlaubt, daß ein gewiß kluger, gewiß von seinem Gegenstand bedrängter, gewiß nicht bewußt den vulgären Effekt suchender begabter junger Schriftsteller über Treblinka schrieb wie ungefähr Leon Uris über die Bravour der Exodus-Emigranten, statt den Wiedergewinn seines Stolzes Privatsache bleiben zu lassen? Darf das Talent sich vergreifen am Tode, der nicht der Tod eines um seiner Luise willen die Giftlimonade schluckenden Ferdinand ist, sondern der echte Tod von Hunderttausenden?

So wäre denn also doch am Ende dem Autor Jean-Francois Steiner vom Ergebnis seines Unternehmens her die Berechtigung dazu abzusprechen?

Ich bin gezwungen zum Eingeständnis, daß die Frage falsch gestellt war, da es doch, recht besehen, bei einem solchen Werk ein Gelingen im literarischen Verstande sowenig geben kann wie im moralischen. Der Rezensent findet ein prekäres Gleichgewicht erst, sobald er nicht nur die ästhetische, sondern auch die moralische Fragestellung zurückweist und sich beschränkt auf die politische. Hat er seinen Geltungsanspruch solcherart reduziert, dann darf er zu Steiners Buch nunmehr ein Ja ganz anderer Ordnung aussprechen, ohne das Risiko, sich selbst nochmals dementieren zu müssen.

»Treblinka« ist ein politisch nützliches Buch. Es wehrt dem herzensträgen Vergessen einer Gesellschaft, die ihre Ruhe haben will und der Treblinka heute nur noch eine Verlegenheit ist. Es ist ein notwendiges Buch, da es doch ständig anhält zu Vergleichen Mit Dokumenten über sowjetische Konzentrationslager und damit die mystifizierende Gleichsetzung von Nazismus und Kommunismus fürderhin unmöglich macht.

Es ist schließlich ein unerläßliches Buch, denn es macht uns einen tief unheimlichen und darum mancherorts verdrängten Sachverhalt deutlich, den Jean-Paul Sartre schon vor zwanzig Jahren klar formuliert hat: »Der Antisemit ist in der Tiefe seines Herzens ein Verbrecher. Was er herbeiwünscht, was er vorbereitet, ist der Tod des Juden.«

Jean-Francois Steiner:

»Treblinka«

Gerhard

Stalling Verlag

Oldenburg

348 Seiten

19,80 Mark

Améry

Steiner

KZ-Opfer in Treblinka*: Heute nur noch eine Verlegenheit?

* Ankunft eines Transports aus Warschau 1942.

Jean Améry
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