Ernst, deutsch und gründlich
Sibylle Mulot »NACHBARN« Diogenes Verlag, Zürich; 352 Seiten; 38 Mark.
Da hat sich eine Erzählerin den Ruf einer Seelenergründerin erworben, die amourösen Verwirrungen witzig, unverschmust, ja mit einem geradezu undeutschen Sinn fürs Frivole nachzuspüren versteht, und schon setzt Sibylle Mulot das wohlerworbene Renommee aufs Spiel, indem sie ihren nunmehr dritten Roman besonders ernst, deutsch und gründlich nimmt.
»Nachbarn« ist eine französische Kleinstadtchronik mit zeitgeschichtlichem Hintergrund: Krieg, Besatzungsterror, Widerstandskampf und besonders die Greuel der rachsüchtigen Selbstjustiz unter Franzosen.
Sibylle Mulot, 44, die seit Jahren in Frankreich lebt, hat sich mit so erstaunlichem Spürsinn Lokalfarben und Mentalitäten ihrer Wahlheimat einverleibt, daß sie mit der Mimikry-Stimme einer Einheimischen das fiktive Romanstädtchen Parisey am Südrand der Vogesen heraufzubeschwören versteht: Ihrer Plauderbegabung gehen Anekdoten und amüsante Details niemals aus.
Die ehrgeizige Anstrengung allerdings, das ganze heikle Spektrum zwischen Resistance und Kollaboration in einem Figurenpanorama auch deutschen Lesern plausibel zu machen, bringt sogar eine so leichtfüßige Erzählerin wie die Mulot in Atemnot: Für den Leser gibt es viel Eigenartiges zu lernen über Frankreichs Provinzialismus, doch zur Lust wird die Lektüre erst, wo die Autorin außerplanmäßig auf Waldwegen wandelt.